07.05.2020

Mit Dschihadisten verhandeln?

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Mit Dschihadisten verhandeln?

von Charlotte Wiedemann

Kämpfer der Gruppe Ansar Dine in Timbuktu, August 2012 picture alliance/ap
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Neutralisieren, unschädlich machen. Für das Töten muslimischer Terroristen werden Worte verwandt, die aus der Insektenvernichtung stammen. Es scheint sich um Täter jenseits aller gemeinhin geltenden Maßstäbe zu handeln, bei deren Bekämpfung folglich das Völkerrecht keine Anwendung zu finden braucht.

Der War on Terror, psychologisch und rechtlich derart entgrenzt geführt, ist auf den meisten Schauplätzen militärisch gescheitert. Damit verliert auch die westliche Definition vom totalen Feind an Deutungsmacht. Dschihadisten – oft religiös mehr drapiert als motiviert – sind aus Sicht der Bevölkerungen in Afrika und Asien oft keine blindwütigen Fanatiker, sondern Kämpfer mit Zielen und Interessen. Und wo es die gibt, öffnet sich ein Fenster: um den Dialog zu suchen, womöglich zu verhandeln.

Die afghanische Regierung hat den Taliban jüngst ein weitreichendes Gesprächsangebot gemacht: Anerkennung als politische Partei, Freilassung von Gefangenen. Nach 17 Jahren Krieg lebt heute ein Drittel der Afghanen erneut unter der Herrschaft der Taliban, und es gilt als folgenreicher Fehler, sie 2001/02 von den Petersberger Verhandlungen über die Zukunft des Landes ferngehalten zu haben.

In den Sahelstaaten setzen Brüssel, Paris und Washington weiterhin allein auf die militärische Option. Als Frankreich 2013 in Mali intervenierte, schien der Vergleich mit Afghanistan („Sahelistan“) noch abwegig, doch nach fünf Jahren internationaler Interventionen ist Mali von einem komplexen Muster der Gewalt gezeichnet. Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge, meist zielen sie auf die ausländischen Truppen (12 000 Blauhelm-Soldaten, davon 1000 deutsche sowie 1000 französische Spezialkräfte).

Der dortige Friedensprozess schließt nur nichtislamistische Milizen ein, insbesondere die Tuareg-Rebellen, einst Auslöser der Krise. Gegenüber ihren zeitweiligen dschihadistischen Verbündeten gilt die Linie: nicht reden, sondern liquidieren. Für Mali war dies immer eine fremdbestimmte Unterscheidung zwischen Feind und Partner. Viele sehen in den Tuareg-Separatisten das größere Übel: Immerhin hatten sie in Nordmali so viel Unheil angerichtet, dass die nachfolgenden religiösen Besatzer zunächst als Ordnungsmacht begrüßt wurden.

Ab 2014 warben dann einzelne malische Prominente für einen Dialog mit den Dschihadisten. Die Forderung gewann in jenem Maß an Rückhalt, wie die militärische Bekämpfung des Dschihadismus misslang. Außerdem ist dessen Gesicht heute eindeutiger einheimisch als in früheren Jahren; an der westlichen Liquidierungsstrategie nahm die malische Öffentlichkeit weniger Anstoß, solange es sich bei den Getöteten eher um Ausländer handelte.

Nun stechen zwei wohlbekannte Akteure heraus: in Zentralmali der Prediger Amadou Koufa, im Norden der Tuareg-Führer Iyad Ag Ghali – Letzterer die personifizierte fließende Grenze zwischen Rebellion, Terror, Drogenhandel und al-Qaida im Maghreb. Beide Anführer signalisierten verhaltene Dialogbereitschaft. Und für beide empfinden zahlreiche Malier trotz aller Verbrechen einen gewissen Respekt. „Wir können diese Leute nicht in den Fluss werfen. Wir brauchen eine politische Lösung“, sagt der Politiker Tiébilé Dramé.

Als im vergangenen Jahr die 900 Teilnehmer einer „Konferenz zur Nationalen Verständigung“ ebenfalls einen Dialogversuch forderten, ließ Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keïta seinen Versöhnungsminister verkünden: „Mali ist bereit, mit all seinen Söhnen zu verhandeln.“ Wenige Tage später widerrief er unter französischem Druck. Der damalige Außenminister Jean-Marc Ayrault befand bei einem Mali-Besuch kategorisch, es gebe im Kampf gegen den Terrorismus „nur einen Weg, nicht zwei“, und der malische Präsident versprach Gehorsam.

„Es war schockierend zu sehen, wie begrenzt unser Handlungsspielraum ist“, sagt die Oppositionelle und Exaußenministerin Sy Kadiatou Sow. „Mali steht faktisch unter Vormundschaft. Aber wir müssen den Mut haben, zu debattieren, was gut ist für uns selbst, für unser Land.“ Die Politikerin ist als Verfechterin von Frauenrechten bekannt; niemand unterstellt ihr Sympathie für einen radikalisierten Islam.

Auch die nordirische IRA und Palästinas PLO galten früher als Ultraterroristen, mit denen Gespräche niemals möglich sein würden. Das Ausmaß begangener Verbrechen sei kein Kriterium, schreibt Jonathan Powell in seinem Buch „Terrorists at the Table“. Der einstige Stabschef von Tony Blair, ein Experte in internationaler Konfliktmediation, schlug bereits vor zehn Jahren Gespräche mit al-Qaida vor.

