Lustbarkeiten an der Themse
von Veronica Horwell
Wann und zu welchem Anlass das Volksfest „Greenwich Fair“ ins Leben gerufen wurde, haben selbst die Lokalhistoriker bisher nicht herausfinden können. Für das Mittelalter ist der Jahrmarkt jedenfalls noch nicht überliefert, und obwohl er immer um Ostern und Pfingsten herum stattfand, handelte es sich dabei offensichtlich auch nicht um ein katholisches Ritual, das die Reformation überdauert hatte. Die Greenwich Fair war schon lange eine feste Institution, bevor sich die alljährlichen Messetage etablierten, an denen die Dienstboten neue Herren fanden, und bevor es im frühen 19. Jahrhundert Mode wurde, alte Traditionen neu zu beleben.
Greenwich Fair scheint sich wie ein Zufallsprodukt aus Ort und Geschichte ergeben zu haben. Einst lag hier am Ufer der Themse der Palace of Placentia, einer der Königspaläste der Tudors, in dem Heinrich VIII. und seine Tochter, Elizabeth I., geboren wurden. Über das Wasser war das kaum fünf Meilen entfernte London schnell zu erreichen. Nach der Hinrichtung Charles I. 1649 ließ man den Palast allmählich verfallen. Als Charles II. 1660 aus dem französischen Exil zurückkehrte, sollte sich seine verwitwete Mutter in der ehemaligen Sommerresidenz erholen. Nach dem Abriss des Palace of Placentia gab der König einen Neubau in Auftrag, der allerdings nie fertiggestellt wurde. Außerdem entstand, vermutlich nach den Plänen des französischen Gartenbaumeisters Le Nôtre, eine 74 Hektar große Parkanlage, der Greenwich Park.
Ende des 17. Jahrhunderts wurde anstelle eines Palasts das Greenwich Hospital errichtet, ein prächtiges Armenhaus für pensionierte Seeleute, die im Dienst der Nation alt oder gebrechlich geworden waren. Der Park war ihr Sportplatz (in ihrem Cricketteam, heißt es, hatte jeder Spieler ein Holzbein). Später wurde er auch für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht, die aus der immer dichter besiedelten Hauptstadt zur Erholung ins Grüne flüchtete.
Anfangs waren die Vergnügungen recht schlicht. So konnte man etwa gegen ein geringes Entgelt durch die Fernrohre der pensionierten Seeleute auf die verwesenden Leichen von Piraten schauen, die an Ketten über dem Fluss baumelten. Das Publikum feixte auch, wenn die jungen Frauen, die ausgelassen die steilen Hänge hinabrannten, dabei stürzten und zeigten, was unter ihren Röcken war. Man trug damals noch keine Unterhosen, nur für die hauchdünnen Empirekleider wurden aus Gründen der Sittsamkeit Pluderhosen geschneidert.
Es gab Ingwerkuchen, Ochsen am Spieß oder knusprig gebratene junge Heringe, die in rauen Mengen aus der Themse gefischt wurden, bevor Londons Verschmutzung ihnen den Garaus machte. Bei den Anwohnern konnte man zum Tee einkehren oder Gin kaufen, für einen kleinen Schluck im Gras. Viele Besucher, ob höheren oder niederen Stands, trugen Kostüme und Masken wie in den Lustgärten von Vauxhall und Ranelagh. Männer und Frauen tauschten Hüte, trugen lange falsche Nasen und schwangen Rasseln, die klangen, als würde ein Stück Stoff zerrissen. Karneval auf englisch.
Im 19. Jahrhundert wurde Greenwich Fair zur ersten Adresse für fahrende Schausteller aus ganz England. Sie bezahlten horrende Mieten, um ihre oft riesigen Zelte auf den privaten Grundstücken am Flussufer aufzuschlagen. Jede neue Mode wurde in Greenwich imitiert und zu günstigeren Preisen angeboten. Kaum galt es als vornehm, Zigarre zu rauchen, konnte man in einem Greenwicher Raucherzimmer für zwei Pence eine paffen. Um 1840 wurden in Erfrischungszelten die ersten Cocktails serviert.
Die volksnahe Variante der königlichen Menagerie war George Wombwells Tierschau für die Massen mit Löwen, die nie ganz zu dem grauenerregenden Format aufliefen, das die Marktschreier dem Publikum versprachen. Und die Billigversion der Assembly Rooms am Strand, Englands größten öffentlichen Ballsaals, war Samuel Algers hundert Meter langer Festsaal „Crown and Anchor“, dessen Tanzboden im Licht tausender Kokosöllämpchen erstrahlte. Es gab ein „anspruchsvolles und lehrreiches“ Wachsfigurenkabinett, Zwerge, Riesen, Spielhöllen und ungezählte Kasperletheater, die allerdings kein Zeitvertreib für Kinder waren, sondern Stücke voller Gewalt, Boshaftigkeit und Rachsucht inszenierten – eine anarchische Belustigung des Volkes.
