10.09.2020

Grenzstreit im östlichen Mittelmeer

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Grenzstreit im östlichen Mittelmeer

Im Konflikt mit Athen spielt die Türkei mit dem Feuer – und mit dem Völkerrecht. Durch ihre Usurpation eines umstrittenen Seegebiets fordert sie nicht nur Griechenland, sondern die gesamte EU heraus. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle griechischen Ansprüche in der Region legitim und rechtens sind.

von Niels Kadritzke

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Es war eine der gefährlichsten maritimen Kollisionen der letzten Jahre: Am 14. August kam es im östlichen Mittelmeer zu einer Karambolage zwischen der türkische Fregatte „Kemal Reis“ und der griechischen Fregatte „Limnos“.

Das türkische Kriegsschiff gehörte zum Geleitzug des Forschungsschiffs „Oruç Reis“, das in einem Seegebiet 110 Seemeilen (etwa 200 Kilometer) südlich der türkischen Küste mit seismischen Untersuchungen des Meeresbodens beauftragt war. Das Operationsgebiet liegt nach Auffassung Ankaras innerhalb der ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) der Türkei. Das griechische Kriegsschiff beschattete die türkische Miniflotte, deren Explora­tions­mission aus Athener Sicht illegal war. Denn Athen beansprucht dasselbe Seegebiet für die griechische AWZ.

Der Kontakt zwischen den Fregatten der beiden Nato-Staaten endete glimpflich: Die „Kemal Reis“, die der „Limnos“ seitlich vor den Bug gefahren war, wurde durch den Zusammenstoß im Heckbereich beschädigt. Die „Limnos“ blieb heil, was es der Regierung in Athen erlaubte, die Kollision als „Ma­nö­vrier­fehler“ des türkischen Kapitäns herunterzuspielen. Anders der türkische Präsident Er­do­ğan: Er nutzte die Episode für PR-Zwecke und erklärte seinem Volk, die „Kemal Reis“ habe der frechen griechischen Fregatte die richtige Antwort gegeben. Den Blechschaden seiner Fregatte erwähnte er nicht.

Der Vorfall vom 14. August war der Auftakt zu einer Konfrontation, die bis heute andauert und inzwischen immer komplexer geworden ist. Seit Anfang September sind auch französische und italienische Kriegsschiffe vor Ort, und Kampfflugzeuge aus Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten kooperieren mit der griechischen Luftwaffe. Im östlichen Mittelmeer herrscht Alarmstufe Rot.

Gasfelder und Wirtschaftszonen

Dabei war die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zu Beginn der Krise gering. Am 14. August beschränkten sich die Kontrahenten darauf, die gegnerischen Schiffe zum Verlassen der „eigenen“ AWZ aufzufordern, was von beiden Seiten ignoriert wurde. Dennoch blieb eine militärische Eskala­tion aus. Es erschien völlig absurd, ausgerechnet im August einen Schießkrieg zu beginnen und die wenigen ausländischen Touristen zu vertreiben, die beiden Ländern im Coronasommer verblieben sind.

Zudem herrscht beim griechischen wie beim türkischen Militär eine höllische Angst vor dem Virus. Schon der normale Kasernenbetrieb ist dadurch einschränkt. Deshalb hatten sich der türkische und der griechische Verteidigungsminister am 15. April auf die Absage ihrer jeweiligen Frühjahrsmanöver verständigt, um ihre Soldaten „nicht dem Coronavirus auszusetzen“.

Die hohen Offiziere beider Seiten kennen sich auch persönlich, als professionelle Kollegen auf der Nato-Ebene. Der griechische Admiral a. D. Evangelos Apostolakis, Generalstabschef unter der linken Tsipras-Regierung, sagt über seine türkischen Gegenspieler: „Ich weiß genau, dass auch die keinen militärischen Konflikt wollen, denn der nutzt keiner Seite.“1

Die große Frage ist allerdings, welchen Nutzen sich die Erdoğan-Re­gie­rung von der Krise im östlichen ­Mittelmeer verspricht. Ihr erklärtes Ziel ist es, die türkischen Ansprüche auf eine großräumige ausschließliche Wirtschaftszone durchzusetzen, die auf Kosten der griechischen AWZ-Ansprüche gehen würde. Beide Seiten haben vor allem die unter dem Meeresboden vermuteten Erdöl und Erdgasvorkommen im Auge.

