10.08.2012

Die letzten guten Hirten

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Die letzten guten Hirten

Wie Nomaden das Gemeinschaftsland nutzen und schützen von Fred Pearce

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Mohammed ist ein moderner Beduine aus der Badia, dem trockenen Hinterland im Osten Jordaniens. Seine Kamele hatte er vor einigen Jahren gegen einen Lkw und einen großen Tankwagen eingetauscht. Den größten Teil des Jahres lebt er gemütlich in seinem Dorf im Bezirk Tafila im Süden Jordaniens. Seine Schafe, die gelagertes Futter bekommen, hält er immer in seiner Nähe. Doch im Frühjahr ruft er seine Freunde an und erkundigt sich, wo Regen gefallen und das Gras grün ist. Dann lädt er seine Herde auf Laster, füllt seinen Tankwagen und macht sich auf zu fernen Weidegründen. Seine Lebensweise, das Halbnomadentum, steht im Zentrum einer Debatte, die vielleicht über die Zukunft sowohl der Beduinen als auch der Badia entscheidet. Und sie könnte ausschlaggebend sein für das Schicksal von Viehhirten wie Mohammed auf der ganzen Welt.

Vor einer Generation zogen die Beduinen und ihre Kamele ungehindert durch die Wüsten des Nahen Ostens. Und doch bewegten sie sich nicht in einem rechtsfreien Raum. Besitz- und Durchzugsrechte wurden sorgfältig ausgehandelt und auf ihre Einhaltung geachtet. Aber Zäune, formelle Gesetze und Landesgrenzen gab es nicht. Mohammeds Vorfahren, Angehörige des Stamms der Anizzah, zogen zwischen den Flüssen Euphrat und Jordan 1 000 Kilometer durch die Wüste und im Süden bis nach Arabien. Sie lebten im Wesentlichen als autarke Nomaden. Heute hindern sie die Staatsgrenzen Jordaniens, Syriens, Iraks, Israels und Saudi-Arabiens. Kamele sieht man kaum noch. In der nördlichen Badia besitzt nicht mal mehr 1 Prozent aller Haushalte Kamele, die früher bei den Beduinen als Zeichen des Adels galten. Dafür halten 99 Prozent wegen des Geldes, das sie für Fleisch, Wolle und Milch bekommen, Schafe.

Die Beduinen arrangieren sich mit einem weniger noblen, dafür profitableren Dasein. Die meisten haben in irgendeinem Dorf ein Haus für ihre Familie. Die Kinder gehen zur Schule und steuern später Berufe in der Wirtschaft oder beim Staat an. Nur noch eine Minderheit der Familien lebt hauptsächlich von der Viehhaltung, und viele stellen jemanden ein, der sich den Großteil des Jahres um ihre Herden kümmert. Trotzdem zieht ein Viertel aller Familien aus der Badia noch immer einmal im Jahr hunderte von Kilometern durch das Land, um Weideflächen zu finden. Mohammed kann zwar nicht mehr ungehindert in die Nachbarländer einreisen, seine Schafe hingegen schon. Viele Beduinen verkaufen ihre Tiere daher für eine Saison an einen Stammeskollegen auf der anderen Seite der Grenze und kaufen sie später wieder zurück.

Die Badia ist Jordaniens Hinterhof und nach wie vor seine wichtigste Region für Tierhaltung. Oft wirkt es bizarr, wenn das traditionelle Leben und die Neuzeit aufeinandertreffen. Wüstenzelte aus dichtem Wollstoff werden mit alten Düngersäcken geflickt. Laster holpern durch die Badia und bringen Fässer mit Wasser. Schäfer folgen ihren Herden auf Eseln und fahren dann nach Safawi, wo es an der Straße nach Irak einen Lkw-Rastplatz gibt, um zu hören, was es Neues gibt. Farmen, neue Siedlungen, Straßen und andere Infrastruktur dringen auf die Weideflächen vor. In den Dörfern wächst unter Plastikplanen Gemüse.

Die Badia ist zur Gemüsegärtnerei für die Hauptstadt Amman und für den Export geworden. Die jordanische Regierung hätte gern mehr feste Siedlungen und mehr Landwirtschaft. Viele sagen, Leute wie Mohammed würden durch Überweidung das anfällige Grasland schädigen und so einer neuen Wüste Vorschub leisten. Doch man sieht kaum Hinweise auf eine anhaltende ökologische Zerstörung. Viele Ökologen meinen, die Badia sei intakt und in der Obhut der Beduinen in guten Händen, und dass im Gegenteil die Entwicklungspläne sie gefährden. Wenn das stimmt, dann haben wir in Mohammed mit seinen verschiedenen Futterplätzen und den Telefonanrufen ganz unerwartet einen ökologischen Helden der Badia vor uns. Vielleicht sind Jordaniens Halbnomaden und Viehhirten ja weise.

