07.05.2020

Kein Eis mehr vor Ilulissat

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Kein Eis mehr vor Ilulissat

Mit dem orthodoxen Patriarchen und anderen Ökoaktivisten in Grönland

von Neal Ascherson

„Bilder aus Grönland“, kolorierte Lithografie (um 1860). Dänischer Bilderborgen von C. G. Iversen. Privatsammlung akg images
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Auf dem Weg zum Strand stieg der Patriarch auf eine Felsplatte, eine glatt geschliffene Klippe grönländischen Granits. Die Bewohner von Ilulissat, die sich als schweigende Versammlung oben am Hang vor dem Horizont abgehoben hatten, kamen nach und nach herunter und umringten den Patriarchen, bis auf der Plattform kein bisschen Platz mehr war. Die Kinder klammerten sich an den Beinen ihrer Eltern fest, um nicht die Klippe hinunterzustürzen. Dann begann der Patriarch zu ihnen zu sprechen, Worte auf Englisch und Griechisch, die ins Grönländische übersetzt wurden. Als er geendet hatte, begannen sie ihm zu Ehren zu singen, in der Inuit-Sprache und den alten Harmonien der Herrnhuter Missionare. An den Granitfelsen gelehnt, bekam ich nur Satzfetzen von oben mit. Mein Blick wanderte über die roten und grünen Hänge, spärlich bewachsen im arktischen Sommer.

Seine Heiligkeit Bartholomäus I., Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel und geistliches Oberhaupt der orthodoxen Kirchen in aller Welt , war nach Grönland gekommen. Es war seine siebte Reise, wie alle vorangegangenen zugleich Symposion und Appell an die Menschheit, die Schöpfung zu respektieren und zu retten. Organisiert werden diese Reisen von der Athener Gruppe „Religion, Wissenschaft und Umwelt“. Die Teilnehmer sind Meeresbiologen, Ökologen, Politiker und Vertreter aller Glaubensrichtungen. Reiseziel jedes Symposions ist ein bedrohtes Gewässer. Man erfährt etwas über das Leben der einheimischen Bevölkerung und macht sich gemeinsam Gedanken über die Zukunft unseres Planeten.

Die Versammlung zog weiter den Bergrücken hinauf. Noch war der Blick auf die Küste verdeckt. Dann, auf dem Kamm angelangt, hielten wir alle inne. Vor uns, auf der unbewegten, türkisfarbenen Wasserfläche türmten sich die Eisberge im Abendlicht, jeder einzelne gewaltig groß wie eine Stadt. Ich betrachtete die Schauenden. Wir alle, Grönländer, Wissenschaftler und Theologen im Gefolge des Patriarchen, standen auf einmal da wie der einsame Wanderer bei Caspar David Friedrich, als stünde er im Angesicht des Eises vor seinem Richter.

Der Ilulissat-Fjord schneidet in die grönländische Westküste. An seinem Ende liegt einer der mächtigsten Gletscher der Welt, der Sermeq Kujalleq. Die kliffartig aus dem Wasser ragende Gletscherfront ist drei Meilen breit und fast eine Meile hoch, wenn man die unter der Wasseroberfläche verborgene Eismasse mitrechnet. Die Eisberge, die wir vor uns sahen, waren die Kinder dieses Gletschers, die sich abkalben und mit kaum wahrnehmbarer Bewegung in den Ozean hinauswandern, wo sie mit der Strömung nach Süden driften und dann, immer weiter abschmelzend und ihre Süßwassermassen freisetzend, in den Nordatlantik gelangen.

