11.06.2020

Der Krieg in Bosnien-Herzegowina

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Der Krieg in Bosnien-Herzegowina

von Norbert Mappes-Niediek

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Wenn Armeen aufeinander schießen, ist die fast unvermeidliche Folge, dass Zivilisten vertrieben werden oder flüchten. Im Falle des Kriegs in Bosnien-Herzegowina waren Vertreibung und Flucht aber nicht Begleiterscheinung, sondern Ziel des Konflikts. Dafür kooperierten die gegnerischen Truppen zeitweise sogar. Und die Strategie ging auf: Am Ende hielt sich die Hälfte der Vorkriegsbevölkerung nicht mehr an ihrem alten Wohnsitz auf. Nach dem Friedensschluss kehrte nur eine Minderheit nach Hause zurück. Manche leben 25 Jahre danach immer noch in Flüchtlingsunterkünften; doch die meisten sind nach Westeuropa, Amerika oder Australien ausgewandert.

Als im April 1992 in Bosnien die ersten Schüsse fielen, herrschte in Kroatien schon Krieg. Jugoslawien, bis vor kurzem ein föderaler Staat aus „Republiken“ und „autonomen Provinzen“, war dabei auseinanderzufallen. Dass ausgerechnet Bosnien-Herzegowina von Kämpfen verschont bleiben würde, die ethnisch besonders vielfältige Republik in der Mitte Jugoslawiens, mochten selbst Optimisten nicht glauben: Serben und Kroaten, die Kriegsparteien in der Nachbarrepublik Kroatien, machten hier zusammen rund die Hälfte der Bevölkerung aus.

Die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 stürzten die größte Bevölkerungsgruppe in Bosnien, die „Muslime“ oder, wie sie sich bald nennen sollten, die „Bosniaken“, in ein böses Dilemma. Mit den Abspaltungen war das sorgfältig austarierte Gleichgewicht des Vielvölkerstaats zerstört. In dem, was von der Föderation übrig geblieben war, hatte der „serbische Block“ ein erdrückendes Übergewicht. Sein unbestrittener Anführer, Slobodan Milošević, ließ keinen Zweifel daran, dass er seine Macht gegenüber den Minderheiten auch einsetzen würde.

Ein Ausweg war, ebenfalls aus der Föderation auszuscheren. Für diesen Fall aber drohten die bosnischen Serben, immerhin 31 Prozent der Bevölkerung, sich ihrerseits abzuspalten. Am 29. Februar und 1. März 1992 fand eine Volksabstimmung statt, in der sich Muslime und Kroaten einmütig für die Unabhängigkeit aussprachen. Die Serben boykottierten das Referendum und riefen eine eigene Republik aus, die sie Srpska nannten, Serbischland.

Gestritten wurde fortan nicht über die Unabhängigkeit, sondern um das Territorium. Die serbische Seite, gestützt auf die Einheiten der nur formal aufgelösten, gut geschulten und gut ausgerüsteten „Jugoslawischen Volksarmee“, wollte die Gebiete, in denen mehrheitlich Serben lebten, aus Bos­nien herauslösen. Irgendwann sollten sie sich einem künftigen serbischen Nationalstaat anschließen können.

Im April 1992 fielen die ­ersten Schüsse

Die muslimische Seite dagegen wollte Bosnien als Ganzes erhalten. Die Kroa­ten schließlich, mit 17 Prozent das kleinste der drei „konstituierenden Völ­ker“, waren in der Haltung zum gemeinsamen Staat gespalten: Die Kroa­ten in Zentralbosnien waren, wie die Muslime, an dessen Erhalt interessiert. Die in der Herzegowina dagegen wollten ihr Land dem soeben entstandenen Nationalstaat Kroatien anschließen.

Schlachten, Offensiven, große Landgewinne, wie man sie aus anderen Kriegen kennt, blieben in Bosnien aus. Alle drei kämpfenden Parteien – die Armee der abtrünnigen serbischen Republik Srpska, die offizielle, muslimisch dominierte „Armee Bosnien-Herzegowinas“ und der „Kroatische Verteidigungsrat“ – übernahmen überall dort das Regiment, wo ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe in der Mehrheit war. Übersichtliche Verhältnisse schuf das nicht: Die Frontlinien durchschnitten die Fernstraßen, Bahnstrecken, Versorgungswege, Stromleitungen.