Yaks ernähren in Asien Millionen

Was in der Badia geschieht, ist an den verschiedensten Orten auf der ganzen Welt zu beobachten. Viehhirten sind dort, wo man ihnen die Gelegenheit dazu gibt, meist erfolgreich. Es gibt hunderte Millionen von ihnen und vielleicht eine weitere Milliarde Menschen, die beides betreiben: Landwirtschaft und zusätzlich Weidewirtschaft auf der Allmende, also auf dem Boden der Gemeinschaft. Einige Schätzungen gehen davon aus, dass Viehhirten 45 Prozent der Landfläche des Planeten benutzen – annähernd das Vierfache der Bauern, die den Boden pflügen. Das Gras ist vielleicht nicht immer grün, dennoch ist Weidewirtschaft produktiv. Mit Viehhaltung wird in der Mongolei ein Drittel des dortigen Bruttoinlandsprodukts erarbeitet. In Marokko sind es 25 Prozent. In Sudan und Senegal stammen 80 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Viehhaltung. Alpaka-, Vikunja-, Lama- und Guanako-Herden in den Anden versorgen die Bewohner mit Nahrungsmitteln, Brennstoff, Kleidung und Transportmöglichkeiten.

Kaschmirziegen sind die Goldesel Tibets. Im ländlichen Indien ist Kuhdung der wichtigste Dünger und Brennstoff. Yaks ernähren in Asien Millionen. Auf dem Weltmarkt für Kuhmilch werden 10 Milliarden Dollar umgesetzt. Und während sie ihre Tiere hüten, versorgen die Hirten Bäume zur Erzeugung von Gummiarabikum, das sich in den verschiedensten Produkten von Coca-Cola bis zu Farben findet. Sie sammeln tausende Tonnen Heilpflanzen und Tankwagen voller Honig, sie führen Touristen durch die Wüsten und bewachen das Wild. Ach, und sie erzeugen Fleisch, das begehrteste Nahrungsmittel auf unserem Planeten.

Doch ihr öffentliches Image ist katastrophal. Berichte von Überweidungen und „Versteppungen“ verbreiten sich weltweit. Oft gehen sie auf Farmer zurück, die ein Auge auf das Land der Viehhirten geworfen haben. Viehhirten sind die Bösewichter, glaubt man einer Lieblingserzählung der Umweltschützer mit dem Titel „The Tragedy of the Commons“ („Die Tragik der Allmende“), in der der amerikanische Wissenschaftler Garrett Hardin die Meinung vertritt, dass gemeinschaftlich genutzter Besitz als Konzept nicht funktioniert. Denn bei der gemeinsamen Nutzung von Weideflächen, so Hardin, werden die Besitzer der größten Herden auch den größten Profit machen, während die anderen, ganz gleich wie groß die Zahl ihrer Tiere, mit ihnen unter der Überweidung zu leiden haben. Die einzige vernünftige Reaktion darauf sei, so viel Vieh wie möglich auf die Weiden zu treiben, bis auf ihnen gar nichts mehr wächst. Die Lösung: Privatisierung des Lands. Die „Tragik der Allmende“ als Freibrief für Landnehmer.

Die Theorie klingt logisch, aber die Faktenlage ist erbärmlich. Erstens haben die Hirten eine lange Tradition der gemeinschaftlichen Verwaltung ihrer Weiden. Auch wenn es für einen Außenseiter nicht so aussehen mag, hat niemand wirklich uneingeschränkte Rechte. Und zweitens sehen die Ökologen mittlerweile ein, dass die Berichte über die Versteppung stark übertrieben waren. Fast überall sind Rinder und andere Tiere, die das Gras abweiden und sich durch den Busch fressen, wie es in einem jüngeren Bericht der International Union for the Conservation of Nature heißt, „lebenswichtig für die Gesundheit und Produktivität des Ökosystems“. Weit entfernt davon, das Land zu schädigen, bewahren Hirten und ihr Vieh seit Jahrtausenden die Biodiversität, gebieten der Wüste Einhalt, speichern Kohlenstoff und verhindern Bodenerosionen.

