11.06.2020

Audis für Myanmar

zurück

Audis für Myanmar

von Serge Halimi

Audio: Artikel vorlesen lassen

Von der Gründung der Montan­union 1950 über die Römischen Verträge und den Gemeinsamen Markt bis zur heutigen Europäischen Union waren die Architekten des vereinten Europas stets erklärte Feinde von Protektionismus und nationaler Souveränität. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die EU selbst heute, wo die Weltwirtschaft schrumpft und die Arbeitslosigkeit explodiert, unerschütterlich neue Erweiterungen plant (Albanien und Nordmazedonien) und über Freihandelsabkommen verhandelt (Mexiko und Vietnam). Großbritannien ist ausgestiegen? Kein Problem, der Balkan kommt, und wenn nötig, morgen auch noch die Ukraine.

In der Tat würde die EU ohne weitere Handelserleichterungen abstürzen. Das nennt man „Fahrradtheorie“: Entweder man tritt in die Pedale oder man fällt um. Die Welt, von der Brüssel träumt, erinnert an eine riesige, glatte Öllache, auf der vollbeladene Frachter zum Klang der Ode „An die Freude“ dahingleiten.

Lauschen wir beispielsweise dem derzeitigen EU-Handelskommissar Phil Hogan. Mitten in der Corona­krise, als die meisten EU-Bürger das Haus nicht verlassen durften, die Spannungen zwischen China und den USA eskalierten und Washington sich lachend über die meisten der selbst unterzeichneten Handelsregeln hinwegsetzte, erwartete man von ihm ein paar Gedanken zur Globalisierung. Sie lassen sich so zusammenfassen: Wir ändern nichts, wir beschleunigen.

Man müsse ein paar Betriebe für medizinische Ausrüstung zurück auf den Kontinent verlagern, das sei unumgänglich. „Doch das ist eine Ausnahme“, zitierte ihn Le Monde am 8. Mai. Denjenigen, die für regionale Kreisläufe und Postwachstumsökonomie eintreten, hielt er entgegen: „2040 wird die Hälfte der Weltbevölkerung im Umkreis eines Fünfstundenflugs von Myanmar leben. Die europäischen Unternehmen dürfen sich dieses Betätigungsfeld nicht entgehen lassen. Das wäre völlig idiotisch.“ Er weiß auch schon, woran er in den nächsten Monaten arbeiten wird: „Wir sollten unsere derzeit mit etwa 70 Staaten bestehenden Freihandelsabkommen vertiefen und versuchen, neue zu schließen.“

Derzeit schreiben sich Intellektuelle die Finger wund, und das Netz wimmelt von Projekten für eine Welt nach Corona. Es gibt poetische, vielstimmige, wohlmeinende, komplexe und solidarische Visionen. Sie werden jedoch ebenso wortreich wie unnütz bleiben, wenn sie nicht die grundlegende Architektur einer Europäischen Union angreifen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte eine „Globalisierung im Kleinen“ nachgebildet hat. Auch wenn die Handelsnormen, die sie am liebsten der ganzen Welt auferlegt hätte, unter ihrem fassungslosen Blick in Scherben gehen, klammert sie sich daran, dass ihre ebenso überholten wie schädlichen Regeln zu respektieren seien. Audis nach Myanmar zu verkaufen bleibt das einzige Ideal, das diese EU nährt, und das einzige zivilisatorische Projekt, das sie mit ihrem Namen zu verbinden weiß.

⇥Serge Halimi

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Serge Halimi