09.04.2020

Wann wenn nicht jetzt

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Wann wenn nicht jetzt

von Serge Halimi

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Und wenn die Tragödie vorbei ist? Geht dann alles weiter wie zuvor? Seit dreißig Jahren weckt jede Krise die vernunftswidrige Hoffnung auf eine Rückkehr zur Vernunft, auf einen Bewusstseinswandel, auf ein Innehalten. Jedes Mal haben wir geglaubt, nun werde eine soziopolitische Dynamik, die endlich als gefährliche Sackgasse erkannt wurde, aufgehalten und umgekehrt. Wir dachten, der Börsencrash von 1987 würde den Flächenbrand der Privatisierungen löschen, die Finanzkrisen von 1997 und 2007/08 würden dem frisch-fröhlichen Globalisierungsdrang den Garaus machen. Nichts davon ist geschehen.

Die Attentate vom 11. September 2001 führten zu kritischen Reflexionen über die US-amerikanische Hybris und zu der berechtigten Frage: „Warum hassen sie uns?“ Doch das war nicht von Dauer. Denn gute Ideen können zwar die Richtung weisen, aber Ideen allein haben noch nie ausgereicht, um den teuflischen Mechanismus zu entschärfen. Dazu braucht man Menschen, die sich gemeinsam für eine Sache einsetzen. Auf die Regierenden, die für die Katastrophe verantwortlich sind, sollten wir uns besser nicht verlassen. Auch wenn die Brandstifter sich heute reumütig geben, gewisse Fehler eingestehen und behaupten, sie hätten sich geändert – aber eben erst jetzt, da ihr eigenes Leben in Gefahr ist wie das aller anderen.

Die meisten von uns haben Kriege, Staatsstreiche oder Ausgangssperren nie selbst erlebt. Aber Ende März 2020 befinden sich bereits 3 Milliarden Menschen in häuslicher Verbannung, oft unter extrem harten Bedingungen. Die wenigsten sind Schriftsteller, die sich am Anblick der blühenden Kamelien vor ihrem Landhaus erfreuen. Was immer die kommenden Wochen bringen – die Coronakrise hat weltweit Existenzängste ausgelöst. Das wird sich nicht so leicht vergessen lassen. Und die Verantwortlichen in der Politik müssen dem Rechnung tragen.

Zumindest teilweise: So hat die Europäische Union eine „allgemeine Suspendierung“ der Fiskalregeln beschlossen, die im Euro-Stabilitätspakt von 1997 festgelegt wurden. Präsident Macron hat die Rentenreform aufgeschoben, die zu Lasten des Krankenhauspersonals gegangen wäre. Der US-Kongress hat einem Großteil der Bevölkerung einen Scheck in Höhe von 1200 Dollar bewilligt.

Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass das wirtschaftsliberale Establishment bereits 2008 eine gigantische Erhöhung der Staatsverschuldung, ein Konjunkturprogramm aus Haushaltsmitteln, die Verstaatlichung einzelner Banken und die Wiedereinführung partieller Kapitalkontrollen abgesegnet hat, um ihr notleidendes System zu retten.

Doch kaum war die Krise vorbei, konnten sie sich dank ihrer Austeritätspolitik alles zurückholen, was sie im Zuge der allgemeinen „Rette sich, wer kann“-Strategie hatten weggeben mussten. Und dabei konnten sie sogar noch ein paar „Fortschritte“ zu ihren Gunsten erzielen: Die abhängig Beschäftigten müssen heute mehr, länger und unter noch prekäreren Bedingungen arbeiten, während die „Investoren“ und Aktionäre weniger Steuern zahlen. Den höchsten Preis mussten die Griechen zahlen, deren öffentliches Gesundheitswesen derart unterversorgt war, dass zeitweilig Krankheiten wieder auftauchten, die man seit Langem überwunden geglaubt hatte.

Und heute? Zu Beginn der Coronakrise durfte man vielleicht noch an ein Damaskuserlebnis der Herrschenden glauben, doch die dürften eher eine „Schockstrategie“ im Sinn haben. 2001, eine Stunde nach dem Anschlag auf das World Trade Center schickte die Beraterin eines britischen Ministers eine Mail an ihre Kollegen: „Das ist ein sehr guter Tag, um alle Maßnahmen, die wir ergreifen müssen, aus der Schublade zu holen und diskret durchzuziehen.“

Die Beraterin dachte wohl kaum an die dauerhaften Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten, die dann unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung eingeführt wurden. Geschweige denn an den Irakkrieg und die anderen Katastrophen, die durch den angloamerikanischen Angriffskrieg ausgelöst wurden. Doch zwanzig Jahre später muss man kein Prophet sein, um sich die „Schockstrategie“ vorzustellen, die bereits als Entwurf in den Schubladen liegt.

Im Gefolge der Gebote „Bleibt zu Hause“ und „Haltet Abstand“ droht die beschleunigte Digitalisierung unserer Gesellschaften unser gesamtes Sozialverhalten grundlegend zu verändern. Die medizinische Notsituation macht die Frage noch dringlicher – oder schon völlig hinfällig –, ob es noch möglich ist, ohne Internet zu leben. Schon jetzt müssen wir alle einen Ausweis mitführen, und demnächst wird das Mobiltelefon nicht nur nützlich, sondern vorgeschrieben sein – als Kontrollinstrument. Weil Münzen und Geldscheine eine mögliche Ansteckungsquelle darstellen, wird man im Dienste der Volksgesundheit nur noch mit EC- oder Kreditkarten bezahlen dürfen, womit jeder Einkauf erfasst und gespeichert wird.