Viehhaltung ist der beste Weg, um die schwierigen Wetterbedingungen der trockenen Savannen Afrikas und anderswo zu nutzen. Und falls das Klima in Zukunft unzuverlässiger und womöglich trockener wird, werden die Fähigkeiten und das Wissen der Viehhirten noch wertvoller sein.

Offene Flächen von Jordanien bis Liberia

An Orten wie der Badia ist der immer größere Einsatz des Pflugs – besonders in Händen von Fremden – die eigentliche Bedrohung, weil er das natürlich gewachsene Grasland zerstört und die Rinder- und Schafhirten in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Viehhirten müssen ebenso flexibel auf die Gegebenheiten reagieren können wie das Ökosystem, in dem sie sich bewegen. Veränderte Umstände erfordern rasches Handeln, etwa indem man die Größe der Herde anpasst oder in Gebiete zieht, wo die Vegetation in dem betreffenden Jahr am besten gedeiht, ohne von den Regeln des individuellen Landbesitzes beeinträchtigt oder von Staatsgrenzen behindert zu werden.

Äthiopien ist nur eines der Länder, in denen die Viehhirten systematisch an den Rand gedrängt und zu Umweltzerstörern dämonisiert werden, während ihr wirtschaftlicher Beitrag weitgehend unbeachtet bleibt. Zehn Prozent von Äthiopiens Bevölkerung sind Viehhirten, und sie nutzen bis heute ein Drittel seiner Landfläche, in ihren Augen das Land ihrer Vorfahren. Dafür halten sie 40 Prozent aller Rinder Äthiopiens, 75 Prozent seiner Ziegen, ein Viertel der Schafe und alle Kamele. Lederprodukte sind der zweitwichtigste Devisenbringer des Landes und stammen weitgehend von den Herden auf Gemeinschaftsgrund. Doch die Hirten erleben einen beschleunigten Verlust ihrer Ländereien – an den Pflug und manchmal an fehlgeleitete Umweltprojekte.

Wie im Fall der Oromo, mit etwa 30 Millionen Angehörigen die größte Volksgruppe Äthiopiens. Ihre wichtigsten Weidegebiete östlich der Hauptstadt Addis Abeba sind ständigen Angriffen ausgesetzt. Im Jahr 1961 hat die Regierung ungefähr 75 000 Hektar davon abgetrennt, um den Awash-Nationalpark zu gründen. Dann übernahm ein holländisches Unternehmen 15 000 Hektar und machte daraus die Metehara-Zuckerrohrplantage. Anschließend kamen große Farmen und nahmen weitere 34 000 Hektar in Anspruch. „Die Gemeinschaft, die eigentlichen Besitzer des Landes, wurden nicht konsultiert, als man ihnen ohne Rechtsgrundlage das Land wegnahm“, sagt Eyasu Elias vom Ethiopian Institute of Agricultural Research an der niederländischen Universität Wageningen. „Stattdessen erhebt man hohe Gebühren, wenn sie bei längeren Dürreperioden ihre Rinder auf das Gebiet der Farmen treiben wollen.“

Insgesamt haben die Oromo 60 Prozent ihres Landes verloren. In der Folge kam es auf den ihnen verbliebenen Flächen tatsächlich zu Überweidungen. Außerdem gab es Landstreitigkeiten mit dem Volk der Afar, das auf der anderen Seite des Awash-Nationalparks lebt. In ihrer Verzweiflung haben einige Oromo die Viehhaltung aufgegeben und ernähren sich von Landwirtschaft, Köhlerei und Schmuggel. Andere ziehen nach Addis Abeba, das nicht einmal drei Busstunden entfernt ist. Aber nicht alle. Während ich dies schreibe, berichtet die Presseagentur Reuters, dass die äthiopische Polizei 29 Personen festgenommen hat, die „einen Bombenanschlag geplant haben“ sollen. Sie alle hatten angeblich „Verbindungen zur Oromo-Befreiungsfront, einer Autarkiebewegung, die von Addis Abeba im vergangenen Jahr auf die Liste terroristischer Vereinigungen gesetzt wurde“.

Die Rache der Viehhirten scheint von Afghanistan bis nach Westafrika zu einem bedeutenden politischen Faktor zu werden. Wenn wir uns von Oromia Richtung Westen nach Niger und Mali wenden, treffen wir auf Mitglieder des Stamms der Tuareg, die ihre Weideflächen im Lauf der Zeit an landwirtschaftliche Betriebe verloren haben. Einige haben sich al-Qaida angeschlossen, andere, die in der Sahelzone von Mauretanien bis nach Burkina Faso leben, verschleppen und ermorden Ausländer. In Mali wurden 2011 die Reisen zum berühmten Hochland der Dogon wegen der Entführungen eingestellt. In Mopti sprach ich mit Vertretern von Hilfsorganisationen, die, wie sie mir erklärten, wegen bewaffneter Autoentführungen nicht mehr nach Timbuktu fuhren. Wenn wir die Viehhirten ignorieren, müssen wir womöglich einen hohen Preis zahlen.