Ethnisch war das Land ein Flickenteppich. Zwar gab es auch Klein­re­gio­nen, in denen jeweils eine der drei großen Volksgruppen klar dominierte – wie die kroatische West- und die serbische Ost-Herzegowina oder der rein muslimische Nordwesten. Aber zu einem geschlossenen Territorium rundeten sie sich nirgends. Besonders häufig war eine Konstellation aus muslimischer Kleinstadt mit lauter serbischen Dörfern ringsum – ein Erbe aus osmanischer Zeit, als Städter zum Islam konvertierten und auf den Glauben der Bauern niemand achtete.

An internationalen Friedensbemühungen fehlte es von Anfang an nicht. Als sich 1991 Slowenien und Kroatien abspalteten, war es die gerade erst „vertiefte“ Europäische Gemeinschaft, die glaubte, das jugoslawische Problem mit der Entsendung ihrer Außenminister-Troika lösen zu können. Sie scheiterte rasch. Ein Jahr später übernahm eine ständige Konferenz in Genf unter der Leitung des Briten David Owen und des Amerikaners Cyrus Vance die Initiative. Hier entstand in Gesprächen mit Vertretern der bosnischen Kriegsparteien ein Friedensplan, der aber am Ende abgelehnt wurde.

Um ihre Mehrheitsgebiete für einen späteren Anschluss an Serbien vorzubereiten, organisierten die Anführer der bosnischen Serben unter Präsident Radovan Karadžić „ethnische Säuberungen“. Freischärler – oft Extremisten, öfter noch Kleinkriminelle – tyrannisierten die muslimischen und kroatischen Minderheiten, vertrieben sie aus ihren Häusern und auf dem Land aus ganzen Dörfern.

Der Terror hielt das ganze Jahr 1992 über an. Zehntausende wurden in Lager gesperrt, Tausende misshandelt. Es kam zu Szenen von unbeschreiblicher Grausamkeit: Gruppenvergewaltigungen mit tödlichem Ausgang, Erschießungen vor den Augen der Kinder – Verbrechen, wie sie später das Haager Kriegsverbrechertribunal in großer Zahl dokumentierte. Die serbische Armee schaute tatenlos zu oder unterstützte die Täter sogar. Während Präsident Milošević den Verbrechern organisatorische, finanzielle und militärische Rückendeckung gab, zeigte er sich in Gesprächen mit ausländischen Diplomaten an einer „Lösung“ interessiert und appellierte 1993 sogar öffentlich an die bosnischen Serben, den internationalen Friedensplan anzunehmen.

Im Jahr darauf taten die Kroaten in der Herzegowina es den Serben in Bosnien gleich: In demselben Bestreben, nämlich ihre Siedlungsgebiete in „ethnisch gesäubertem“ Zustand für den Anschluss ans Nachbarland vorzubereiten, vertrieben und ermordeten kroatische Truppen muslimische Zivilisten. Die Stadt Mostar wurde weitgehend zerstört.

Allein die Muslime oder Bosniaken beteiligten sich nicht an den organisierten Vertreibungen; ihr Ziel war ja, das Land, also auch die Bevölkerung zusammenzuhalten. Aber auch da, wo Bosniaken dominierten, erging es den Minderheiten schlecht. Vor allem serbische Zivilisten wurden als eine Art fünfte Kolonne beäugt und von Kriminellen und „Mudschaheddin“, Söldnern aus arabischen Ländern, offen terrorisiert, ohne dass Armee oder Behörden wirksam einschritten. Das galt auch für die mehrheitlich muslimische Hauptstadt Sarajevo, als sie von serbischen Truppen umstellt war und die Zivilbevölkerung zur Zielscheibe von Scharfschützen wurde, die von den umliegenden Hügeln auf sie schossen.

Nach den wilden „ethnischen Säuberungen des Jahres 1992 blieben die Fronten zwei Jahre lang unverändert. Die Armeen nahmen sich von Hügel zu Hügel gegenseitig unter Feuer. Sarajevo blieb belagert. Und für die Zivilbevölkerung wurde die Lage im ganzen Land von Monat zu Monat schlimmer. Die Währung war nichts mehr wert. Die Preise explodierten – mancherorts wurden für ein Kilo Mehl 100 D-Mark verlangt. Hilfsgüterkonvois stauten sich tagelang an Checkpoints. Oft fiel der Strom aus und mit ihm die Heizung, eine Katastrophe in den harten Wintern des bergigen Landes.

