07.05.2020

Griechenland auf Gedeih und Verderb

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Griechenland auf Gedeih und Verderb

Dieser Text ist eine Momentaufnahme der griechischen Krise, und zwar eine sehr frühe. Der Niedergang der griechischen Wirtschaft war noch nicht in den Sturzflug übergegangen. Und das erste „Rettungsprogramm“ beantragte die Regierung Papandreou erst drei Monate später. Anfang 2010 war das ganze Ausmaß der Katastrophe, auf die Griechenland zusteuerte, noch nicht abzusehen. Dazu einige Zahlen: Der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) akkumulierte sich von 2009 bis 2015 auf 26 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg 2013 auf 27,8 Prozent. Die Staatsverschuldung kletterte bis 2013 auf 177 Prozent des (inzwischen geschrumpften) BIP. All diese und viele andere Zahlen dokumentieren eines: Der „Rettungsfallschirm“ hat das Land nicht vor dem Absturz bewahrt, er hat ihn noch beschleunigt. Das Programm der sogenannten Troika war die giftigste Medizin, die einem europäischen Land in Friedenszeiten aufgezwungen wurde. Und das nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Ebenso fatal waren die politischen Konsequenzen. In diesem Text werden die Pathologien der griechischen Gesellschaft analysiert, die das Land zum anfälligsten Opfer der globalen Finanzmarktkrise gemacht haben. Die dargestellten Strukturdefekte, die ihre Wurzel im allgegenwärtigen Klientelismus haben, waren 2009 dem Großteil der Bevölkerung bewusst. Entsprechend groß war die Bereitschaft zu strukturellen Reformen. Diese Bereitschaft wurde durch die Troika-Politik ausradiert, deren drei kardinale Defekte allzu offensichtlich waren: Das „Rettungsprogramm“ diente vor allem der Rettung der griechischen Gläubiger, also ausländischer Banken, die die Verschuldung kreditiert hatten. Es war ungerecht, denn es bestrafte die Falschen, die für die griechische Schuldenkrise am wenigsten konnten. Und es war kontraproduktiv, weil es die Depression vertieft und verlängert hat. Das vorhandene selbstkritische Potenzial der griechischen Gesellschaft wurde wieder verschüttet. Ein tatsächlicher Neubeginn fand nicht statt. Das Ergebnis sehen wir heute: Seit Juli 2019 regieren in Athen wieder die politischen Kräfte, die das Land zehn Jahre zuvor den Finanzmärkten zum Fraß vorgeworfen haben.

von Niels Kadritzke

Griechische Verhältnisse vor der großen Krise: mehr Jobs als Arbeit im öffentlichen Dienst MICHALIS PATSOURAS
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Die Depression hat selbst das Glücksspiel erfasst. In Griechenland sind die Umsätze des Wett- und Kasinogewerbes um 16 Prozent zurückgegangen. Dabei sind die Glücksritter keineswegs weniger geworden. Die Angst vor Einkommensverlusten treibt sogar immer mehr Griechen in die Wettbüros, allerdings haben sie weniger Geld in der Tasche.

Der Umsatzeinbruch im glücksspielfreudigsten Land Europas spiegelt die anhaltende Krise der Realwirtschaft. Die globale Rezession hat vor allem die beiden Sektoren getroffen, auf denen die griechische Konjunktur basiert: Handelsschifffahrt und Tourismus. Zudem schlägt das Minus von 14 Prozent in der Tourismusindustrie auf die Bauwirtschaft durch. Die Krise hält sich zäher als im übrigen Euroraum, der für das letzte Quartal 2009 bereits wieder Wachstum meldet.

Die griechische Wirtschaft hingegen kriselt weiter. Für 2009 weist das Bruttoinlandsprodukt ein Minus von 1,5 Prozent auf, auch 2010 wird es um mindestens 0,3 Prozent schrumpfen. Das wird die Arbeitslosenrate, die jetzt bei 9,3 Prozent liegt, weiter in die Höhe treiben. Wobei die reale Arbeitslosigkeit vom gewerkschaftlichen Arbeitsforschungsinstitut schon heute auf 17 Prozent geschätzt wird.

