09.07.2020

Das Essen und die Pandemie

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Das Essen und die Pandemie

von Manfred Kriener

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Die Coronapandemie hat alle Kontinente erfasst. Fünf Milliarden Menschen verharrten im Lockdown – mit geschlossenen Grenzen, geschlossenen Häfen, Märkten und Restaurants, unterbrochenen Transportketten, eingesperrten Arbeitern.

Wenn das normale Leben plötzlich stillsteht, ist neben dem sozialen Kosmos vor allem die Wirtschaft betroffen. Dabei gehörten die Lebensmittelproduktion, die Landwirtschaft und die Fischerei zu den Sektoren mit spektakulären Einbrüchen.

In Deutschland sorgte die Spargel­ernte für den ersten Schock. Spargelbauern standen mit Verdruss-Gesichtern vor ihren durch Plastikfolien geschützten Erdhügeln und berichteten von bis zu 100 000 Erntehelfern, die normalerweise das Edelgemüse stechen. Doch normal war nichts mehr, denn Innenminister Horst Seehofer hatte die Grenzen geschlossen, die Saisonarbeiter aus Osteuropa hatten keinen Zutritt.

Es folgte die groß angelegte Aktion „Bauer sucht Helfer“. Über verschiedene Internetportale wurden Heerscharen heimischer Arbeitskräfte angeworben. Binnen fünf Tagen meldeten sich bei den Jobbörsen 30 000 Helferinnen und Helfer. „Hobbygärtnerin, 61, Raum Nordhessen, würde gern auf freundlichem Bauernhof zweimal zwei Stunden die Woche aushelfen.“

Die rührenden Angebote konnten die Krise nicht stoppen. Zumal es drei bis vier freiwillige Hilfskräfte braucht, um die Arbeitsleistung eines einzigen rumänischen Saisonarbeiters zu ersetzen, der unter dem Druck seines Arbeitgebers bis zu 12 oder auch mal 14 Stunden am Tag mit hoher Effizienz arbeitet. Unter deutschen Spargelstechern stellten sich zudem schnell orthopädische Komplikationen im Rückenbereich ein.

Als der Druck immer größer wurde, gab Seehofer nach und ließ 40 000 Ern­te­hel­fer in eigens gecharterten Flugzeugen einfliegen, später folgten weitere 40 000. Da ließ sich schon längst nicht mehr übersehen, dass das deutsche Ernährungssystem ohne die Schattenarmee der Niedriglohnarbeiter aus Osteuropa zusammenbrechen würde. „Unser Er­näh­rungs­system ist nicht krisenfest, das zeigt sich jetzt in aller Härte“, gab Agrarexpertin Katrin Wenz vom BUND zu Protokoll.

Wenige Wochen später standen erneut migrantische und osteuropäische Hilfsarbeiter im Brennpunkt. Die deutschen Schlachthöfe entwickelten sich zu Coronahotspots, immer neue Standorte rückten in die Schlagzeilen. In Coesfeld, Birkenfeld, Dissen, Bad Bramstedt, Oer-Erkenschwick, Straubing-Bogen und zuletzt vor allem in Rheda-Wiedenbrück hatten sich mehrere Tausend Arbeiter angesteckt.

Das Virus zerrte die verheerenden Arbeitsbedingungen und die Struktur unserer Fleischerzeugung ans Licht. Das Billigfleischsystem wird nicht nur auf dem Rücken der Tiere, sondern auch auf dem Rücken der Menschen exekutiert: miese Bezahlung trotz des Knochenjobs, unwürdige Unterbringung in containerartigen Verschlägen, dazu schlechte hygienische Verhältnisse, fehlender Luftaustausch und unzureichende medizinische Betreuung – so waren die Arbeiter dem Virus fast schutzlos ausgeliefert. Viele fuhren nachts um drei im engen Sammeltransport auch mit Husten und Fieber immer noch zur Arbeit, weil sie jeden Euro brauchen. Auch in anderen Ländern wurden gerade die Schlachthöfe zu Brutstätten der Epidemie.

Die Folgen von Pandemie und Lock­down auf das soziale Leben und auf die Versorgung mit Nahrungsmitteln haben indes viele Gesichter. Sie sind außerhalb Europas ungleich heftiger. Die Welternährungsorganisa­tion FAO bilanzierte schon im Mai, dass weitere 45 Millionen Menschen durch die Pandemie in akute Nahrungsmittelnot geraten seien. Das fängt bei Mil­lio­nen Kindern an, denen das Schul­essen fehlte – eine fest einkalkulierte und oft kostenlos angebotene Mahlzeit. Die Menschenrechtsorganisation FIAN International schätzt, dass mit der Schließung der Schulen weltweit 320 Millionen Kinder den Zugang zum täglichen Schulessen verloren haben und damit ihre wichtigste Mahlzeit.

Aufgeschobene und verzögerte Ernten in vielen Teilen der Welt brachten zudem Millionen Saisonarbeiter um ihr Einkommen. Umgekehrt fehlten dort, wo geerntet wurde, all jene Arbeiter, die wegen der Reisebeschränkungen die Felder nicht erreichen konnten. In zahlreichen Ländern, so die FAO, waren die Bauern gezwungen, Milch ­wegzuschütten und verderbliche Produkte zu entsorgen oder unterzupflügen. Es fehlten Erntearbeiter, Abnehmer, Transportmittel. In Indien wanderten Millionen arbeitslos gewordene Arbeitsmigranten und Tagelöhner, die auch in der Landwirtschaft beschäftigt werden, zu Fuß zurück in ihre Heimatdörfer, oft weiter als 500 Kilometer. Ohne Essen, ohne Schutz, bei über 40 Grad.