Dennoch hält sich die Vorstellung, mit Dschihadisten könne schon deshalb nicht rational verkehrt werden, weil es sich um religiöse Fanatiker mit wirren Kalifatsfantasien handele, ohne Bezug zum sozialen Geschehen vor Ort. Für Afrika trifft das kaum zu. Leonhard Harding, emeritierter Professor für afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg, schreibt über die Sahel-Dschihadisten: „Ein gemeinsames Konzept zur Schaffung eines islamischen Staats oder die Ausrufung eines neuen Kalifats ist nirgendwo in Sicht.“ Die Kämpfer seien primär an lokalen Veränderungen interessiert und wollten die Bevölkerung gewinnen. Über Boko Haram sagt der französische Politologe Jean-François Bayart, es handele sich um „den religiösen Ausdruck eines sozialen Phänomens“.

Bereits im Westafrika des 18. und 19. Jahrhunderts kämpften sogenannte Dschihadisten mit religiösen Losungen gegen ungerechte Herrscher. Ähnlich präsentiert sich der heutige Dschihadismus in Zentralmali als Antwort auf staatliche Willkür und soziales Unrecht. Die Region wird von einer Bewegung erschüttert, in der sich Terror mit sozialer Revolte verbindet.

Diese rekrutiert sich oftmals aus jungen Fulbe-Hirten; sie vertreiben die Repräsentanten eines Staats, den sie nur als Unterdrücker kennen, richten Steuereintreiber und Bürgermeister hin. Als ein Richter auf offener Straße entführt wurde, habe die örtliche Bevölkerung „zufrieden“ reagiert, berichtet ein Regisseur aus der Region. „Wenn derartiges passiert, höre ich jedes Mal: ‚Das geschieht den Beamten recht!‘ “

In dieser Atmosphäre sucht nun der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats von Mali Pfade zum Dialog. Mahmoud Dicko, ein politisch agiler und religiös gemäßigter Wahhabit, hat dafür zunächst die Koranschulleiter und traditionellen Autoritäten der Region zu mehreren großen Versammlungen geladen; 800 folgten dem Ruf. Sie haben dort, wo kein Staat mehr existiert, den größten Einfluss und sollen für Dicko Kontakte zum Kern der Dschihadisten herstellen. „Ich will Wege zum Dialog öffnen, indem ich frage, was wir für die Region tun können.“ Womöglich könne jenseits der staatlichen Justiz, unter deren Korruptheit besonders die Ärmsten leiden, die Einsetzung von traditionellen islamischen Richtern (Kadis) befriedend wirken.

„Wir müssen die Bevölkerung dazu bringen, aus dem Sog der Gewalt herauszukommen“, sagt Dicko. „Aber wo ist die rote Linie, über die eine Republik nicht hinausgehen darf? Das muss das Land, das Volk entscheiden.“ Ein offizielles Mandat für seine Bemühungen hat er nicht.

Ein malischer General a. D., dem Westen freundlich zugetan, mit schönen Erinnerungen an einen Lehrgang der Hamburger Führungsakademie der Bundeswehr, beschreibt ein mögliches Szenario nach einem Abzug ausländischer Truppen so: „Dann würden wir mit den Dschihadisten verhandeln, und wenn sie islamisches Recht einführen wollen, werden wir sehen, was genau das sein soll. Vielleicht ist es ja nicht schlecht. Die Dschihadisten wollen eine saubere Gerichtsbarkeit und haben in manchen Fragen recht.“

Ob und wie verhandelt werden kann, muss auf jedem Schauplatz gesondert bestimmt werden. Und niemand vermag vorherzusagen, wie groß die Chance auf Erfolg ist. Es aber zumindest zu versuchen, dazu ermuntern zahlreiche Experten.

„Man kann nicht alle Dschihadisten töten. Es gibt auch in Mali keine Alternative zu Verhandlungen“, sagt die Leiterin des Berliner Zentrums für internationale Friedenseinsätze, Almut Wieland-Karimi. Dass dies zuallererst eine Entscheidung der Malier sei, meint nun immerhin auch das Auswärtige Amt.

Zwölf Forscher aus Mali, Senegal, den USA und Frankreich warnten jüngst die französische Regierung, sie drohe mit ihrer Blockade von Dialogversuchen „auf der falschen Seite der Geschichte“ zu stehen. Das militärische Vorgehen sei einem politischen Ziel unterzuordnen, über das die Gesellschaften des Sahel bestimmen müssten.

Bei der Bekämpfung des Terrors nationale Souveränität wiederzuerlangen, danach rufen nun auch Intellektuelle der Region, etwa Moussa Tchangari, der im nigrischen Niamey die „Alternative Espaces Citoyens“ leitet. In Mali, Niger und Nigeria seien Verhandlungen mit Dschihadisten immer dann zulässig gewesen, wenn sie der Freilassung westlicher Geiseln dienten. Dies zeige, wie sehr „die Entscheidung über Dialog oder Krieg von den Interessen der großen Mächte des Westens dominiert“ sei. In der Tat: Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian antwortete in einer derartigen Situation einmal auf die Frage, ob der berüchtigte Iyad Ag Ghali ein Terrorist sei, ganz behutsam: „Es liegt an ihm selbst zu sagen, als was er sich betrachtet.“

Für die Forderung ihrer Bürger nach mehr nationaler Eigenständigkeit sind die Regierenden in Mali wie in Niger bisher schlechte Bündnispartner: weil ausländische Militärpräsenz ihre Macht stärkt und aufgeblähte Verteidigungsbudgets Einnahmen aus Korruption sichern. Der bitterarme Niger gibt 15 Prozent seines Haushalts für Militärisches aus – und erlaubt nun den USA, von einer neuen Basis aus erstmals Killerdrohnen in die Sahara zu schicken.

Charlotte Wiedemann ist freie Autorin von Auslandsreportagen und Büchern mit dem Schwerpunkt „islamische Lebenswelten“. Zuletzt erschien von ihr „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“, München (dtv) 2019. Dieser Text erschien im April 2012 in LMd.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Charlotte Wiedemann