Das „Sozialkredit-System“ in China und der „Überwachungskapitalismus“, wie ihn Shoshana Zuboff analysiert, laufen auf dasselbe hinaus: Die Negation des Rechts, keine Spuren zu hinterlassen, solange man nicht gegen Gesetze verstößt, wird sich in unserem Bewusstsein wie in unserem Leben einnisten, ohne mehr als störrische Irritationen auszulösen.

Schon vor der Coronakrise konnte man nicht mehr mit der Bahn fahren, ohne Auskunft über seinen Familienstand zu machen. Fürs Onlinebanking muss man seine Mobiltelefonnummer angeben. Wer spazieren geht, wird gefilmt. Doch jetzt wird eine weitere Schwelle überschritten.

In Paris überwachen Drohnen verbotene Zonen, in Südkorea melden Sensoren den Behörden, wenn jemand erhöhte Temperatur hat. In Polen müssen Leute, denen eine Quarantäne in der eigenen Wohnung verordnet wurde, entweder eine App auf ihrem Smartphone installieren oder mit unangemeldeten Kontrollbesuchen der Polizei rechnen.

In Katastrophenzeiten finden solche Maßnahmen allgemeine Zustimmung. Aber sie überdauern stets die Umstände, die sie hervorgebracht haben.

Auch die wirtschaftlichen Maßnahmen, die sich allenthalben abzeichnen, sind ein Beitrag zum allgemeinen Abbau der Freiheitsrechte. Um jede Ansteckung zu vermeiden, mussten überall in der Welt Millionen kleiner Läden, Cafés, Kinos und Buchhandlungen zumachen. Sie haben keinen Lieferservice und können keine virtuellen Inhalte verkaufen. Wie viele werden wieder aufmachen, wenn die Krise vorbei ist?

Dagegen laufen die Geschäfte für die gigantischen Onlineversandhändler wie geschmiert. Amazon hat gerade mehrere hunderttausend Fahrer und Lagerarbeiter eingestellt (siehe Seite 7), und Walmart stockt sein Personal um weitere 150 000 „associates“ auf.

Niemand kennt unseren Geschmack und unsere Wünsche besser als diese Mammutunternehmen, die systematisch Kundendaten sammeln. In diesem Sinne könnte die Corona­krise einen Vorgeschmack liefern auf das Ende der letzten Widerstandsnester gegen den digitalen Kapitalismus – und die Anfänge einer Gesellschaft ohne körperliche Kontakte.

Sofern nicht, ja, sofern nicht dieses vorgezeichnete Szenario durch oppositionelle Stimmen, Aktionen, Parteien oder ganze Bevölkerungen und Staaten durcheinandergebracht wird. Wie oft hört man den Spruch: „Die Politik geht mich nichts an.“ Bis zu dem Tag, an dem jeder begreift, dass es politische Entscheidungen waren, die Ärzte zur Triage zwischen Kranken zwingen.

Der Punkt ist bereits erreicht. Das gilt erst recht für Osteuropa, für den Balkan oder für Afrika, von wo Pflegekräfte schon seit Jahren abwandern, um anderswo in Sicherheit leben zu können und besser bezahlt zu werden. Diese Abwanderung war keineswegs ein Naturgesetz. Das verstehen wir heute besser als vor der Coronakrise. Die Quarantäne kann auch ein Moment des Innehaltens und des Nachdenkens sein. Und der Moment zum Handeln. Jetzt.

Anders als der französische Präsident meint, geht es nicht mehr darum, „das Entwicklungsmodell zu hinterfragen, auf das sich unsere Welt eingelassen hat“. Gefragt ist eine Antwort, und die lautet: Man muss dieses Modell ändern, und damit müssen wir jetzt beginnen. Wenn es ein „Wahnsinn“ ist, „unseren Schutz in fremde Hände zu legen“ (wie Macron sagt), dürfen wir die strategischen Abhängigkeiten nicht länger hinnehmen, nur um eines „freien, unverfälschten Marktes“ willen.

Macron hat „einschneidende Entscheidungen“ angekündigt. Aber die zwingend gebotenen wird er nie treffen. Es geht heute nicht nur um die vorübergehende, es geht um die endgültige Aufkündigung der europäischen Verträge und Freihandelsabkommen, die die nationale Souveränität geopfert und den Wettbewerb zum absoluten Wert erhoben haben.

Inzwischen wissen wir alle, wie hoch der Preis ist, wenn ein Land in Not mit seinem Bedarf an vielen Millionen Schutzmasken und an pharmazeutischen Produkten auf weltumspannende Versorgungsketten angewiesen ist, die keine Lagerbestände vorhalten. Von diesen Lieferungen hängt heute das Leben der Kranken und des medizinischen Personals, der Warenzusteller und der Kassiererinnen ab. Wir alle wissen auch, was unserem Planeten durch Entwaldung, Produktionsverlagerung, Müllberge und die permanente Mobilität zugemutet wird. Nach Paris kommen jedes Jahr 38 Millionen Touristen, das Siebzehnfache der Einwohnerzahl – und die Stadtverwaltung findet das ganz toll.

Ab jetzt müssen soziale Gerechtigkeit, Protektionismus und Klimaschutz untrennbar zusammengehören. Sie sind die entscheidenden Bausteine einer antikapitalistischen Koalition, die mächtig genug ist, ein Programm des radikalen Bruchs durchzusetzen. Jetzt.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Serge Halimi