Am härtesten trifft es die junge Generation: In der Altersgruppe bis 24 Jahren war im September 2009 bereits jeder Vierte ohne festen Job, Tendenz steigend. Damit wächst auch der Druck auf die ohnehin niedrigen Gehälter für Berufseinsteiger. Nach den Athener Unruhen vom Dezember 2008 war viel von der Perspektivlosigkeit der Jugend die Rede. Die frustrierte 700-Euro-Generation, die keine ordentlich bezahlten Jobs findet, könnte bald zur 500-Euro-Generation werden.

Und noch etwas zeigen die Arbeitslosenzahlen: Die Athener Regierung kann die Realwirtschaft nicht – wie in den reicheren Euroländern – mit einem staatlichen Konjunkturprogramm stützen. Der Zustand der öffentlichen Finanzen lässt keinen Spielraum für Programme neokeynesianischen Stils. Das gigantische Haushaltsdefizit macht die griechische Krise zu einem Sonderfall.

„Griechenland vor dem Bankrott“ ist seit Dezember eine Standardschlagzeile der internationalen Wirtschaftspresse. Die Zahlen sind fürwahr dramatisch: Die Pasok-Regierung von Giorgos Papandreou, die erst Anfang Oktober die konservative Regierung Karamanlis abgelöst hat, musste für 2009 eine Neuverschuldung in Höhe von 12,7 Prozent des BIPs nach Brüssel melden. Drei Monate zuvor hatte die alte Regierung ein Defizit von 6 Prozent angegeben. Und 2007 hatte der konservative Finanzminister noch versprochen, die Neuverschuldung bis 2011 auf null zu bringen.

Die Entdeckung uralter Schulden

Für die EU-Partner und die Europäische Zentralbank (EZB) war die Meldung aus Athen ein doppelter Schock. Zum einen, weil sie die Unzuverlässigkeit der griechischen Statistik und den opportunistischen Umgang der Regierungen mit solchen Daten belegte. Dazu ein erhellendes Beispiel: Die Verdoppelung des Defizits rührte unter anderem von der „Entdeckung“, dass die staatlichen Krankenhäuser ihren Pharmalieferanten etliche Milliarden Euro schulden, zum Teil schon seit Jahren. Was wiederum zu der „Entdeckung“ führte, dass selbst große Krankenhäuser kein Jahresbudget aufstellen. Was wiederum daran liegt, dass sie nicht einmal eine geregelte Buchführung kennen. Keine Regierung hat gegen diesen skandalösen Zustand je etwas unternommen.

Noch schockierender war für die EU-Partner, dass mit dem Rekorddefizit von 2009 die Gesamtverschuldung Griechenlands auf 298 Milliarden Euro ansteigt. Das entspricht 112,6 Prozent des griechischen BIPs. Kein anderes Land der EU ist so verschuldet. Das Echo in der internationalen Presse war verheerend, die Reaktion der globalen Märkte staatsgefährdend. Die Griechen mussten erfahren, dass ihr Land „von den europäischen Partnern, den Investoren und dem Markt ganz allgemein als ein unterentwickeltes Land wahrgenommen wird, das zu Unrecht in der Eurozone geduldet wird“.

Der Vertrauensverlust schlug sich in einem schmerzhaften „downgrading“ durch die internationalen Ratingagenturen nieder: Am 8. Dezember stufte Fitch die Kreditwürdigkeit Griechenlands von A- auf BBB+ zurück. Es war die erste B-Note, die jemals für ein Euroland vergeben wurde. Als Standard & Poor’s am 17. Dezember nachzog, war die Wirkung noch verheerender, wie die Entwicklung des sogenannten Spread anzeigte.

Der Spread ist international festgelegt als die Differenz zwischen den Zinsen, die ein Land den Käufern seiner Staatsobligationen bieten muss, und dem Zinsertrag für deutsche Bundesanleihen. Diese Differenz stieg für griechische Papiere am 18. Dezember auf 2,75 Prozent. Ein solcher Anstieg bedeutet für den staatlichen Haushalt neue Belastungen von knapp einer Milliarde Euro. Jedes Downgrading durch die Ratingagenturen treibt das Land also noch tiefer in die Schuldenfalle.

