Brief aus Kolkata
von Elisa T. Bertuzzo
Am Abend des 24. März kündigte Premierminister Modi eine landesweite Ausgangssperre an. Es handelt sich um den größten Lockdown der Welt und wahrscheinlich auch den mit den härtesten Folgen. Wie die indische Gesellschaft mit ihren Millionen hochmobilen und nicht nur medizinisch oft unterversorgten Armen diesen überstehen wird, ist völlig ungewiss.
Die Kontaktsperre, die zunächst 10, dann 21 Tage dauern sollte, wurde wiederholt verlängert und soll nun bis zum 17. Mai dauern. Punktuelle Lockerungen gibt es nur in ländlichen Gebieten, die vom Virus verschont geblieben sind. Die Bereitwilligkeit und die Disziplin, mit der die meisten Menschen einer Maßnahme begegnen, die ihren Alltag derart beeinträchtigt und das auch noch komplett unvorbereitet, beeindrucken mich seit Tag eins des Lockdowns.
In Kolkata kam es zwar anfangs auch zu Hamsterkäufen und halbpanischen Reaktionen. In meinem Viertel, wo vor allem die obere Mittelschicht wohnt, beobachtete ich nervöse, wenn auch geordnete Schlangen vor den Läden, in denen neben Reismehl, Tee und Öl auch Importgüter wie Pasta, Kaffee, Chiasamen oder Haferflocken verkauft werden: Die Bewohner*innen der benachbarten basti – der an normalen Tagen von Radio- und Youtube-Musik beschallten Armensiedlungen – schienen in sich versunken zu sein.
Seit es die Jobs nicht mehr gibt, auf die viele für das tägliche Überleben angewiesen sind, wirkte das Gespenst des Hungers noch viel bedrohlicher als das Virus, und auf die Hilfsversprechen von Mamata Banerjee, Chief Ministerin des Bundesstaats Westbengalen, vertrauten lange nicht alle. Mich schauten sowohl die einen wie die anderen Nachbar*innen mit nie zuvor erfahrenem Argwohn an; manche hielten übertrieben weit Abstand, die Jungen riefen mir „Corona! Corona!“ hinterher und lachten laut, vielleicht um die eigene Beunruhigung zu überspielen.
Doch im Großen und Ganzen – auch weit über mein privilegiertes Viertel hinaus – überwiegt die Gefasstheit. Sie zeugt von Geduld, Ausdauer, stellenweise Solidarität und zugleich etwas, das schwierig zu artikulieren ist. „Kolkata hat historische Hungersnöte, die Teilung von 1947, den Unabhängigkeitskrieg Bangladeschs und etliche Epidemien überstanden, irgendwann wird auch Corona vorüber sein. Vielleicht wird dadurch sogar die entfesselte Globalisierung etwas gebremst“, sagt mein 80-jähriger Vermieter bedrückt und zugleich zuversichtlich. „Wird unser Leiden jemals enden?“, lese ich im Gesichtsausdruck einer ähnlich alten Basti-Bewohnerin. Gefasstheit geht offensichtlich Hand in Hand mit Resignation und – so scheint es manchmal – jahrhundertelangem Ertragen chronischer Ungleichheiten.
Es wird immer deutlicher, dass der Zentralstaat kaum etwas unternimmt, um die negativen Folgen der Ausgangssperre einzudämmen: nicht für die Armen, die ihren Job verloren haben und mit täglichen Versorgungsengpässen zu kämpfen haben; nicht für die mittelkleinen Bäuerinnen und Bauern, die ihre Produkte nicht mehr in die Stadt bringen können; nicht für die Millionen Arbeitsmigrant*innen, die im ganzen Land gestrandet sind. Tausende von ihnen sahen sich schon Mitte März zu improvisierten Heimreisen gezwungen, weil einige Chief Minister noch vor dem landesweiten Lockdown Ämter sowie Bildungseinrichtungen schlossen, wichtige Branchen lahmlegten, etwa den Bausektor, und die Grenzen des eigenen Bundesstaats dichtmachten.
Als auch die Fabriken zumachen mussten, verloren nach den Wanderarbeiter*innen auch Millionen Industriearbeiter*innen ihren Job – und damit über Nacht ihr Einkommen. Viele machten sich daraufhin auf den Weg in ihre Heimatdörfer. Dadurch – und weil die Regierung nach und nach den Personenzugverkehr einstellte und sämtliche Hauptstraßen sperren ließ – kam es zum Exodus, dessen dramatische Bilder vergangenen Monat die internationale Aufmerksamkeit erregten.