Heftige Spuren hinterließ das Coronavirus auch in der Fischerei. Schnell hatte die Schließung der Restaurants und Hotels die Nachfrage nach Frischfisch und auch die Preise auf Talfahrt geschickt. Gleichzeitig verbannte der Lockdown unzählige Kleinfischer in die Häuser. Viele Häfen waren für ausländische Schiffe gesperrt, ebenso waren die Fischmärkte geschlossen. Den großen Trawlern fehlte außerdem das Personal für weitere Fangfahrten. Auch Industrieschiffe sind mit Bil­lig­lohn­ar­bei­tern aus allen Ecken der Welt besetzt, die üblicherweise nach monatelangen Fahrten komplett ausgetauscht werden. Der Austausch konnte jetzt nicht vollzogen werden, weil die Arbeiter weder aus- noch einreisen durften. Es gab auch keine Flüge mehr in die Hafenstädte.

Naturschützer konnten der Fischereimisere immerhin eine positive Seite abgewinnen: Gönnt die Coronapandemie den überfischten Weltmeeren eine Erholungsphase? Die Organisa­tion Global Fishing Watch (GFW) wertet Satel­liten­daten aus, die große Trawler erkennbar machen. Die Fischereibeobachter dokumentierten, wie die Pandemie den Fischereidruck in den Weltmeeren reduzierte. Vom 11. März, als die WHO den Coronaausbruch offiziell zur Pandemie erklärte, bis Mitte Mai sind die Fangfahrten in­dus­triel­ler Schiffe um geschätzt 10 Prozent zurückgegangen.

In europäischen Gewässern fiel der Rückgang noch deutlicher aus. Über mehrere Wochen seien die Aktivitäten der europäischen Fangnationen um „50 Prozent und mehr“ regelrecht eingebrochen, schreibt GFW. Die EU-Kommission schätzte die Umsatzeinbußen der Fischer und Aquakulturbetreiber auf 30 Prozent.

Für den afrikanischen Kontinent gibt es keine vergleichbaren Zahlen. Fischereiexperte Francisco Mari von Brot für die Welt berichtet von schlimmen Konsequenzen für den Fischhandel in Abidjan in der Republik Côte d’Ivoire. Dort leben Tausende Frauen von den Beifängen industrieller Trawler, die sie günstig aufkaufen, auf Märkten anbieten und über Sammeltaxen und Touristenbusse auch ins Hinterland bringen lassen – ein ausgeklügeltes Versorgungsnetz.

Doch die Fischmärkte waren geschlossen, und von den Trawlern konnten die Frauen auch nichts mehr kaufen, weil sie nicht zu den Docks durften. Wenn sie nichts verdienen, können sie, so Mari, aber nicht das teure Benzin für die Außenbordmotoren der heimischen Kleinfischer vorfinanzieren, an deren Fang sie beteiligt werden. Für die Kleinfischer beginnt im Juli die Hauptsaison, sie sind auf diese Art der Co-Finanzierung angewiesen.

Inzwischen sind die Fischmärkte auch in Abidjan wieder geöffnet, aber nur mit Masken und in begrenzter Zahl zu betreten. Zudem hätten, wie Mari berichtet, Zwischenhändler die finanzielle Schwäche der Frauen ausgenutzt und sich in die Lieferkette hineingedrängt. Die Händler wollen jetzt selbst die Beifänge der Trawler auf- und weiterverkaufen – für die ausgebooteten Frauen hat sich der tägliche Überlebenskampf zugespitzt.

Dagegen erscheinen die euro­päi­schen Versorgungsnöte eine ganze Nummer kleiner. In Frankreich ist ausgerechnet der Käse, der Stolz der Na­tion, in die Krise gerutscht, der Absatz ist zusammengebrochen. Weil die Res­tau­rants geschlossen waren, fehlte den Produzenten und Affineuren der wichtigste Abnehmer. Kühe, Ziegen und Schafe machen aber keine Coro­na­pau­se, also musste weiterhin täglich gemolken und Käse produziert werden, der immer länger reifte. Eilig änderte die französische Regierung per Dekret die strengen Herstellungsvorschriften unter anderem für Bleu d’Auvergne, Com­té, Saint-Nectaire und Fourme d’Am­bert. Jetzt dürfen bestimmte Käsesorten länger reifen bei kühleren Temperaturen.

In den Vogesen betreiben Laura und Lionel Vaxelaire einen kleinen Hof mit Restaurantbetrieb. 25 Kühe liefern die Milch für ihre verschiedenen Käse­sorten, die auch an umliegende Geschäfte verkauft werden. Während des Lockdowns, der in Frankreich ­con­finement (Ausgangssperre) genannt wurde, ging der Absatz um 80 Prozent zurück.

Was tun? Um ihren Käse der Sorte Muns­ter nicht auf den Müll zu werfen, ließen ihn die Vaxelaires einfach im Keller weiterreifen. Das noch gut genießbare Ergebnis war nach mehreren Wochen ein kräftiger, mit feinem essbaren Schimmel überzogener Munster, der auf den Namen „Le Confiné“, der Eingesperrte, getauft wurde. Womöglich wird er jetzt regelmäßig produziert. Frankreich hat eine neue Käse­sorte.

Manfred Kriener ist Umweltjournalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Leckerland ist abgebrannt. Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur“, Stuttgart (S. Hirzel) 2020.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von Manfred Kriener