13.08.2020

Brief aus Tokio

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Brief aus Tokio

von Christian Kessler

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Es regnet und regnet. Morgens, mittags, abends, nachts. Kommt dann doch mal kurz die Sonne heraus und man wagt einen kurzen Abstecher in den kleinen Park nebenan, grenzt das schon an Selbstmord: Kaum angekommen, wird man von einer Mückenarmee attackiert. Da helfen auch die diversen Sprays und Cremes nicht, mit denen ich mir vorsorglich den ganzen Körper eingerieben habe. So bleibt mir gar nichts anderes übrig, als schnellstmöglich den Rückzug in die eigenen vier Wände anzutreten. Auch meine geliebte Bibliothek leidet: Viele Bücher haben von der Feuchtigkeit schon richtig braune Flecken bekommen.

Über den 75. Jahrestag von Hiroshima und Nagasaki gibt es nichts Besonderes zu berichten. Die Ansprachen und Aufforderungen zur weltweiten atomaren Abrüstung hörten sich an wie immer. Außerdem rüstet Japan gerade jetzt gegen die Bedrohung durch China mit Hochdruck auf. Doch an dieser zunehmenden Militarisierung, die mit jener der 1930er Jahre vergleichbar ist, scheint sich die japanische Bevölkerung immer weniger zu stören.

Meine Studierenden bezeichnen sich hingegen allesamt als Pazifisten. Was nicht heißt, dass sie wegen der angespannten Beziehungen zu China und Nord- und Südkorea nicht besorgt wären; auch die Stimmungsschwankungen des US-Präsidenten tragen nicht zur Beruhigung bei.

Zumal Japan das einzige Land in der Region ist, das mit all seinen Nachbarn im Clinch liegt und um territo­ria­le Hoheitsrechte streitet. Wenig hilfreich ist auch die hartnäckige Weigerung der japanischen Regierung, die Übergriffe der Kaiserlichen Armee während der japanischen Kolonialherrschaft anzuerkennen.

Als die Coronapandemie in China ausbrach, fühlte man sich in Japan nicht betroffen. Auch nicht, als sich das Virus in den Ländern des „Westens“ ausbreitete. Gewiss, insbesondere für „Westler“ empfand man Mitleid: „Oh, Sie kommen aus Mulhouse, wirklich schlimm. Bleiben Sie in Japan, hier wird es Ihnen deutlich besser ergehen“ – Derartiges bekam ich oft zu hören (obwohl ich schon seit über 30 Jahren in Tokio lebe).

Mein ansonsten stets professionell auftretender Arzt behauptete anfangs sogar, in Bergamo sei die Situation nur deshalb so schlimm, weil die italie­nischen Ärzte schlecht ausgebildet ­seien.

Als Verursacher des Virus wurde in den Zeitungen und sozialen Netzwerken immer wieder China an den Pranger gestellt, für das man in Japan wenig Sympathien hegt, weshalb es wunderbar als Sündenbock taugt.

Während sich die Pandemie außerhalb Japans immer weiter ausbreitete, machte das Land von außen und vor allem von innen betrachtet einen geradezu leichtfertigen Eindruck – als würden die Ereignisse, die sich anderswo abspielten, Japan und seine Bevölkerung gar nicht betreffen. Nach dem Motto: Das Virus wird uns nicht erreichen; hier läuft alles wie gehabt. Hauptsache, die Produktion kommt nicht zum Erliegen.

Bis Ende Juli wurden 23 000 Infizierte und 990 Tote gemeldet. Diese niedrigen Fallzahlen bezweifelt allerdings selbst jene Generation, die früh gelernt hat, Autoritäten nicht infrage zu stellen. Die japanische Regierung behauptet, die günstige Bilanz rühre von dem in der Tat stark ausgeprägten Hygie­ne­bedürfnis und dem auch in normalen Zeiten üblichen Distanzverhalten der japanischen Gesellschaft: Man umarmt sich nicht, und es werden auch keine Hände geschüttelt.

Doch es gibt auch die andere Seite: Der verbreitete Gleichmut der Menschen, die nie gelernt haben, selbst Entscheidungen zu treffen, könnte Japan besonders verletzlich machen. Und was Tokio betrifft, so sind in einem Ballungsraum von 40 Millionen Menschen – mit überfüllten Zügen und der drangvollen Enge auf Bahnhöfen und Straßen – die hygienisch gebotenen Abstandsregeln ohnehin nicht durchsetzbar.

Angesichts dessen muteten einige der staatliche Maßnahmen ziemlich absurd an: Anfang April kündigte Premierminister Shinzo Abe an, dass pro Familie zwei Masken ausgegeben werden. Dann stellte sich auch noch heraus, dass die Masken zu klein und dass viele bereits von Insekten befallen waren.

Das machte Abe zum Gespött der Zeitungen und sozialen Medien. In Anspielung auf den einst als „Abenomics“ bezeichneten Wirtschaftsaufschwung (der schon wieder abgeflaut ist) witzelte man nun über die „Abenomask“. Dazu muss man wissen, dass in Japan niemand von der Schutzfunktion von Masken überzeugt werden muss, denn sie werden sowieso das ganze Jahr über getragen, als Schutz gegen Grippewellen und saisonale Allergien.