Jedoch weiß man heute weder in Ankara noch in Athen, wie hoch der Streitwert dieser Ressourcen ist. Über den kann man angesichts der politischen und ökonomischen Weltlage nur spekulieren. Sicher ist aber: Angesichts des globalen Trends zu erneuerbaren Energien, die der beschleunigte Klimawandel erzwingt, ist Erdgas aus den Tiefen des östlichen Mittelmeers ein Auslaufmodell. Und auf dem Weltmarkt wird es nie konkurrenzfähig sein, weil die Förder- und Transfer­kosten einfach zu hoch liegen. Selbst der Energie­importeur Türkei muss kal-

kulieren, ob sich teures Erdgas rechnet, das man billiger aus Russland beziehen kann. Ganz abgesehen von den Gefahren für die Umwelt, die auch die touristisch genutzten Küsten der Region betreffen könnten (siehe Artikel von Paul Hockenos auf Seite 9).

Im Streit um die ostmediterranen Wirtschaftszonen ist die Türkei zweifellos die treibende Kraft. Die Mission der „Oruç Reis“ gehört in den Kontext einer aggressiven Außenpolitik, die zunehmend „neoosmanische“ Züge trägt. Das autoritäre Erdoğan-Regime hat die „friedliche“ Phase dieser neuen Außenpolitik – unter dem Motto „null Pro­bleme mit allen Nachbarn“ (Da­vut­oğlu-­Doktrin) – längst hinter sich gelassen.2

Heute gibt es kaum einen Nachbarstaat, mit dem die Türkei keine Probleme hat. Das türkische Militär steht auf syrischem Boden, operiert gegen die Kurden im Nordirak und mischt höchst aktiv im libyschen Bürgerkrieg mit (siehe Artikel von Jean Michel Morel auf Seite 6). Die raumgreifende Außenpolitik des Erdoğan-Regimes strebt weit über des Mittelmeer hinaus. Heute unterhält das türkische Militär nicht nur Stützpunkte in Katar (seit 2015) und in Somalia (seit 2018), sondern ist auch am Roten Meer präsent, wo es den sudanesische Inselhafen Sawakin für 99 Jahre gepachtet hat.

Die „neoosmanische“ Militarisierung wäre nicht möglich ohne den rasanten Ausbau der Rüstungsindustrie. Insbesondere bei der Drohnentechnik hat die Türkei längst Weltniveau erreicht, wobei ihr zugutekommt, dass sie diese Waffen auf den Kriegsschauplätzen Syrien und Libyen erproben und weiterentwickeln kann.3

Von Beginn an war Erdoğans neo­osmanische Außenpolitik auch ein Instrument innenpolitischer Machtabsicherung. Diese Funktion hat noch an Bedeutung gewonnen, seit das AKP-Regime durch eine soziale und ökonomische Krise herausgefordert wird, die Erdoğans erklärtes historisches Ziel gefährdet: Zum 100-jährigen Jubiläum der Staatsgründung im Oktober 2023 will der „neue Sultan“ als türkischer Nationalheld und Nachfolger – oder besser Antipode – des ehrwürdigen Gründervaters Kemal Atatürk posieren.

Dieser Ehrgeiz äußert sich auch in dem Beschluss, eine symbolkräftige Entscheidung Atatürks aus dem Jahr 1935 rückgängig zu machen. Am 24. Juli wurde das byzantinische Gesamtkunstwerk der Hagia Sophia in Istanbul aus einem Museum in eine Moschee zurückverwandelt. Mit diesem kulturpolitischen Coup – der in aller Welt und besonders in Griechenland Empörung auslöste – hat Erdoğan allerdings innenpolitisch nicht viel gewonnen. Nach einer Umfrage erklärten 99,7 Prozent der Befragten, die Hagia-Sophia-Entscheidung habe keinen Einfluss auf ihr Wahlverhalten.