Schon daran zeigt sich, dass die ökonomische Krise in Griechenland – im Gegensatz zu den anderen Euroländern – vor allem von der hohen Staatsverschuldung herrührt. Die globale Finanzkrise hat den prekären Zustand der öffentlichen Finanzen nicht verursacht, sondern nur ans Licht gebracht. Und dieser Zustand hat strukturelle Ursachen, die tief in der Gesellschaft verankert sind. Die kann man – nur leicht überspitzt – in einem Satz zusammenfassen: Die meisten Griechen wollen keine Steuern zahlen, aber fast alle wollen eine Stelle im öffentlichen Dienst.

Das Staatsdefizit rührt auf der Einnahmenseite tatsächlich vor allem aus der verbreiteten Steuerhinterziehung, die in Griechenland ohne jedes Unrechtsbewusstsein gepflegt wird. Dem Staat fehlen damit jedes Jahr 30 bis 40 Milliarden Euro. Auf der Ausgabenseite ist der größte Posten das Budget für den aufgeblähten und ineffizient arbeitenden öffentlichen Dienst. Durch radikale Verminderung dieser beiden Posten wären die griechischen Haushaltsprobleme in einem überschaubaren Zeitraum überwindbar.

Diese Aufgabe muss nun die Pasok-Regierung stemmen. Sie hat den EU-Partnern zugesagt, das Haushaltsdefizit bis 2012 auf weniger als 3 Prozent des BIPs zu senken. Das aber stellt sie vor ein dreifache Dilemma. Erstens kann sie viele der im Wahlkampf versprochenen Wohltaten nicht erfüllen. Zweitens müssen die Reformen rascher als geplant umgesetzt werden. Und drittens droht die Haushaltskonsolidierung, die der neuen Regierung von der EU-Kommission, der EZB und von „den Märkten“ abgefordert wird, eine Belebung der Realwirtschaft zu verzögern.

Dass die Dreckarbeit von der Pasok erledigt werden muss, mag ungerecht erscheinen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen in der Vergangenheit auf das Konto der konservativen Nea Dimokratia (ND), zumal der Regierung Karamanlis, die für die jüngste Verdoppelung des Haushaltslochs verantwortlich ist. Aber auch die Pasok ist historisch keineswegs unschuldig. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung von Andreas Papandreou – Vater des heutigen Ministerpräsidenten – in den 1980er Jahren mit ihrer populistischen Ausgabenpolitik.

Und auch die traditionelle Übung der griechischen Parteien, den Staat als Beute zu betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zum Pförtner mit eigenen Leuten zu füllen, hat die Pasok munter mitgemacht.

Die Reduzierung der Personalausgaben ist einer der zentralen Punkte des „Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms“, das Finanzminister Papakonstantinou ausgearbeitet hat. Darin ist für 2010 ein Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst vorgesehen (außer im Erziehungs- und Gesundheitswesen), ab 2011 wird für fünf ausscheidende Staatsdiener nur ein neuer eingestellt. Gehälter über 2000 Euro werden eingefroren, die unteren Gehaltsstufen müssen sich mit einem Inflationsausgleich begnügen. Insgesamt soll jedes Ministerium sein Budget um 10 Prozent kürzen.

Aber das macht nur die Hälfte der 8 Milliarden Euro aus, die 2010 eingespart werden müssen, um die Verschuldung auf die angestrebte Marke von 8,7 Prozent des BIPs abzusenken. Die andere Hälfte soll durch erhöhte Einnahmen hereinkommen: durch Veräußerung staatlicher Immobilien und anderer „Werte“, vor allem aber durch drastisch erhöhte indirekte Steuern auf Alkohol, Tabak und Benzin. Höhere direkte Steuern werden vor allem die Besserverdienenden belasten, zum Beispiel als Sonderabgabe auf Luxusimmobilien und erhöhte Erbschafts- und Schenkungssteuern. Auch einen höheren Mehrwertsteuersatz schließt die Regierung nicht aus; Experten rechnen mit einer Anhebung von 19 auf 21 Prozent.

Entscheidend für eine nachhaltige Konsolidierung der Einnahmen ist jedoch der Kampf gegen die Steuerhinterziehung. In seiner Regierungserklärung hat Papandreou die Griechen aufgefordert, zu „stolzen Steuerzahlern“ zu werden, die es als Glück empfinden, die Gemeinschaftsaufgaben finanzieren zu dürfen. Ein heroischer Appell an eine Gesellschaft, deren erklärter Held – quer durch alle Schichten – der Erfolgreichste aller Steuergauner ist: Aristoteles Onassis, aus dessen hinterlassenem Vermögen übrigens der griechische Staatspreis für kulturelle Leistungen finanziert wird.