In den letzten zwanzig Jahren sind auf diese Weise 20 000 Kubikkilometer Frischwasser in den Atlantik gelangt. Diese von der Eiskappe Grönlands stammenden Wassermassen beeinflussen den Meeresspiegel und die Temperaturen des Nordatlantik und wirken sich damit auf die Richtung der ozeanischen Strömungen aus, auf die Windsysteme und auf das Klima des gesamten Planeten. Von dieser Klippe über dem Ilulissat-Fjord blickt man direkt in einen der Maschinenräume dieser Erde. Doch die Maschinen haben ihren Rhythmus verändert. Im Jahr 2007 schrumpfte die arktische Eiskappe in einem nie da gewesenen Tempo. An dem Tag, an dem wir am Ilulissat-Fjord standen, war die sommerliche Eisfläche auf ein Rekordminimum geschrumpft, auf 4,12 Millionen Quadratkilometer, was gut 30 Prozent weniger sind als die 5,9 Millionen im Jahr zuvor. Das langfristige Durchschnittsminimum lag immer bei 7,7 Millionen, aber in den letzten sechs Sommern hat sich der Abschmelzungsprozess immer mehr beschleunigt.

Im August 2007 war die Nordwestpassage, die um die Nordküste von Kanada und Alaska herum bis zur Beringstraße führt, zum ersten Mal seit Jahrhunderten eisfrei und damit befahrbar. Auf dem kanadischen Festland beginnt es in der arktischen Zone zu „grünen“: Die Baumgrenze schiebt sich weiter nach Norden vor. Die das Sonnenlicht reflektierenden Eisflächen werden nach und nach durch dunkle Wälder ersetzt, welche die Strahlung und Wärme der Sonne absorbieren. Im Gutachten des UN-Klimarats für das Jahr 2007 steht, dass der Arktische Ozean gegen Ende des 21. Jahrhunderts im Sommer voraussichtlich eisfrei sein wird. Nur wenige Monate nach Veröffentlichung dieser Prognose weiß alle Welt, dass es sich um eine grandiose Unterschätzung handelte.

Das Schwinden der polaren Eisdecke ist schlimm genug. Aber noch unkalkulierbarer könnten die Folgen sein, die sich aus den Veränderungen an dem über drei Kilometer dicken Eispanzer Grönlands ergeben, der 85 Prozent der Insel überzieht und eine der größten Süßwasserreserven der Erde darstellt. Schon gibt es Anzeichen dafür, dass dieser Eispanzer aufbricht. An seinen Rändern beginnt er sich bereits zurückzuziehen, wodurch gewaltige Mengen Schmelzwasser bis an seine auf dem Felsen aufsitzende Basis durchsickern. Die Folge sind Verschiebungen und Risse in den mittleren Schichten der Eismasse. Seismologen sprechen von „Gletscherbeben“.

Die Gletscher, die sich zum Meer hinunterwinden, sind auf dem Rückzug. Die Gletschernase des Sermeq Kujalleq entfernt sich jedes Jahr weiter von der Küstenlinie, und der Gletscher selbst – der die Eisberge wie vom Fließband ins Meer befördert – bewegt sich viel schneller: Seit 2003 hat er seine Geschwindigkeit von acht auf fünfzehn Kilometer pro Jahr gesteigert. Allein hier wird jeden Tag eine Süßwassermenge in die Weltmeere eingespeist, mit der man die größten Städte der Erde versorgen könnte.

Wieder an Bord des norwegischen Kreuzfahrtschiffs „Fram“ ging es bei dem anschließenden Symposion um die möglichen Erscheinungsformen der Apokalypse. „Wir wissen nicht, wie nah wir schon auf den Katarakt zu getrieben sind“, meinte Dr. Jane Lubchenco. Und sie äußerte die Befürchtung, dass der verstärkte neue Zustrom von Süßwasser zu veränderten Meeresströmungen im Nordatlantik und damit des Golfstroms führen könnte. Die globale Erwärmung, die vor 12 000 Jahren auf eine relativ kurze Kälteperiode – die Jüngere Dryas – folgte, hatte den Golfstrom für zwei Jahrtausende abgeschaltet.