Um über all diese Dinge zu sprechen, flog ich nach Kenia und traf mich im „Village Market“ mit Liz Alden Wily. Trotz seines Namens „Dorfmarkt“ ist der Village Market ein großes Einkaufszentrum im Norden Nairobis – eine Anlage, wo sich das neue Kenia als alt herausputzt. Die einzigen Maasai, die man dort trifft, hocken in Läden und verkaufen Schmuck. Wir saßen stundenlang bei Kaffee, während Liz über Afrika sprach, über die überlieferten Landrechte und die Zukunft der Viehhirten. Als Expertin für Landreform ist die Volkswirtin Liz Alden Wily auf der ganzen Welt gefragt. Und sie erzählt die selten gehörte Geschichte dieser am stärksten an den Rand gedrängten und verfolgten Menschen der Welt. Eine Volksgruppe, die oft auch die alten Afrikakenner übersehen – bis sie vielleicht mit Kalaschnikows oder einem Raketenwerfer im Anschlag in die Schlagzeilen kommt.

Viehhirten leben ebenso wie die Waldvölker oft auf den letzten noch vorhandenen Gemeinschaftsflächen unseres Planeten. Diejenigen, die ihre traditionelle Lebensweise beibehalten haben, verbringen ihre Tage meist weitab der Städte und sogar Straßen und fühlen sich nicht an die Gesetze eines Landes oder gar an Staatsgrenzen gebunden. Die meisten afrikanischen Politiker, die ich traf, sind unter solchen Bedingungen aufgewachsen.

Doch die meisten von ihnen haben auch den Eifer der neu in die Städte Zugezogenen entwickelt. Sie halten die auf Gemeinschaftsgrund lebenden Menschen für Relikte aus der Vergangenheit, für Wilde, die gezähmt und sesshaft gemacht, an Gesetze und Verhaltensnormen gewöhnt werden müssen. In ihrem eigenen Interesse und in unserem. Sie sollen im Village Market einkaufen, nicht auf dem Dorfmarkt. Für Alden Wily ist das gefährlicher Unsinn.

Fast überall gibt es Gemeinschaftsgrund. Dessen Umfang reicht vom englischen Dorfanger bis zum größten Regenwald der Welt. Doch nur in Afrika befindet sich die Mehrheit der Flächen in der einen oder anderen Form in Gemeinschaftsbesitz. Für ungefähr vier Fünftel seiner 2,4 Milliarden Hektar gibt es keinen anderen offiziellen Besitzer als den jeweiligen Staat. Und auch wenn sie keine Landtitel haben, betrachten die ländlichen Bewohner dieser Flächen das Land als ihres. Liz Alden Wily beginnt einen ihrer pointierten Artikel zu diesem Thema daher auch mit den Worten: „Ob es vom statutarischen Gesetz nun anerkannt ist oder nicht, ländliche Gemeinschaften in Afrika sehen sich nicht nur als die traditionellen Besitzer von Haus und Hof, sondern auch des Waldes, der Weiden und aller anderen kollektiv genutzten natürlichen Ressourcen, die sich in ihrem Einzugsbereich befinden.“

Da liegt der Hund begraben. Denn wovon wir hier sprechen, ist das, was die Weltbank „die letzte große Reserve an nicht voll genutztem Land auf der Welt“ nennt: die vermeintlich leeren Ebenen Afrikas, die die Regierungen im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung an Landnehmer übertragen wollen. Eben gerade hat Mosambik 6 Millionen Hektar dieses „leeren“ Landes mit einem 50-jährigen Pachtvertrag und für 23 Dollar pro Hektar und Jahr an ausländische Investoren übergeben, und aus dem ebenfalls portugiesischsprachigen Brasilien machen sich 40 Sojafarmer auf den Weg, um sich die Sache anzusehen.

