Die Macht hat alle Macht
von Serge Halimi
Erneut liegt ihre Welt in Scherben. Und nicht wir sind es, die sie kaputt gemacht haben. Wer jetzt die Chance für eine andere Politik sieht und an das Wirtschafts- und Sozialprogramm der Résistance denkt, an die gewerkschaftlichen Errungenschaften oder an den New Deal, der vergisst eines: Die französischen Widerstandskämpfer behielten nach dem Krieg ihre Waffen, und das Volk träumte von der Revolution.
Auf der anderen Seite des Atlantiks verstand es Franklin Roosevelt, einem Teil der Arbeitgeber klarzumachen, dass die Arbeiteraufstände und das gesellschaftliche Chaos ihren vergötterten Kapitalismus hinwegzufegen drohten. Man musste sich also etwas einfallen lassen.
Heute nichts dergleichen. Eingesperrt, infantilisiert, durch die ständige Nachrichtenflut in Erstaunen wie in Schrecken versetzt, sind die Menschen zu bloßen Zuschauern geworden. Die Macht des Faktischen hat die Straßen leergefegt. In Frankreich gibt es keine „Gelbwesten“ mehr, in Algerien keine Hirak-Bewegung, in Beirut oder in Santiago keine Demonstrationen. Wie ein vom Gewittergrollen verängstigtes Kind warten alle gespannt, welches Los die Macht ihnen zuteilt.
Die Macht entscheidet, wer ein Bett im Krankenhaus bekommt; wer getestet wird und für wen eine Maske da ist; wer Geld überwiesen bekommt, um ein paar Tage länger durchzuhalten. Die Macht entscheidet, wer wie, wann und mit wem das Haus verlassen darf.
Die Macht hat alle Macht. Sie ist Arzt und Arbeitgeber. Sie ist die Haftrichterin, die über Dauer und Härte unserer Ausgangssperre entscheidet. Was Wunder also, dass über 37 Millionen Franzosen – „doppelt so viele wie bei einer Fußballweltmeisterschaft“ – am 13. April dem Präsidenten der Republik lauschten, als seine Rede auf allen Fernsehkanälen lief? Was hätten sie an dem Abend auch sonst tun sollen?
Noch verstörender ist die Tatsache, dass die Macht selbst nicht weiß, wo es langgehen soll. Wir sollen ihre Anweisungen befolgen, auch wenn sie sich widersprechen. Wie war das mit den Masken? Solange es keine gab, waren sie nutzlos. Seit sie wieder verfügbar sind, können sie Leben retten.
„Social Distancing“ ist geboten, keine Frage, aber der Sicherheitsabstand wächst von einem auf eineinhalb Meter, wenn man sich von Frankreich nach Belgien oder nach Deutschland begibt, und er verdoppelt sich, wenn man es schafft, den Atlantik zu überqueren. Bald bekommen wir gesagt, ab welchem Alter und welchem Übergewicht es auf Dauer verboten sein wird, die Wohnung zu verlassen.
Aber eines Tages werden wir wieder erwachsen sein. Wir werden andere Wege einschlagen, auf wirtschaftlicher und auf sozialer Ebene. Im Augenblick stecken wir die Schläge ein, ohne zurückschlagen zu können; wir sprechen ins Leere und wir wissen es. Das erklärt dieses erstickende Klima, diese Wut ohne Ziel. Das Pulverfass steht mitten im Zimmer und wartet auf sein Streichholz. Auf die Kindheit folgt die rebellische Jugend.
⇥Serge Halimi