Robert Corell ist Vorsitzender des Ausschusses zur Einschätzung der Auswirkungen des arktischen Klimas (Arctic Climate Impact Assessment, Acia). Er hält die Voraussage, dass der Meeresspiegel um bis zu 59 Zentimeter ansteigen wird, schlicht für lachhaft; mittlerweile müsse man mindestens von einem Meter ausgehen. Dann zeigte er anhand einer Karte, was dieser Anstieg für Ägypten oder San Francisco bedeuten würde.

Ganz ähnlich äußerte sich Svend Auken, ehemals Umweltminister in Dänemark, über den von der EU angenommenen Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen um 2 Grad Celsius; man müsse vielmehr von einer Erwärmung um fast 6 Grad ausgehen. Von den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels sagte er, das sei so, „als behandle man Krebs mit Aspirin“. Und der Handel mit CO2-Emissionsrechten nach dem Kioto-Vertrag sei „zu einem Fall von kreativer Buchführung gigantischen Ausmaßes verkommen“.

Und so folgte mit großer Unerbittlichkeit eine schlechte Nachricht auf die andere. Die „Fram“ steuerte inzwischen durch die Davisstraße nach Süden; eine Dünung hatte eingesetzt, die das Schiff leicht ins Schlingern brachte. Die Gesichter einiger Teilnehmer wurden so grün wie ihre Überzeugung, und sie verzogen sich unter Deck. Vielleicht eine Meile entfernt zogen Wale vorbei, den gewaltigen Atem fontänengleich ausstoßend.

Es ist seltsam, in Sachen Apokalypse haben Wissenschaft und Religion offenbar die Fronten gewechselt. Vor nicht einmal hundert Jahren hätte die Bedrohung der Menschheit durch die globale Erwärmung einen ganzen Chor von Feuer-und-Schwefel-Predigten ausgelöst, mit der Botschaft, dass für die sündige Verkommenheit und das selbstsüchtige Wohlleben der Menschheit jetzt endlich die gerechte Strafe fällig sei. Und die Priester hätten die Vorstellung, menschlicher Einfallsreichtum könnte die Rache des Herrn noch einmal abwenden, als nackten Frevel gegeißelt.

Heute sind es die Materialisten – Meeresbiologen, Klimaexperten und Ökologen –, welche zur Einkehr aufrufen und die Menschheit auffordern, die ganze Entwicklung als gerechte Strafe zu begreifen. Betrachten wir einmal die Pilger auf der „Fram“ als deren Repräsentanten, so ist es heute die Religion, die uns Mut zuspricht und verkündet, dass der Kampf noch nicht verloren ist und dass die Menschen den Planeten und ihre Seelen immer noch retten können, wenn sie sich zu einem entsagungsvollen grünen Leben bekennen.

Neben den Wissenschaftlern und den Theologen (zwei Imame, ein Rabbi und Christen fast jeder Glaubensrichtung) waren auch Grönländer an Bord – Schriftsteller, Professoren, Minister, lutheranische Geistliche und Sofie Petersen, die Bischöfin von Grönland, die einen knallbunten Talar übergeworfen hatte: ein beeindruckendes Team, wenn man bedenkt, dass Grönlands Bevölkerung, die an den äußersten Rändern der größten Insel der Welt in verstreuten Siedlungen lebt, nicht größer ist als die Population einer mittleren europäischen Stadt.

Grönland ist ein etwas störrisches dänisches Außengebiet mit einer autonomen Regierung. Kopenhagen ist offiziell nur für die Außenpolitik und die Sicherheit zuständig. Doch das hat die Grönländer nicht davon abgehalten, ein eigenes Außenministerium zu unterhalten und mit der klugen und weltgewandten Aleqa Hammond zu besetzen, deren Ministerium in einem Holzbungalow in der Hauptstadt Nuuk untergebracht ist.

Die globale Erwärmung wird Grönland die Unabhängigkeit bringen. Das ist eine etwas peinliche Entdeckung für die Einheimischen, die eine intuitive Sympathie für militante Ökoaktivisten in aller Welt hegen (ausgenommen die Greenpeace-Leute, die hier verhasst sind, weil sie Grönland den Handel mit Seehundfellen kaputt gemacht haben). Es lässt sich bereits einiger Nutzen aus dem Klimawandel ziehen. Es gibt wieder Heilbutt und Kabeljau, die auch noch schneller fangreif werden.