Charles Dickens beschrieb in seinen Londoner Skizzen („Sketches by ‚Boz‘ “) die Glanzzeit von Greenwich Fair in den 1830er Jahren. Am besten hätten sich die Leute in John Richardsons Theater amüsiert, das seit 1800 in Greenwich gastierte, mit allein 36 Wagen voller teurer Kostüme und Bühnenbilder. Richardson war der Gründer-Impresario dieser Art Entertainment, sein Ensemble war größer als die meisten modernen Musicalensembles. Die Vorstellungen waren kurz, doch die Zuschauer, schrieb Dickens, kamen trotzdem voll auf ihre Kosten: „Ein Melodram (mit drei Morden und einem Geist), eine Pantomime, ein lustiges Lied, eine Ouvertüre und dazwischen ein wenig Musik, all das in fünfundzwanzig Minuten.“
Zu der Zeit, als Dickens über den Jahrmarkt schrieb, waren die kleinen Boote und meist völlig überladenen Pferdewagen bereits durch Dampfboote ergänzt worden, die noch mehr Besucher nach Greenwich brachten. 1836 wurde Londons erste Eisenbahnlinie eröffnet, Endstation Greenwich. Damals besuchten etwa 200 000 Gäste das jährliche Volksfest. Je größer der Jahrmarkt wurde, umso unruhiger wurden die Behörden. Bereits in den 1820er Jahren versuchte man vergeblich die Schauspiele zu verbieten – der Theatermann Richardson setzte ein Jahr lang aus, während sich Alger vom Crown and Anchor mit seinen Türstehern erfolgreich der Polizei widersetzte. Die Arbeiterproteste in England und die 1848er Revolutionen in ganz Europa schürten indes das nervöse Misstrauen gegenüber größeren Menschenansammlungen. Als die Hausbesitzer von Greenwich im damaligen Speckgürtel Londons um ihre hübsche Villen fürchteten und eine Petition zur Abschaffung des Volksfests einreichten, kam die Regierung diesem Wunsch nach, und es wurde 1857 offiziell verboten.
Im Rahmen des jährlichen Greenwich+Docklands International Festival wurde „Greenwich Fair“ kürzlich zu neuem Leben erweckt, allerdings nur dem Namen nach. Auf dem „Performance art market“ rund um das Greenwich Hospital (der heutigen Universität Greenwich) führten die Künstler ihr Können nämlich gratis vor, in der Hoffnung, von Agenten aus anderen Ländern oder Städten bis hin zu Disneyland Paris engagiert zu werden.
Beim Publikum schienen die kostenlosen Darbietungen indes nicht richtig anzukommen, was zum Teil an der akademischen Konzeption vieler Vorführungen gelegen haben mag (mehr Wachsfigurenkabinett als Richardson-Melodram), zum Teil aber sicher auch mit der Fülle von Veranstaltungen zu tun hat, die in diesem Sommer am Themse-Ufer geboten wurden, von der Regatta zum 60. Thronjubiläum der Queen – einem wahrhaft karnevalesken Ereignis, an dem sich die Leute trotz des Regens stundenlang ergötzten – bis zu den Helikopterflügen von der „HMS Ocean“, die in Greenwich vor Anker liegt. Die Hubschrauber übten Patrouillenflüge für die Olympischen Spiele und surrten wie Spielzeug vom Jahrmarkt ins Lea Valley hinein, dem Versorgungszentrum des olympischen Dorfs.
Direkt hinter dem Queen’s House, dem zentralen Blickfang vom alten Hospital aus gesehen, erhebt sich das temporäre Stadion für die Reitwettbewerbe. Seit Monaten wurde der Zugang zum Park Stück für Stück eingeschränkt, um die Zuschauer, die viel Geld für die Eintrittskarten bezahlt haben, durch Gänge aus Maschendrahtzäunen zu schleusen und Platz für Servicezelte auf dem Rasen zu schaffen. Außerdem führt die Querfeldeinstrecke der Fünfkämpfer den Abhang hinauf und wieder hinunter.
Der Park bleibt für den Rest des Sommers geschlossen. Er gehört jetzt zum Privatgelände des London Organising Committee of the Olympic and Paralympic Games (dessen Akronym Locog wie der Name eines Bösewichts aus einem von Richardsons Melodramen klingt) und der Sponsoren der diesjährigen Spiele, darunter Coca-Cola, McDonald’s, Cadbury und Visa.
Für Locog wurde eigens eine Fußgängerbrücke über die Themse gebaut, während die Zuschauer beim Verlassen des olympischen Geländes jenseits des Parks durch Greenwich ziehen, nachdem sie einen ganzen Tag lang in einer Shoppingmall eingepfercht waren, deren Bildersprache und Konzeption die Regierung in Übereinstimmung mit dem Internationalen Olympischen Komitee und seinen Sponsoren festgelegt hat. All das wirkt sich natürlich auch auf den übrigen Londoner Regierungs- und Arbeitsalltag aus. Dennoch wurden die Forderungen der Sponsoren allesamt abgenickt, ohne dass darüber abgestimmt worden wäre.
Kein unautorisierter Händler darf Lebkuchen mit Olympiazuckerguss verkaufen. Auf jedem Dorffest wird die Einhaltung des Markenschutzes streng kontrolliert. Und natürlich darf in der Nähe oder gar auf dem olympischen Areal selbst niemand unerlaubt eine Vorführung geben. Wahrscheinlich kommen in diesen Wochen genauso viele Gäste nach Greenwich wie zu Dickens’ Zeiten, nur werden sie weniger Spaß haben. Die Olympischen Spiele sind Spiele zu Ehren der Götter, nicht zur Belustigung des Volkes.
Aus dem Englischen von Robin Cackett Veronica Horwell ist Journalistin und Autorin. © Le Monde diplomatique, London