Realistischer packt es Finanzminister Papakonstantinou an. Er plant härtere Maßnahmen gegen Steuersünder. Ärzten im reichsten Athener Bezirk Kolonaki hielt er vor, dass sie ein Jahreseinkommen „nahe dem Mindestlohn für Arbeiter“ angeben. Bei einer Stichprobe zeigte sich, dass nur jeder Zweite von ihnen sich zu einem Jahreseinkommen von über 30 000 Euro bekennt.

Solche Zahlen sind für das ganze Land repräsentativ. Nach der Steuerstatistik für 2008 lag das deklarierte Einkommen der Freiberufler (Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten) im Durchschnitt bei 10 493 Euro. Händler und Unternehmer kamen im Durchschnitt auf 13 236 Euro, Lohnabhängige und Rentenbezieher dagegen auf 16 123 Euro. Für den Fiskus ergibt sich damit das absurde Bild, dass Arbeiter, Angestellte und Rentner als die reichsten Griechen erscheinen.

Dass die meisten Freiberufler und Unternehmer den Fiskus hintergehen, wissen die übrigen Steuerzahler sehr genau. Als Patienten zahlen sie in Privatpraxen fette Honorare, die sie selten quittiert bekommen; als Nachbarn wissen sie, welches Auto der Architekt fährt und wo der Rechtsanwalt sein Zweithaus hat. Natürlich wissen auch die Steuerbeamten Bescheid, und dieses Wissen kann einträglich sein, was wiederum Finanzminister Papakonstantinou weiß. Der plant deshalb, die Vermögensverhältnisse der Finanzbeamten regelmäßig zu überprüfen. Wer auf unerklärliche Weise reich geworden ist, soll umstandslos gefeuert werden.

Volkssport Steuerhinterziehung

Der Kampf gegen Steuerbetrug könnte dem Staat jährlich 3 Milliarden Euro einbringen, allerdings frühestens ab 2011. Die EU-Partner und „die Märkte“ haben nicht so viel Geduld. Spätestens dieses Frühjahr müssen sie überzeugt sein, dass die Pasok-Regierung wie versprochen das Budgetdefizit 2010 um 4 Prozent zurückführen kann. Deshalb drängen sie auf weitere Einschnitte bei den Ausgaben. Und verweisen dabei auf ein Problem, das die Experten schon lange identifiziert, die Regierungen aber stets weiträumig umfahren haben: das wachsende Defizit der Sozialkassen.

Die allgemeine Renten- und Krankenversicherung (IKA) musste 2009 mit 2,5 Milliarden aus dem Staatshaushalt gestützt werden, um bis zum Jahresende liquide zu bleiben. Dieser Zuschussbedarf wird für 2010 bereits auf 13 Milliarden geschätzt. 2015 werden die Kassen am Ende sein, wenn bis dahin nichts geschieht. Das Dilemma zeigt sich am krassesten beim öffentlichen Dienst und seinen 840 000 Gehaltsempfängern: Hier müssen jeweils zwei Beschäftigte die Altersbezüge eines ausgeschiedenen Kollegen finanzieren.

„Das Problem der Rentenkassen“, sagt Yannis Stournaras, Ökonom und wissenschaftlicher Leiter des renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts IOBE, „ist der zentrale Faktor, der die Entwicklung der öffentlichen Finanzen unseres Landes mittelfristig bestimmt. Dieses Problem überschattet alle anderen Bemühungen um die Sanierung der Haushalte, mögen diese noch so erfolgreich sein.“

Was damit auf die Regierung zukommt, musste Arbeits- und Sozialminister Loverdos kurz vor Weihnachten erfahren. Seine Einladung zu einem ersten „Rentendialog“ mit Versicherungsträgern und Sozialpartnern wurde von den Gewerkschaftern, die der kommunistischen Partei (KKE) nahestehen, nicht nur boykottiert, sondern durch eine Blockade des Ministeriums verhindert. Seither prophezeit die KKE einen „Abwehrkrieg“ gegen jeden Angriff auf das alte Rentensystem.