Die Nützlichkeit des Nichtnutzens

Doch unkultiviertes Land mit ungenutztem oder besitzlosem Land gleichzusetzen, ist ein fataler Fehler, sagt Alden Wily. „Tatsächlich wird jeder Zoll dieses Kontinents nach überlieferten Normen besessen und auf traditionelle Weise genutzt, sei es für den Wanderfeldbau, als Weideland, für die Jagd, zum Gewinnen von Holz, Früchten und Kräutern oder als Reserve, um die Landwirtschaft nötigenfalls ausweiten zu können.“ Gemeinschaftsgrund ist außerdem jenes Land, auf dem domestiziertes Vieh und Wildtiere seit tausenden von Jahren in Koexistenz lebten. Es ist die „pleistozäne Landschaft“ der Umweltschützer.

Afrika ist ein letztes großes Bollwerk des Gemeinschaftsgrunds, obwohl die mit ihm verbundenen überlieferten Rechte oft neben den formalen Gesetzen existieren oder sogar in Widerspruch zu ihnen stehen. Von europäischen Kolonialherren wurden sie nie anerkannt, obwohl diese die Hirtenvölker meist sich selbst überließen. Nach der Unabhängigkeit haben afrikanische Staaten die überlieferten Rechte entweder ausgelöscht oder sich über sie hinweggesetzt, indem sie gemeinschaftlich genutzte Weideflächen und Wälder im Namen des Sozialismus verstaatlichten. Doch Sozialismus ist heute nicht mehr gefragt. Stattdessen hat der große Ausverkauf im Namen der wirtschaftlichen Entwicklung begonnen. Parzelliere das Land, und alles wird gut.

Liz Alden Wily möchte weder staatliche Kontrolle noch Privatisierung. Sie wünscht sich vielmehr eine Renaissance der überlieferten Besitzansprüche, eingebettet in die Landesgesetze. Das ist sicher kein Allheilmittel. Wie wir in Ghana gesehen haben, können Stammeschefs ebenso käuflich sein wie ein Staatsminister, wenn Ausländer mit einem dicken Scheckbuch anklopfen. Doch wenn wir uns nicht besinnen und die Gemeinschaften mit Bodenrechten ausstatten, sieht Alden Wily für einen Großteil des Gemeinschaftsgrunds schwarz. „Eine halbe Milliarde Afrikaner sind dann weiterhin Pächter eines Staates, der ihnen mit voller Rückendeckung der Gesetze ihre Höfe oder ihren Gemeindegrund unter den Füßen weg weiterverpachten oder -verkaufen kann.“

Von Gambella über Mosambik und Südsudan bis nach Liberia sind die weiten Weideflächen und Wälder die einzigen Gebiete unseres Planeten, auf denen wir heute noch „die Dimensionen von zusammenhängenden und intakten Landflächen finden können, die Großinvestoren suchen“. Das ist der Grund, weshalb sie heute auch in diesem Maße bedroht sind. Der gegenwärtige Landrausch, sagt Alden Wily, „ist ein entscheidender Kipppunkt beim Eindringen von Kapital in die Agrargesellschaften“. Vielleicht sind wir Zeugen der letzten Einhegung freien Lands auf unserem Planeten und damit auch des „endgültigen Verschwindens überlieferter Landrechte“.

Es muss nicht so kommen. In reicheren Ländern haben sich einige indigene Kulturen in abgelegenen Regionen gewehrt und erfolgreich das Recht erkämpft, weite Landstriche behalten und sie nach eigenen Traditionen verwalten zu können: die Inuit in Kanada, die Samen in Skandinavien, die Aborigines in Australien und die Ureinwohner Amerikas in ihren Reservaten. Liz Alden Wily wird, wie sie sagt, „nicht ruhen, ehe die 4 Milliarden Hektar traditionell genutzten Landes nicht nach allen Regeln des Gesetzes in die Hände ihrer rechtmäßigen Besitzer übergegangen sind, also der 2 Milliarden bäuerlichen Armen“.

Tapfere Worte. Für hunderte Millionen Menschen auf der Welt – von Omot auf seiner Wasserbüffelhaut in Gambella bis zu Mohammed mit seinem Wassertanker in der jordanischen Bahia – entscheidet sich am Erfolg ihres Engagements, wie sich ihre Lebensbedingungen und die zukünftiger Generationen gestalten werden. Es wird im 21. Jahrhundert nur wenige Fragen geben, die wichtiger sind als das Schicksal des Gemeindelands.

Aus dem Englischen von Gabriele Gockel und Barbara Steckhan Auszug aus: Fred Pearce, „Landgrabbing. Der globale Kampf um Grund und Boden“. Das Buch erscheint im September im Verlag Antje Kunstmann. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte. © Verlag Antje Kunstmann, München

Le Monde diplomatique vom 10.08.2012, von Fred Pearce