Umso wichtiger werden außenpolitische Erfolge, mit denen er auch seinen Bündnispartner, die ultranationalistische MHP, bei der Stange halten kann. Die Partei der „Grauen Wölfe“ ist die einzige zivile Machtreserve für eine AKP, deren Wählerbasis bröckelt. Unter diesen Umständen konnte die MHP ihren Einfluss auf die Außenpolitik Ankaras deutlich verstärken. Der türkische Exiljournalist Yavuz Baydar spricht von einem „Machtkartell aus nationalistischen Offizieren, expansionistischen ‚Grauen Wölfen‘ und Islamisten“, das Erdoğan zwinge, „sein Draufgänger-Image jeden Tag neu unter Beweis zu stellen“.4

Die maritime Dimension der neo­osmanischen Außenpolitik äußert sich in der stolzen These vom „Blauen Vaterland“ (Mavi Vatan). Erdoğan sieht die Türkei als aufstrebende Seemacht mit Präsenz in den drei Meeren, in denen es nationale Interessen durchzusetzen gilt.5 „Die Türkei wird sich die ihr zustehenden Rechte im Mittelmeer, in der Ägäis und im Schwarzen Meer nehmen“, tönte der Präsident am 26. August. „Wir werden nicht aufgeben, was uns gehört. Wir sind entschlossen, für dieses Ziel alles zu tun, was politisch, ökonomisch und militärisch nötig ist.“

Solche Drohungen aus dem Munde Er­do­ğans sind nicht neu, aber sie werden inzwischen durch eine permanente Aufrüstung unterfüttert. Die „nationale Strategie“ der Türkei stützt sich auf die „technologischen Errungenschaften in der Rüstungsindustrie, die ihre Luft-, Land- und Seestreitkräfte gestärkt haben“, erklärte Erdoğan in einer Rede, in der er den Bau von drei Flugzeugträgern ankündigte.

Dazu gehört auch die Anschaffung der Instrumente zur Erkundung der vermuteten Schätze unter dem Meeresboden der türkischen AWZ. Die Türkei besitzt heute eine Flotte von 11 Explorationsschiffen, darunter die „Oruç Reis“, die im August südöstlich der Inselkette Kreta–Karpathos–Rhodos seismische Messungen auf dem Meeresgrund durchführte und dabei 70 Kilometer in die von Griechenland beanspruchte AWZ vorgedrungen ist.

Der Streit um die maritimen griechischen und türkischen Interessensphären zieht sich schon über Jahrzehnte hin. Die spezielle Frage der AWZ-Abgrenzung ist seit 1994 in eine neue Phase getreten. In jenem Jahr trat das UN-Seerechtsübereinkommen in Kraft: die United Nations Con­ven­tion on the Law of the Sea (Unclos), die man als UN-Charta des Seevölkerrechts bezeichnen kann.

Die ausschließliche Wirtschaftszone ist ein erweitertes Meeresgebiet, in dem ein Küstenstaat „souveräne Rechte zum Zweck der Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nichtlebenden natürlichen Ressourcen“ ausübt, und zwar an der Wasseroberfläche, auf dem Meeresboden wie auch in dessen Untergrund (Unclos, Art. 56). Die begehrtesten Ressourcen sind einerseits die Fischbestände, andererseits mineralische oder fossile Ressourcen im Meeresboden.6

Die AWZ beginnt jenseits des bis zu 12 Seemeilen breiten Küstenmeeres (auch Hoheitsgewässer genannt) und kann sich bis zu 200 Seemeilen (370,4 Kilometer) weit ins offene Meer erstrecken (Art. 55 und 57). Bei gegenüberliegenden oder benachbarten Küstenstaaten wird die Sache komplizierter. Dann müssen sich die konkurrierenden Staaten auf eine AWZ-Grenze einigen (im Normalfall die Mittellinie zwischen beiden Küsten) oder, wenn eine Einigung nicht gelingt, ein Schiedsverfahren beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einleiten. In beiden Fällen muss die Einigung „auf der Grundlage des Völkerrechts“ erfolgen und auf eine „der Billigkeit entsprechende Lösung“ zielen (Art. 74, Abs. 1).

Besonders kompliziert ist die Abgrenzungsfrage im östlichen Mittelmeer. Hier gibt es sowohl benachbarte Küstenstaaten (wie Libyen und Ägypten) als auch gegenüberliegende Staaten (wie die Türkei und Ägypten) und dazu einen Inselstaat (Zypern). Ein Teil der Probleme wurde bereits durch bilaterale AWZ-Abkommen beigelegt. Für große Bereiche des östlichen Mittelmeers gibt es solche Vereinbarungen jedoch nicht.