Die Liquidität der Rentenkassen ist durch Blockaden nicht zu retten. Deshalb will Loverdos im Februar ein umfassendes Konzept vorlegen, das vor allem drei Punkte enthält: Erstens sollen die heutigen 13 Rentenkassen zu drei großen Trägern zusammengefasst werden, was Milliarden an administrativen Kosten einsparen wird. Zweitens sollen betrügerische Rentenansprüche aufgedeckt werden, etwa von Behinderten, deren Handicap nur auf einem ärztlichen Attest steht. Drittens sollen die (vorwiegend ausländischen) Schwarzarbeiter in das Sozialsystem integriert werden.

Zwei heikle Punkte sind in diesem Konzept allerdings nur vage angedeutet: die Frage des Renteneintrittsalters und der Berechnung der Rentenansprüche. Das Renteneintrittsalter liegt im öffentlichen Dienst bei 60, in der Privatwirtschaft offiziell bei 65 Jahren, tatsächlich allerdings im Durchschnitt weit unter 60, weil Frührentner nur geringe Abschläge hinnehmen müssen. Das will Loverdos ändern. Allerdings muss er bei derartigen Vorschlägen mit dem geballten Widerstand der Gewerkschaften rechnen. Doch auf Dauer ist das Rententabu nicht zu halten. Spätestens wenn die Zuschüsse für die Sozialkassen das Konsolidierungsprogramm der Regierung zu sprengen drohen, wird sich die Einsicht ausbreiten, dass sich die Griechen mit einer allgemeinen Verlängerung der Arbeitszeit abfinden müssen.

Der zweite Punkt betrifft die Berechnung der Rentenansprüche. Die meisten der beruflichen Sozialkassen kalkulieren die Höhe der Altersbezüge – wie im öffentlichen Dienst – auf Basis der letzten drei bis fünf Berufsjahre und nicht des gesamten Erwerbslebens (wie etwa in Deutschland). Dabei ist es in vielen Branchen zum Usus geworden, dass (zu) niedrige Löhne vom Arbeitgeber in den letzten Arbeitsjahren erhöht werden, damit der Versicherte höhere Rentenbezüge erhält.

Die Unternehmen entsorgen damit einen Teil ihrer Kosten in die Sozialkassen. Das jüngste Beispiel: Um die Deutsche Telekom für den Einstieg bei dem staatlichen Telefonunternehmens OTE zu interessieren, wurden tausende OTE-Angestellte mit satten Abfindungen in Frührente geschickt – letzten Endes also zulasten der Staatskasse.

Was geschieht, wenn diese beiden Tabus auf den Verhandlungstisch kommen, dürfte für das Schicksal Griechenlands – und der Regierung Papandreou – entscheidend werden. Laut Umfragen sind zwei Drittel der Bevölkerung nicht bereit, für die Sanierung des Staats persönliche Opfer zu bringen. Die meisten von ihnen haben auch recht, weil ihre niedrigen Realeinkommen seit Jahren nicht gestiegen sind. Und wenn sie im Privatsektor arbeiten, haben sie doppelt recht, weil ihre Lohnsteuer einbehalten wird, während mittelständische Freiberufler als arme Schlucker posieren und nicht einmal Mehrwertsteuer zahlen müssen.

Die sozialdemokratische Pasok, die in ihrem Wahlkampf eine gerechtere Gesellschaft und einen „grünen“ Wirtschaftsaufschwung versprochen hat, steht also vor einem massiven Akzeptanzproblem. Dass die Gewerkschaften und viele einzelne Berufsgruppen gegen ihr Stabilisierungsprogramm Sturm laufen werden, ist unvermeidlich. Dass diese Proteste zu einer breiten sozialen Bewegung werden, kann die Regierung nur verhindern, wenn ihr Sparprogramm tatsächlich eine Dimension der „Gerechtigkeit“ erkennen lässt. Wenigstens dieses eine Mal muss der Staat zeigen, dass die Reichen nicht wieder ungeschoren davonkommen.

Die Belastungen der höheren Einkommen, die das Sparprogramm vorsieht, sind daher eine politische Notwendigkeit. Die Sondersteuer auf große Vermögen, die Besteuerung von Dividenden, die erhöhte Erbschaftssteuer, eine 90-prozentige Steuer auf Bankerboni, die lineare Kürzung der Managergehälter in den Staatsbetrieben – all das bringt dem Staat nicht viel ein. Aber es ist von höchstem symbolischen Wert – eine zwingende Voraussetzung für die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit des gesamten Sparprogramms.