Im Süden Grönlands hält sich das Gras länger, so dass man für die Schafe kein Futter mehr importieren muss. Ich habe sogar ein Feld mit mickriger Gerste gesehen und einen Bauern getroffen, der sich als Viehzüchter versuchen will. Kartoffeln lassen sich heute viel leichter anbauen. Aus dem Schmelzwasser des Eispanzers entstehen größere Flüsse, und bald wird Grönland so viel Strom durch Wasserkraft erzeugen, dass man auf das teure Rohöl verzichten kann. Auch Bodenschätze (Gold, Diamanten, Kohle) lassen sich wieder abbauen, und in den vom Eis befreiten Küstengewässern hat die Suche nach Ölvorkommen begonnen.

All das bedeutet, dass Grönland bald nicht mehr auf die Zuschüsse aus dem dänischen Haushalt angewiesen sein wird, die sich auf jährlich rund 450 Millionen Euro belaufen und das halbe grönländische Budget ausmachen, aber auch die letzte Fessel aus der „Kolonialzeit“ darstellen. In einer gemeinsamen Kommission werden bereits die Regelungen und ein Zeitplan für den Weg in die Unabhängigkeit diskutiert, doch in jüngster Zeit macht die rechte dänische Regierung Schwierigkeiten. „Das ist aber im Grunde egal“, meinte dazu ein undankbarer Grönländer: „Dänemark wird sowieso bald unter Wasser sein, wir brauchen uns also keine Sorgen zu machen.“

Die Bevölkerung in der gesamten arktischen Region bekommt heute große Mengen giftiger Substanzen ab, die mit den Luftschichten aus der oberen Atmosphäre absinken. Aber die Grönländer fürchten den Treibhauseffekt eher aus emotionalen Gründen. Am meisten erschreckt sie die rapide Schwächung des Eisgürtels um ihre Küsten. Diese magischen weißen Flächen waren früher jeden Winter neu entstanden und stark genug, um die Jäger und ihre Hundeschlitten zu tragen, die mit Harpune oder Gewehr Jagd auf Seehunde, Walrösser und Narwale machen. Jetzt werden die Eisflächen immer brüchiger und unsicherer, und an manchen Stellen bilden sie sich überhaupt nicht mehr.

Fast alle Grönländer haben Inuit-Vorfahren und außerdem dänische oder norwegische Wurzeln. Die meisten wohnen heute in kleinen Städten. Nur etwa fünfhundert Grönländer leben noch ausschließlich als Jäger und Sammler, ihr Revier liegt weit oben im Norden in der Umgebung von Qaanaaq und der riesigen US-Luftwaffenbasis in Thule. Aber fast alle Grönländer haben Eltern oder Großeltern, die noch Jäger waren, und sie fragen sich, was es bedeuten wird, ein Grönländer zu sein, wenn dereinst das Küsteneis und die dazugehörige Lebensweise, die seit viertausend Jahren die Geschichte der Inuit prägen, zur Erinnerung verblasst sein werden.

Am Rand des Ilulissat-Fjords kamen wir an einem Feld vorbei, wo mehrere Rudel magerer Huskys in ihren Zwingern ungeduldig bellend darauf warteten, dass sie vor einen Schlitten geschirrt werden und über das Eis davonstürmen dürfen. Vielleicht aber wird die Eisdecke weder in diesem noch in den kommenden Wintern fest genug sein, um sie zu tragen. Diese Hunde haben keine Zukunft.