Das gilt insbesondere für die Zone zwischen dem 28. und dem 32. östlichen Längengrad, in der sich der aktuelle griechisch-türkische Streit abspielt. Hier machen beide Kontrahenten Ansprüche geltend, die bislang rein deklamatorisch sind. Sie begründen keine völkerrechtlichen Besitztitel und sind deshalb eine „Anmaßung“ gegenüber dem Konkurrenten. Wobei es einen qualitativen Unterschied gibt: Die Anmaßung der türkischen Seite ist weitaus unverfrorener, da sie das Seevölkerrecht in mehrfacher Hinsicht eklatant missachtet.

Zum Ersten verletzt die maritime Expedition den Unclos-Artikel 74. Der gebietet in Absatz 3, dass bei konkurrierenden AWZ-Ansprüchen die streitenden Parteien bis zu einer Übereinkunft (durch Vertrag oder Schiedsverfahren) den „Geist der Verständigung und Zusammenarbeit“ zu wahren haben, um eine „endgültige Übereinkunft nicht zu gefährden oder zu verhindern“. Gegen dieses Gebot verstößt die türkische Seite, indem sie explorative Aktivitäten in einer umstrittenen Zone betreibt. Die griechische Seite tut das in der von ihr beanspruchten AWZ (noch) nicht. Dass die griechische Kriegsmarine die türkischen Schiffe „beschattet“, ist durchaus rechtens, erst wenn sie türkische Schiffe behindern oder gar angreifen würde, wäre dies völkerrechtswidrig.

Zum Zweiten: Das Dokument, auf das die Türkei ihren Anspruch auf die fragliche AWZ stützt, ist eine Absprache mit einer dritten Partei, die griechische Rechte eklatant verletzt. Bei der bilateralen Vereinbarung zwischen Ankara und Tripolis vom 27. November 2019 ist bereits die Legitimation der Regierung as-Sarradsch zweifelhaft, die sich auf die türkische Militärhilfe stützt und die von Ankara zu der gemeinsamen AWZ-Vereinbarung erpresst wurde. Ein weiteres Manko ist, dass die Vereinbarung nur in Form eines „Memorandum of Understanding“ (MoU) abgeschlossen wurde. Der Grund: Ein MoU bedarf nicht der Ratifizierung durch das libysche Parlament, das in Opposition zur As-Sarradsch-Regierung steht.

Gravierender ist der dritte Punkt: Das türkisch-libysche MoU verstößt gleich doppelt gegen das Seevölkerrecht. Zum einen setzt das im Unclos-Artikel 74 vorgesehene AWZ-Abgrenzungsverfahren zwei Partner „mit gegenüberliegenden oder aneinander angrenzenden Küsten“ voraus. Das aber ist bei den Küstenstaaten Türkei und Libyen nicht der Fall. Der westlichste Punkt der türkischen Südküste liegt 250 Kilometer östlich der libyschen Ostgrenze mit Ägypten. Der „gegenüberliegende“ Staat, mit dem die Türkei eine AWZ-Abgrenzung im Seegebiet zwischen dem 28. und 32. Längengrad vereinbaren könnte, wäre also Ägypten, mit dem die Türkei aber seit der Machtergreifung des Sisi-Regimes verfeindet ist.

Um die verflixte Geografie auszutricksen, kam man in Ankara auf eine ausgesprochen schräge Idee. Man beruft sich auf eine „diagonale Linie“ zwischen der türkischen Südküste und der libyschen Nordküste. In der Karte, die dem MoU mit Tripolis zugrunde liegt, bildet diese Diagonale die Achse der beiden AWZ, die 150 Kilometer südlich der Ostspitze Kretas zusammenstoßen (siehe Karte).

Das Konzept der diagonalen Linie stammt von Konteradmiral Cihat Yaycı, der bis Mai dieses Jahres Chef der türkischen Kriegsmarine war. Seine schräge Idee wäre ein völkerrechtlicher Blindgänger geblieben, wenn sie nicht das Erdoğan-Regime zum AWZ-Abkommen mit Libyen inspiriert hätte. Damit wurde sie zur politischen Waffe, die Ankara gegen ein zentrales Prinzip des Seevölkerrechts in Stellung gebracht hat.

Die Türkei verfolgt damit vor allem ein Ziel: die Negation des Anspruchs, den die griechischen Inseln Rhodos, Karpathos und Kreta auf eine eigene AWZ haben (Unclos, Art. 121). Im Südosten Kretas berührt die von der Türkei beanspruchte AWZ sogar fast die kretischen Küstengewässer.

Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags stellt in einer am 17. Januar 2020 veröffentlichten „Seevölkerrechtlichen Bewertung der türkisch-libyschen Vereinbarung“ klar, dass „Inseln unabhängig von ihrer Größe die gleichen Seegebiete (Küstenmeer, Festlandsockel und AWZ) haben wie das Festland“. Demzufolge verstößt das türkisch-libysche MoU „gegen das völkergewohnheitsrechtliche Seerecht und erscheint im Ergebnis als unzulässiger Vertrag zulasten Dritter“.

Die Hinfälligkeit der türkisch-libyschen Vereinbarung lässt sich mit einem Gedankenspiel veranschaulichen: Mithilfe einer „diagonalen Linie“ wäre auch eine gemeinsame AWZ-Grenze zwischen Griechenland und Tunesien möglich, das Italien einen Großteil seiner Sizilien zustehenden AWZ abzwacken würde. Auf eine solche Idee würden die beiden Staaten schon deshalb nicht kommen, weil sie an das Unclos gebunden sind.

Dagegen hat Libyen das Übereinkommen zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Und die Türkei ist einer von 14 Staaten, die dieses interna­tio­nale Abkommen nicht unterschrieben haben. Inzwischen hat das Er­doğan-­Regime ein opportunistisches Ver­hältnis zum Seevölkerrecht entwickelt, das es „à la carte“ in Anspruch nimmt, wenn es den eigenen Interessen entspricht – etwa mit der Ausdehnung seiner Küstenzone im Schwarzen Meer auf 12 Seemeilen.

Aber wie hält es Griechenland mit dem Seevölkerrecht? Dass Erdoğan den Konflikt mutwillig anheizt, dass Ankara mit der Entsendung der „Oruç Reis“ in „umstrittene Gewässer“ völkerrechtswidrig agiert und dass die AWZ-Vereinbarung mit Libyen vor dem Internationalen Gerichtshof niemals bestehen könnte, bedeutet keineswegs, dass die griechische Seite voll und ganz im Recht wäre. Die Regierung Mitsotakis könnte die maximalistischen Ansprüche des Nachbarstaats überzeugender kritisieren, würde sie nicht ihrerseits maximalistische Positionen formulieren.

Das gilt vor allem für die griechischen AWZ-Ansprüche im Seegebiet zwischen Rhodos und Zypern. Nach dem Gesetz 4001 von 2011 erstreckt sich die griechische Zone so weit nach Osten, dass sie mit der von Zypern beanspruchten AWZ zusammenstößt. Mit einer solchen „gemeinsame Seegrenze“ würde eine zusammenhängende „ausschließliche Bi-Wirtschaftszone“ entstehen, von der man in Athen und Nikosia seit Langem träumt.

Aus Sicht Ankaras ist dieser griechische Traum allerdings ein Albtraum. Ein „feindlicher“ AWZ-Gürtel vor der türkischen Südküste „würde die AWZ der Türkei auf die Bucht von Antalya beschränken“, schrieb ein Kolumnist der Hürriyet und befand triumphierend, Ankara habe diesen feindseligen Plan durch die Vereinbarung mit Tripolis durchkreuzt.

Das Hirngespinst einer Bi-Wirtschaftszone mit Zypern beruht auf zwei maximalistischen und völkerrechtlich waghalsigen Annahmen. Zum einen, dass sich die zyprische AWZ 250 Kilometer weit nach Westen erstreckt; zum anderen, dass die griechische Insel Kastelorizo eine vollwertige eigene AWZ beanspruchen kann. Beide Vorstellungen missachten die Interessen der Türkei und unterschätzen das Gewicht, das der nördliche Anrainerstaat bei der Aufteilung der AWZ im östlichen Mittelmeer geltend machen kann.

Das wird besonders deutlich am Fall Kastelorizo (Griechisch: Megisti, Türkisch: Meis). Die Insel liegt nur 3 Kilometer vor der türkischen Südküste, aber 120 Kilometer östlich der nächsten griechischen Insel Rhodos. Zusammen mit neun winzigen Nebeninseln bildet sie ein Miniarchipel, dem eine AWZ zukommen soll, die sich keilförmig 200 Seemeilen nach Süden erstreckt. Das heißt: Ein griechisches Territorium von 12 Quadratkilometern reklamiert den Anspruch auf eine maritime AWZ in der Größe von rund 40 000 Quadratkilometern. Und diese riesige Zone soll das Bindeglied zwischen der griechischen und der zyprischen AWZ bilden, die ohne den Kastelorizo-Faktor niemals aneinandergrenzen würden.