Aus demselben Grund ist der angekündigte Kampf gegen die Korruption so wichtig. Bestechung und Vetternwirtschaft sind in Griechenland zwar so volkstümlich wie Steuerbetrug, aber die begüterten Schichten profitieren von allen Spielarten illegaler Bereicherung weit stärker als die Armen. Deshalb ist die von Papandreou ausgerufene „Null-Toleranz“ gegenüber der Korruption höchst populär. Dass auf der ersten Sitzung des neuen Kabinetts Anfang Oktober der „Bürgeranwalt“ (der griechische Ombudsman) die Minister zum engagierten und vorbildlichen Dienst an der Allgemeinheit mahnen durfte, brachte dem Regierungschef große Sympathien ein.

Ohnehin steht Papandreous persönliche Integrität für die Griechen außer Zweifel. Von seiner Partei kann man das nicht behaupten. Damit das anders wird, hat die Pasok-Fraktion einen Parlamentsausschuss für die Aufarbeitung aller großen Skandale der letzten Zeit eingerichtet.

Im Kampf gegen die Korruption steht die Regierung allerdings vor demselben Dilemma, das für den gesamten Stabilisierungsplan gilt. Selbst wenn alle Punkte des Plans ungeschoren durchs Parlament kommen, und selbst wenn alle beschlossenen Maßnahmen greifen, werden sich die Erfolge erst mittelfristig einstellen. Das gilt vor allem für den Ertrag, den sich der Finanzminister vom Kampf gegen die Steuerhinterziehung erhofft. Denn die technische Ausstattung für schärfere Kontrollen der vielen kleinen Unternehmen und der Freiberufler existiert noch nicht. Und der Gehaltsstopp für die kleinen Steuerbeamten könnte deren Bereitschaft zu einträglichen Gefälligkeiten eher noch verstärken.

Zudem können strenge Steuernachforderungen in Krisenzeiten gerade kleine Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Dasselbe gilt für den Kampf gegen die Schattenwirtschaft, der in einer Krise stets ein zweischneidiges Schwert ist. Denn schwarze und graue Einkommensquellen tragen dazu bei, deren soziale Folgen abzufedern und sogar die Konjunktur zu stabilisieren. Ein ähnliches Problem stellt sich für die Sanierung des Rentensystems. Mit der Anhebung des Rentenalters bleiben viele Arbeitsplätze länger besetzt, was die Berufschancen der jungen Generation erheblich mindert. In einer Zeit, da jeder vierte Jugendlich arbeitslos ist, wäre eine rasche Einführung der Rente mit 65 das falsche Konzept.

Dieser Hauptwiderspruch zeigt sich bei der Sanierung der öffentlichen Finanzen in Griechenland in fast allen Facetten: Was mittel- und langfristig nötig ist, um den Staatsbankrott abzuwenden, wird die sozialen Probleme kurzfristig verschärfen. Wie bedrohlich das für die Regierungspläne werden wird, wird in erster Linie vom weiteren Verlauf der Konjunktur abhängen.

Das ist der zweite und sehr robuste Grund, warum die Regierung die Lasten bei der Sanierung der öffentlichen Finanzen gesellschaftlich „gerecht“ verteilt muss. Ungerechtigkeit wäre schlicht konjunkturfeindlich: Die griechische Wirtschaft, in der Konsumausgaben über 70 Prozent des BIPs ausmachen (der höchste Anteil in der Eurozone), kann sich schrumpfende Masseneinkommen gar nicht leisten. Der Rückgang der Umsätze des Einzelhandels, der Ende 2009 bei 15 Prozent lag, ist ein Warnzeichen. Wenn sich diese Abwärtsspirale weiterdreht, wird die Realwirtschaft noch stärker schrumpfen, als schon einkalkuliert ist. Das würde den Stabilisierungsplan untergraben und den Staatsbankrott in bedrohliche Nähe rücken.