Absurde Ratschläge gab auch Yuriko Koike, die Gouverneurin Tokios. Sie ermahnte die Hauptstadtbewohner, am letzten März-Wochenende auf Spaziergänge und Picknicks unter den blühenden Kirschbäumen zu verzichten. Am Samstag und Sonntag sollten also alle schön zu Hause bleiben, aber am Montag wieder pünktlich zur Arbeit antreten – als würde das Virus nur am Wochenende übertragen!

Dabei bedeutete der Verzicht auf das Kirschblütenfest ein großes Opfer. Die Tradition des Hanami (wörtlich: „Blüten betrachten“) reicht mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurück und war schon damals ein beliebtes Paraventmotiv.

Das Wandern der Kirschblüte von Region zu Region wird jedes Jahr fieberhaft verfolgt. Und dass die Blütezeit nach etwa zehn Tagen wieder vorbei ist, steht für die zentrale Bedeutung des Themas Vergänglichkeit im japanischen Denken.

Eine Katastrophe ist die aktuelle Situation für die Studierenden an meiner Universität. Da das Studium kostenpflichtig ist, sind sie auf arubaito angewiesen (so das japanische Wort für Nebenjobs, das vom deutschen Wort „Arbeit“ abgeleitet ist). Aber solche Jobs sind in Zeiten der Pandemie kaum noch zu finden.

Gewiss, die japanische Regierung hat pro Kopf 100 000 Yen versprochen. Das Geld wurde jedoch so langsam ausgezahlt, dass die ganze Maßnahme den Groll der Bevölkerung eher noch verstärkt hat. Die Leute mussten sich nämlich stundenlang anstellen und dann ein Formular mit absurd langen Fragebögen ausfüllen. In Südkorea ist dieselbe Prozedur mit einem Klick auf dem Handy erledigt – eine digitale Schmach, die gegenüber dem Nachbarland als besonders schmerzhaft empfunden wird.

Die Absage der Olympischen Sommerspiele in diesem Jahr macht die Situation nicht einfacher. Auf den Taxis in Tokio klebt nach wie vor das Olympia-Logo und überall flattern immer noch die Olympia-Fahnen. Die japanische Regierung hat die Entscheidung bis zum letzten Moment hinausgezögert. Am Ende musste das Internationale Olympische Komitee einsehen, dass im Pandemiejahr keine Athleten nach Tokio reisen würden. Damit war die Absage unvermeidlich.

Premier Shinzo Abe hatte die Veranstaltung als „Spiele des Wiederaufbaus“ bezeichnet: Neun Jahre nach dem Tsunami und der Nuklearkatastrophe von Fukushima sollten sie die Resi­lienz Japans in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten unter Beweis stellen. Doch dieser Beweis fällt dieses Jahr aus – und höchstwahrscheinlich auch 2021.

Die Situation erinnert an die Olympischen Sommerspiele in Tokio 1964. Auch damals sollte Japans sportlicher Erfolg dazu dienen, die Ideologie, für die das Land im Krieg gekämpft hatte, mit positiven Begriffen aufzuladen, um die Assoziation mit Niederlage, Ruin und Schande zu löschen.

Das sollte damals auch die von Hirobumi Daimatsu (1921–1978) trainierte Frauen-Volleyballmannschaft leisten. Daimatsu hatte als Soldat an dem grausamen Burmafeldzug (1944–1945) teilgenommen, bei dem eine unbekannte Zahl japanischer Soldaten infolge von Krankheit, Erschöpfung und Hunger ums Leben kamen.

Nach eigenen Aussagen hatte Daimatsu nur aufgrund seines unerschütterlichen Willens überlebt. Diese absolute Selbstlosigkeit ging seinen Kameraden ab, behauptete der Trainer und traktierte sein Volleyballteam mit Trainingsmethoden, die einem endlosen Martyrium glichen, das nicht mehr als dreieinhalb Stunden Nachtschlaf zuließ.

Damals errangen die japanischen Volleyballerinnen mit einem triumphalen Sieg gegen das sowjetische Team die Goldmedaille. Die ganze Nation war begeistert, entzückt waren vor allem aber jene reaktionären Kreise, die immer noch glaubten, das Kaiserreich hätte den Krieg gewinnen können, und die Kapitulation als Schande empfinden.

Heute zeigen die Umfragen, dass eine breite Mehrheit der Japaner dafür ist, die auf nächstes Jahr verschobenen Sommerspiele komplett abzusagen, in erster Linie wegen Corona. Hinzu kommt, dass Human Rights Watch (HRW) die körperliche Züchtigung (tai­batsu), denen japanische Athleten und Athletinnen ausgesetzt sind – von Faustschlägen über Hiebe mit Bambusstangen bis hin zu Vergewaltigungen –, in einem aktuellen Bericht kritisiert.

Wenn ich meine Gesprächspartner auf diese Methoden anspreche, die HRW bereits 2013 verurteilt hat, reagieren viele fassungslos und sind noch entschiedener gegen die Austragung der Spiele im kommenden Jahr. Ganz anders sieht es Regierungschef Abe: Er braucht Olympia 2021 offenbar, um zu demonstrieren, dass die Gesundheitskrise überwunden ist – und um endlich die Katastrophe von Fukushima vergessen zu machen.

Christian Kessler lehrt am französischen Athenäum und der Universität Musashi in Tokio. Zuletzt erschien von ihm „Les kamikazés japonais (1944–1945): Écrits et Paroles“, Marseille (Libres d’écrire) 2019.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.08.2020, von Christian Kessler