Das Konstrukt einer maritimen Bi-Zone auf Kosten der Türkei ist völkerrechtlich ähnlich abwegig wie die türkisch-libysche AWZ-Vereinbarung. Nach Unclos hat zwar jede bewohnte Insel das Recht auf eine eigene AWZ, aber im Fall des östlichen Mittelmeers, das als „halbumschlossenes Meer“ (im Sinne des Artikels 122) gilt, muss dieses Recht mit dem AWZ-Anspruch des Küstenstaats Türkei abgeglichen werden. Dabei ist in direkten Verhandlungen oder durch einen Schiedsspruch des IGH „eine der Billigkeit entsprechende Lösung zu erzielen“ (Art. 74). Für das Kriterium der Billigkeit hat der IGH in einer Serie von Urteilen und Schiedssprüchen verbindliche Parameter entwickelt. Einer der wichtigsten ist die Küstenlänge der um die AWZ konkurrierenden Territorien, in diesem Fall also des winzigen Archipels Kastelorizo und der türkischen Südküste, die mindestens 20-mal länger ist.

Der IGH postuliert zwar keine „strikte Proportionalität“ zwischen den AWZ und der jeweiligen Küstenlänge. Aber bei einem Verhältnis von 20 zu 1 ist völlig klar, dass ein Schiedsspruch der griechischen Insel nur eine sehr kleine AWZ zuschreiben würde. Die maximalistische Vorstellung einer griechisch-zyprischen Bizone hat keine Chance, jemals geltendes Völkerrecht zu werden.

So sieht es auch der renommierteste griechische Experte Christos Ro­za­kis, der zwölf Jahre lang Richter am Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte war. Als Vizeaußenminister der Regierung Simitis hat er die Imia-Krise von 1996 miterlebt.7 Rozakis geht davon aus, dass sein Land niemals eine AWZ-Grenze mit Zypern haben wird. Um einen Kompromiss mit Ankara zu ermöglichen, müsse Athen seine maximalistische Position aufgeben.

Das Aussprechen einer allen Experten vertrauten Wahrheit macht Rozakis für die Regierung Mitsotakis zur Persona non grata. Das hat einen schlichten Grund: Die Unhaltbarkeit der Kastelorizo-Hypothese wird dem griechischen Publikum seit Jahren verschwiegen – und zwar von allen Regierungen. Doch dieses Tabu ist nicht mehr zu halten. Dafür sorgt paradoxerweise die ­griechisch-ägyptische AWZ-Vereinbarung vom 6. August, die am 27. August vom griechischen Parlament ratifiziert wurde.

Die Regierung Mitsotakis hat diese Vereinbarung mit Kairo als großen Erfolg gefeiert: Damit habe man das türkisch-libysche Abkommen „in den Mülleimer entsorgt“, wie es Außenminister Dendias formulierte. In der Tat hat das Kairoer Abkommen für Griechenland zwei wichtige Vorteile. Es stellt dem türkisch-libyschen MoU die Ansprüche Griechenlands und Ägyptens entgegen, die der IGH in einem Streit- oder Schiedsverfahren sehr wahrscheinlich bestätigen würde. Das gilt vor allem für den wichtigsten Punkt: den Anspruch der großen griechischen Inseln (Kreta, Karpathos, Rhodos) auf eine eigene AWZ, den Ankara und Tripolis völkerrechtswidrig bestreiten.

Und doch hat der diplomatische Husarenstreich für die Regierung Mitsotakis eine unerwünschte Nebenwirkung. Die ägyptische Seite war nicht bereit, das heiße Eisen Kastelorizo anzufassen. Kairo war nur zu einer „Teilvereinbarung“ bereit, die sich auf die Zone zwischen dem 26. und 28. Grad östlicher Länge beschränkt. In diesem Bereich ist die Mittellinie als Grenze zwischen griechischer und ägyptischer AWZ vorgesehen. Dass Ägypten diese Linie nicht nach Osten verlängern will, ist ein Signal an die Griechen, dass man den Fall Kastelorizo anders beurteilt und sich in diesem Punkt nicht zum Komplizen Athens gegen Ankara machen lässt. Damit gibt Kairo zu Protokoll, dass eine Aufteilung der AWZ östlich des 28. Längengrads völkerrechtlich verbindlich nur erfolgen kann, wenn die Türkei an dem Prozess beteiligt wird.