Die älteren Leute erzählten uns von Freunden oder Verwandten, die noch mit dem Hundeschlitten zum Fischen oder zur Seehundjagd aufgebrochen waren und nie wieder gesehen wurden. Statt solcher Geschichten gibt es neuerdings die über die Opfer der Erderwärmung. Patricia Cochran aus Nome in Alaska erzählte unter Tränen von ihrer Freundin Mary, die durch eine mürbe Eisdecke eingebrochen und ertrunken ist. „Das Eis ist anders, das Land sieht anders aus und fühlt sich anders an; es gibt Fliegenplagen, und die Stürme werden heftiger; für uns ist der Klimawandel eine gefährliche Realität.“

Doch der Tod durch Ertrinken, wenn der Schlitten ins mürbe Eis einbricht, gehörte in der grönländischen Arktis schon immer zum harten Alltag. Der Klimawandel dient somit auch als Rechtfertigung, als eine sich von außen anbietende Erklärung, mit der man der Tatsache ausweichen kann, dass sich die Völker der Arktis selbst für ein anderes Leben entschieden haben, als sie das Paddel durch den Außenbordmotor ersetzten, als das motorisierte Snowmobil den Hundeschlitten ablöste und als die Kinder der Jäger in Betonsiedlungen zogen und anfingen, in Fischfabriken zu arbeiten.

Am Ufer eines langgestreckten Fjords im Süden Grönlands finden sich die Spuren verfallener Mauern: die Überreste eines Hauses und eines Stalls, und, mit Torfstreu markiert, der Grundriss einer winzigen Kirche. Dies war Brattahlid. Die Siedlung hatte vor etwas über tausend Jahren Erik der Rote gegründet, als er von Island aus nach Westen aufbrach und eine unbekannte Küste entdeckte. Eriks Sohn Leif zog an den norwegischen Königshof und kehrte zum Entsetzen seines Vaters als Christ zurück. Später machte sich auch Leif nach Westen auf und gründete eine kurzlebige Siedlung an einer noch weiter entfernten, baumbestandenen Küste: „Vinland“ in Nordamerika.

Motorisiertes Snowmobil statt Hundeschlitten

Mehr als vierhundert Jahre lang bestellten die Leute Eriks und seiner Nachfolger den Boden um Brattahlid. Dann kühlte das Klima ab, das Eis wanderte nach Süden, und die Siedler wurden vergessen. Niemand weiß genau, was aus ihnen geworden ist. Jahrhunderte später wurde der Ort von Europäern wiederentdeckt, aber es fanden sich nur schweigende Ruinen, ein Friedhof und eine Kapelle aus Treibholz, die Eriks Ehefrau Tjodhilde errichten ließ.

Archäologen identifizierten sowohl den Standort der Kapelle als auch den von Eriks Haus und verbrachten dessen Knochen nach Kopenhagen, wo sie in irgendeinem Kellergewölbe in Pappkartons aufbewahrt werden. Die Grönländer, die immer lautstark die Rückführung menschlicher Überreste und Relikte fordern, wenn es sich um Inuit handelt, kümmert es nicht, was mit den Knochen der „Nordmänner“ passiert.

Vor einigen Jahren wurde der Ort erneut besiedelt, von grönländischen Schafzüchtern, die eine Mole bauten und ein Dorf, das sie Qassiarsuk nannten. Hier ging der Patriarch an Land und zog an der Spitze einer Prozession hügelaufwärts zu dem Ring aus Torfstreu, Fundort der ersten christlichen Kirche in der westlichen Hemisphäre. Assistiert von seinem schwarz gewandeten Diakon begann der Patriarch, umdrängt von neugierigen Dorfbewohnern, zu singen und eine orthodoxe Liturgie anzustimmen.

Seine laute, wohltönende Bassstimme intonierte eine byzantinische Hymne. Es war eine merkwürdige, irreale Szene: hinter dem Patriarchen ein gewaltiger, mit Eisbrocken übersäter Fjord; vor ihm ein karger Hang mit Felsbrocken, Torf und dürftigem Heidekraut. Dabei lag eher eine protestantische denn eine griechische Stimmung über der Landschaft, war man mehr an schottische Inselrücken denn an die Hügel Attikas erinnert. Ich fragte mich, was die Bischöfin Sofie wohl dachte, doch die Miene der Inuk blieb unbewegt.