Den Widerspruch zwischen kurz- und mittelfristigen Effekten können solche Länder besser überbrücken, die sich staatliche Konjunkturprogramme und eine temporäre höhere Verschuldung leisten können, ohne vom internationalem Finanzmarkt abgestraft zu werden. Die Griechen haben diese Möglichkeit nicht. Schuld daran ist ihre politische Klasse. Denn dass Griechenland heute fast wie ein „failed state“ wahrgenommen wird, wäre historisch vermeidbar gewesen.

1981 trat das Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Seitdem hat es aus der Gemeinschaftskasse der EWG und der späteren EU finanzielle Zuschüsse erhalten, die in Euro eine dreistellige Milliardensumme ausmachen. Wo ist dieses Geld geblieben? Ein Großteil floss in Infrastrukturprojekte, die anderswo aus dem Steueraufkommen finanziert werden. Dafür konnte der Staat seine Steuerbürger – und vor allem die Reichen – weitgehend schonen. Er gewährte ihnen nicht nur eine der niedrigsten Steuerquoten in der alten EU. Er konnte ihnen auch die notorisch laxe Steuermoral durchgehen lassen, die zur Anämie der öffentlichen Finanzen maßgeblich beigetragen hat.

EU-Gelder für Jeeps und Villen

Ein weiterer großer, aber nie erfasster Teil dieser Transfergelder aus Brüssel landete auf privaten Konten. Beides, der Versickerungseffekt wie die fiskalische Verschonung der höheren und vor allem der selbständigen Einkommen, ist heute überall sichtbar: an den Jachten, an den Stadtjeeps und an den Wochenendvillen im Großraum Athen. Hier sind die Gelder materialisiert, die dazu gedacht waren, intelligente und zukunftsweisende Programme und Projekte (für die Industrie wie für Landwirtschaft und Tourismus) zu finanzieren und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Diese Zweckentfremdung ging auch zulasten der Umwelt: Die Waldbrände, die fast jeden Sommer in Attika und auf der Peloponnes wüten, sind eine Art krimineller Brandrodung mit dem Ziel, lukratives Bauland für besser verdienende Athener zu gewinnen.

Die fahrlässige Vergeudung und „Privatisierung“ der Milliarden aus Brüssel haben alle Regierungen seit 1981 zu verantworten. Heute bekommt die griechische Gesellschaft die Rechnung präsentiert. Schon deshalb wäre es nur fair, wenn die Schichten und Berufsgruppen, die sich am kräftigsten bereichert haben, den Großteil der Sanierungslasten tragen müssten. Wenn die Pasok-Regierung dies durchsetzen will und kann, sollen die europäischen Partner dies nicht nur missmutig tolerieren, sondern voll unterstützen.

Das gilt auch für Einsparungen im Militärbudget, die den Staat schlagartig sanieren könnten. Seit Jahrzehnten verschlingen die Militärausgaben über 4 Prozent des griechischen BIPs. Nach Presseberichten soll die EU-Kommission schon im letzten November in einem Memorandum eine Halbierung der griechischen Rüstungsausgaben vorgeschlagen haben. Das mag sein, aber die großen Euroländer scheinen von diesem Vorschlag nichts gehört zu haben. Vor allem Deutschland und Frankreich drängen die Athener Regierung seit Jahren massiv zum Ankauf ihrer Panzer, Kampfflugzeuge und Fregatten. Die – weitgehend staatlichen – europäischen Rüstungskonzerne schien nicht zu stören, dass diese Geschäfte in der Vergangenheit ihre Verhandlungspartner auf griechischer Seite verdächtig reich gemacht haben.

Die Abwendung des griechischen Bankrotts ist heute ein europäisches Projekt. In der ersten Januarwoche hat die Athener Regierung den angereisten Vertretern der EU-Kommission und der EZB die Details ihres Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms erläutert. Noch im Januar sollen die Finanzminister der Eurozone das Sparprogramm absegnen. Erst dann will Papandreou, unter Berücksichtigung der Einwände aus Brüssel und Frankfurt, der griechischen Öffentlichkeit den genauen Plan präsentieren. Mitte Februar soll dann die Pasok-Mehrheit im Parlament die ersten Steuergesetze beschließen.

Damit unterliegt Griechenland faktisch der verschärften Aufsicht durch die EU-Organe, die der Artikel 104c des Maastricht-Vertrags vorsieht. Der griechische Staatshaushalt wird also durch die EU- und die Eurozonen-Partner kontrolliert. Das ist der Regierung Papandreou aus zwei Gründen durchaus willkommen.