Dagegen hält die Regierung Mitsotakis an dem Mythos Kastelorizo fest. Außenminister Dendias hat auch nach der Vereinbarung von Kairo behauptet, die Insel habe „ungeachtet ihrer Größe“ dasselbe Recht auf eine AWZ wie das griechische Festland oder Rhodos und Kreta. Deshalb werde man den K-Faktor ausnutzen, um eine AWZ-Abgrenzung mit Zypern zu erzielen – „wenn die Bedingungen dazu reif sind“.

Sollte die Athener Regierung an dieser Position festhalten, gefährdet sie damit ein zentrales Ziel ihrer Außenpolitik. Denn die Solidarität, die Griechenland angesichts der türkischen Aggressivität von der Europäische Union mit Recht einfordert, kann keineswegs bedeuten, dass sich ihre Partner auch mit griechischen Zielen solidarisieren, die völkerrechtlich unhaltbar sind.

Zum AWZ-Konflikt mit der Türkei gibt es in Athen drei Positionen. Die harten Nationalisten lehnen ein Schiedsverfahrens vor dem IGH ab, weil sie den völkerrechtlichen Test scheuen. Die ängstlichen Realisten wollen nach Den Haag gehen, damit dem IGH die Rolle zukommt, dem Volk die „schlechte Botschaft“ in Sachen Kastelorizo und griechisch-zyprischer AWZ zu übermitteln.

Die Regierung Mitsotakis schwankt zwischen diesen beiden Positionen, die innerhalb der ND – aber auch innerhalb der Oppositionsparteien – mit­ein­ander konkurrieren. Wobei die türkische Eskalationsstrategie den griechischen Nationalisten in die Karten spielt, weil keine Athener Regierung mit der Pistole an der Schläfe über einen gemeinsamen Weg nach Den Haag verhandeln kann.

Eine dritte Position wird von Experten wie Rozakis, aber auch vom linken Flügel der Syriza vertreten. Demnach hätte die Athener Regierung die Aufgabe, der eigenen Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Dazu gehört das Eingeständnis, dass die AWZ-Frage nicht der einzige griechisch-türkische Streitpunkt ist, der durch einen Schiedsspruch beigelegt werden sollte.8 So fordert die Politologin Marilena Koppa, Griechenland müsse zu gegebener Zeit „auf eigene Initiative alle strittigen Themen angehen und nicht erst einen heißen Zwischenfall abwarten. Mit Selbstvertrauen und Vertrauen auf das Völkerrecht, das unsere wichtigste Waffe ist.“

Doch solche Stimmen finden in Griechenland kaum Gehör, solange Er­do­ğan mit dem Säbel rasselt.

1 Interview im TV-Sender Mega vom 11. August 2020. Diese Einschätzung wird durch eine Meldung bestätigt, wonach sich die Militärführung der Forderung Erdoğan widersetzt habe, ein griechisches Schiff anzugreifen oder ein griechisches Kampfflugzeug abzuschießen (Die Welt, 1. September 2020).

2 Siehe Didier Billion, „Erdoğans Poker“, LMd, Oktober 2019.

3 Günter Seufert, „Die Lektion von Idlib“, LMd, April 2020.

4 Ayhal News, 12. August 2020.

5 Siehe Günter Seufert: „Die Türkei auf dem Weg zur Seemacht“, LMd, Mai 2019.

6 Die AWZ-Grenze entspricht in der Regel den Grenzen des Festlandsockels. Die begriffliche Differenz zwischen beiden Größen spielt im griechisch-türkischen Streitfall keine Rolle, weshalb hier nur von der AWZ gesprochen wird.

7 Siehe Niels Kadritzke, „Kriegsgeheul in der Ägäis“, LMd, April 2017.

8 Dazu gehört etwa die Frage der griechischen Hoheitszone um die ägäischen Inseln, die Athen theoretisch auf 12 Seemeilen ausdehnen kann, was Ankara als „casus belli“ ansehen würde.

Eine erweiterte und umfassend dokumentierte Fassung dieser Analyse ist auf dem LMd-Blog Griechenland nachzulesen.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.09.2020, von Niels Kadritzke