In der orthodoxen Theologie, einer Religion von Seefahrern, reich an Metaphern aus der Welt des Wassers, liegt so etwas wie das Gespür des Seemanns für die umfassende Einheit der Natur. Vielleicht dachte Bischöfin Sofie gerade darüber nach, dass diese Theologie etwas mit dem Glauben der Inuit gemeinsam hat, der Walrossen und Klippen, dem Wind und den Sternen eine Seele zuerkennt.

Mit einigen anderen stieg ich den Hang hinauf, bis die um Tjodhildes Kapelle versammelte Gruppe nur noch als Farbtupfer auf dem graugrünen Uferstreifen zu sehen war. Ein Schwarm Birkenzeisige umschwirrte die zum Trocknen aufgehängten Dorsche. Ein Rabe krächzte.

Die Inuit glauben an etwas, was sich schwer übersetzen lässt. Sie nennen es „Sila“ – die Kraft, die beunruhigende, unerwartete Dinge hervorbringt. Sila ist am Werk, wenn plötzlich ein Sturm losbricht oder katastrophale Veränderungen im Eis eintreten, oder wenn sich die Karibuherden neue Wanderrouten jenseits der Reichweite der Jäger suchen. Und Sila ist auch ein Geist, von dem Schamanenkinder manchmal im Voraus ahnen, wann er kommt.

Unten an der Küste erzählten die kümmerlichen Steinreste von einer Gemeinschaft, die von Sila keine Warnungen vernahm und wieder verschwand, weil sie sich dem Klimawandel nicht anpassen konnte. Die Nordmänner waren europäische Subsistenzbauern. Als die Kälte und Dunkelheit über sie kamen und ihr Getreide und ihre Tiere zugrunde gingen, hätten sie von ihren Inuit-Nachbarn deren Lebensweise und Gerätschaften übernehmen und als Jäger und Sammler überleben können. Aber das wollten und konnten sie nicht, und so finden sich nach dem frühen 15. Jahrhundert keine Spuren mehr von ihnen.

Einige Auswirkungen des Klimawandels lassen sich noch abwenden: Das Ozonloch beginnt sich zu schließen, und die tropischen Regenwälder könnten noch gerettet werden. Andere kann man abmildern, etwa durch Energiesparen und durch Maßnahmen zur Reduzierung von CO2-Emissionen. Aber mehr und mehr Belastungen sind unvermeidbar geworden. Auf sie kann man nur mit Anpassung reagieren. So müssen wir uns auf das Ansteigen des Meeresspiegels, auf Dürreperioden und neue Migrationsbewegungen einstellen. Und wir können uns zumindest mental auf den Ansturm des Unfassbaren einstimmen, auf die komplexen Folgen des gigantischen, sich ständig beschleunigenden Veränderungsprozesses, den man in der Arktik wahrnehmen kann.

Anpassung bedeutet nicht Kapitulation, sondern Selbstbehauptung, wie sie die Inuit demonstrieren, die immer wieder Klimaveränderungen überstanden haben. Und es ist von großer Bedeutung, dass wir das „Schicksal der Erde“ nicht mit der Überlebenskrise gleichsetzen, vor der die menschliche Gattung steht. Die Erde und ihre Biosphäre werden sich weiter erhalten, aber in einer für uns nicht sehr freundlichen Gestalt. Ein junger grönländischer Intellektueller hat das etwas drastisch so formuliert: „Dem Leben auf unserem Planeten ist es völlig egal, was da vor sich geht. Aber wir Menschen werden unsere Lebensweise womöglich anpassen müssen.“

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Neal Ascherson lebt als Autor und Publizist in London, seit den 1960er Jahren schreibt er über Europa, insbesondere Osteuropa. Dieser Text erschien im Januar 2008 in LMd.

© The London Review of Books; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Neal Ascherson