Noch bevor in Bosnien der erste Schuss fiel, hatten die Vereinten Na­tio­nen eine Friedenstruppe stationiert. Ein Mandat zum Eingreifen hatten die Blauhelme nicht; sie konnten nur das Geschehen dokumentieren, Versorgungswege freihalten und mäßigend auf die Kriegsparteien einwirken. Unter dem Eindruck der Kriegsgräuel wurde in der internationalen Öffentlichkeit der Ruf nach einer Militärintervention immer lauter. Intellektuelle wie Susan Sontag oder Juan Goytisolo forderten westliches Eingreifen. Praktisch die gesamte Weltpresse stimmte ein, nur die deutsche nicht.

Bewegung kam in die Verhältnisse erst wieder, als Bill Clinton US-Präsident wurde. In aller Stille, mit Drohungen und Lockungen drängten die Amerikaner nun die muslimische und die kroatische Kriegspartei, einen Separatfrieden zu schließen und gemeinsam gegen die Serben zu kämpfen. Als Gegenleistung bekamen Kroaten und Bosniaken Militärhilfe. Parallel dazu entwickelte eine „Kontaktgruppe“ aus Vertretern der USA, Russlands, Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands einen weiteren Friedensplan: Die Serben, die 71 Prozent des bosnischen Territoriums hielten, sollten auf 49 Prozent zurückgedrängt werden.

Im November 1994 begann das „Endgame“, wie Clintons Sicherheitsberater Tony Lake die Strategie nannte. Nach und nach eroberten bosniakische und kroatische Truppen Gebiete, die bisher von den Serben gehalten wurden, und glichen so, wie von unsichtbarer Hand geführt, die Verhältnisse „on the ground“ denen auf der Landkarte des Friedensplans an. Wo die serbische Armee sich zurückzog, folgte ihnen die serbische Zivilbevölkerung – aus Angst vor den Soldaten der anderen Kriegsparteien.

Für Milošević und die bosnischen Serben war nicht wichtig, ob sie im „Endgame“ diese oder jene Kleinstadt in ihrer Gewalt behielten. Ihnen ging es um ein möglichst kompaktes Territorium. So zogen sich ihre Truppen aus dem fast rein serbisch besiedelten Westen Bosniens kampflos zurück. Dafür versuchte die serbische Seite aber drei muslimisch besiedelte Kleinstädte im Osten des Landes, nahe der Grenze zu Serbien, zu erobern. Eine davon war Srebrenica.

Die UNO hatte die ehemalige Bergarbeiterstadt zur „Schutzzone“ erklärt, mit einer Kompanie niederländischer Blauhelme ausgestattet, aber nicht entmilitarisiert. Im Juli 1995 rückten serbische Truppen unter dem Gene­ral­stabs­chef Ratko Mladić in die Stadt ein, entwaffneten die dortigen Truppen der bosnischen Armee, nahmen sie gefangen, trieben sie in Marschkolonnen aus der Stadt und erschossen sie gruppenweise in den Wäldern. Etwa 8000 Männer fielen diesem schlimmsten Verbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer.

Die Blauhelme hatten zur Verteidigung der Stadt kein Mandat, ihre Rufe nach Luftunterstützung durch die Nato verhallten tagelang ungehört. Daheim in den Niederlanden wurde der Friedenstruppe aber angelastet, dass sie nicht einmal das Tor ihres gesicherten Forts geöffnet hatte, um verzweifelte Menschen vor dem sicheren Tod zu retten. Das Massaker von Srebrenica wurde am Ende von zwei Gerichten, dem Internationalen Gerichtshof und dem Jugoslawien-Tribunal, als einziges Verbrechen in den Zerfallskriegen als Völkermord qualifiziert.

Drei Monate nach dem Massenmord schwiegen die Waffen. Etwa 100 000 Menschen hatten ihr Leben verloren. Der Friedensvertrag, geschlossen in Dayton, Ohio, sah ein Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge vor. Die wenigsten nahmen es in Anspruch – viele, weil sie Angst hatten, andere scheiterten am Widerstand der Behörden. Bosnien blieb ein gespaltenes Land. Den Anspruch, ihre Siedlungsgebiete eines Tages dem „Mutterland“ anzuschließen, haben Serben und herzegowinische Kroaten nicht aufgegeben.

⇥Norbert Mappes-Niediek

Norbert Mappes-Niediek ist Korrespondent für Südosteuropa in Graz.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Norbert Mappes-Niediek