Erstens will sie sichergehen, dass ihr Programm von den europäischen Partnern gebilligt und getragen wird. Das soll ausschließen, dass „die Finanzmärkte“, sprich: die internationalen Ratingagenturen, die griechische Kreditwürdigkeit bei der kleinsten Krise erneut herabstufen. Und zweitens kann sie gegenüber der griechischen Öffentlichkeit mehr Druck ausüben: Die harten Maßnahmen, die das Sparprogramm enthält, erscheinen als unabweisbare Forderungen von äußeren Instanzen, auf die Griechenland auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.

Damit räumt die Regierung Papandreou ganz offen ein, dass die Griechen einen wichtigen Teil ihrer Souveränität eingebüßt haben. Aber das kann sie sich leisten, weil die Bevölkerung das nicht nur kapiert hat, sondern sogar begrüßt. In keinem EU-Land ist die Zustimmung zu Europa größer als in Griechenland. Und seit Jahren genießen die europäischen Institutionen – von der EU-Kommission bis zum Europäischen Parlament – bei den Griechen weit mehr Respekt und Vertrauen als die eigene Regierung und das Athener Parlament. Vor allem aber wissen inzwischen fast alle, was ein Kommentator zu Beginn der Krise so formuliert hat: „Kann Griechenland pleitegehen? Die Antwort ist so einfach wie furchterregend: Wären wir nicht in der Eurozone, hätten wir wahrscheinlich schon Bankrott anmelden müssen.“

Einen souveränen Ausweg aus der Krise des griechischen Staats gibt es nicht. Das wissen sogar die dümmsten der griechischen Nationalisten. Deshalb sind Szenarien über eine Flucht aus dem Euro, wie sie etwa in der Pariser Libération zu lesen waren, blanker Unsinn.

Keine griechische Regierung würde „nationalistischen Sirenenklängen nachgeben und die Rückkehr zur Drachme verkünden“ – auch nicht im Gefolge heftiger sozialer Unruhen. Denn was würde die Rückkehr zur Drachme bedeuten? Eine massive Abwertung der griechischen Währung, die den Schuldenberg – der aus Euro-Verpflichtungen besteht – nur noch vergrößern würde. Und das Ende aller Hoffnungen, aus der Krise herauszukommen. Denn dann müsste man auch auf die Transfergelder aus Brüssel verzichten, von denen Griechenland bis 2013 bis zu 26 Milliarden Euro in Anspruch nehmen kann – allerdings nur für gut begründete Zwecke.

Auch Spekulationen über einen „Hinauswurf“ Griechenlands aus der Eurozone oder gar aus der EU haben mit der Realität nichts zu tun. Die Partner Athens haben jedes Interesse, einen griechischen Staatsbankrott abzuwenden. Europäische Banken (allen voran die Deutsche Bank) sitzen auf zig Milliarden griechischer Staatspapiere, die sie der attraktiven Verzinsung wegen angekauft haben. Es gibt also ökonomische wie politische Gründe, den Verein zusammenzuhalten. Denn Griechenland wäre ein böses Omen für andere verschuldete Euroländer wie Spanien, deren Realwirtschaft ähnlich katastrophale Aussichten hat.

In der Financial Times war zum Jahresende zu lesen: „Keines dieser Länder wird in den Bankrott getrieben werden.“ Die Begründung: Der intensive Druck aus der Eurozone werde bewirken, dass die Krisenländer ihre öffentlichen Finanzen selbst „in Ordnung bringen“, weil sie nicht zu Pariastaaten werden wollen. Wenn das nicht gelingt, prophezeit die Financial Times, wird es eine Rettungsaktion geben: „Dann werden (diese Länder) gezwungen, ihre Finanzen so oder so anzupassen.“

Niels Kadritzke ist freier Journalist und Übersetzer. Seit 1995 arbeitet er bei der deutschen Ausgabe von Le Monde diplomatique in Berlin. Und als Experte für Griechenland schreibt er seit 2016 für den Blog „Nachdenken über Griechenland“, siehe: monde-diplomatique.de/blog-nachdenken-ueber-griechenland. Dieser Text erschien im Januar 2010 in LMd.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Niels Kadritzke