Mich beschäftigen diese Bilder immer noch, denn sie zeugen von einem doppelten Verstoßensein vor allem der Wanderarbeiter*innen. Am 24. März Schlag Mitternacht wurden sie zweifach „fremd“: dort, wo sie arbeiteten und dort, wo sie sich zu Hause wähnten.
An dem einen Ort verloren sie ihren Job und damit die Möglichkeit, ihre Unterkunft zu bezahlen – vor allem aber verloren sie als arme, ungebildete „Fremde“ jegliche Legitimation, weiterhin an einem sozialen Raum teilzuhaben, der zu implodieren drohte. Aber auch zu Hause waren sie als potenziell Infizierte plötzlich unerwünscht; viele zurückgekehrte Arbeitsmigrant*innen wurden der Dorfgemeinschaft verwiesen, einige durften ihr Dorf nicht einmal betreten.
Was ihnen auf dem Weg dorthin passierte, zeigt den „realen“, permanenten Ausschluss der Wanderarbeiter*innen im heutigen Indien auf. Während Hunderttausende, darunter Mütter mit Kindern, junge Ehepaare, alleinstehende Frauen und minderjährige Bau- oder Landarbeiter, großenteils ohne Geld und Lebensmittel ihre teils mehrere hundert Kilometer entfernte Heimat zu Fuß zu erreichen versuchten, ergriff die Regierung keinerlei Initiative, sie mit Nahrung, Unterkünften oder Medikamenten zu versorgen. Es gibt keine Daten darüber, wie viele sich verirrt, wie viele in welchem Zustand schließlich ihr Ziel erreicht haben; oder wie viele gestorben sind.
Bekannt sind allerdings grausame Vorfälle: von Wanderarbeiter*innen, die aus den wenigen Notunterkünften vertrieben wurden; von anderen, die mit Desinfektionsmitteln besprüht wurden, „um sie von Covid-19 zu reinigen“; bis hin zu denen, die Opfer von Polizeigewalt wurden, „weil sie sich nicht an die Ausgangssperre hielten“.
Seit 2012 forsche ich zur zirkulären Migration in Indien und Bangladesch. Eine der schwierigsten Fragen, die mich dabei umtreiben, ist: Was erklärt das schemenhafte, fast geisterhafte Dasein der Wanderarbeiter*in als Arbeiter*in? Die kapitalistische Ökonomie lebt vom Prinzip der Grenzziehung: Bewohner*innen werden von wechselnden Eigentümern von ihrem Land vertrieben; Nachbar*innen werden durch neue Landesgrenzen getrennt; produktive – „männliche“ – Tätigkeiten werden von reproduktiven – „weiblichen“ – gesondert; Arbeitslose werden von Arbeitnehmer*innen getrennt, um im Marx’schen Terminus „ein Reserveheer“ zu bilden.
Diese Grenze ist oft auch eine Grenze zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – und Wanderarbeiter*innen haben es hier mit einer besonderen Schwierigkeit zu tun. Sie tragen in einem bedeutenden, wenn auch schwer zu berechnenden Maß zur nationalen Wirtschaftsleistung bei, allerdings sind die meisten nicht formell organisiert, vor allem nicht gewerkschaftlich. In den Orten, wo sie arbeiten, haben sie bei Kommunalwahlen meistens kein Stimmrecht und keine Ansprüche auf soziale Dienstleistungen. Sie erscheinen nur, wenn sie gerufen werden oder – wie in der Coronavirus-Krise – wenn außerordentliche Grenzziehungen vorgenommen werden.
Als Millionen von Arbeitsmigrant*innen am 14. April die Ausgangssperre für aufgehoben hielten und sich auf den Weg nach Hause machen wollten, wurden sie plötzlich wahrgenommen. Sie protestierten vor den geschlossenen Bahnhöfen, auf den Straßen und wurden als anomale Gestalten, als bedrohliche, irrationale „Masse“ sichtbar.
Die allgemeine Aufregung darf nicht vergessen lassen, dass ihre Rückkehr aus Städten wie Mumbai oder wirtschaftlich starken Bundesstaaten wie Kerala und Tamil Nadu bereits im Dezember begonnen hatten – lange vor der Coronakrise (der erste Coronafall wurde am 31. Januar in Kerala bekannt gegeben).
Ich war sehr überrascht, als ich Saisonarbeiter wie Mintu und seinen Bruder Eyum, die ich seit 2013 auf mehreren Reisen zwischen Westbengalen und dem etwa 2400 Kilometer entfernten Kerala begleitet habe, im Januar zu Hause antraf. Ich fragte am Telefon nach den Gründen für ihre frühe Rückkehr, aber sie wollten nicht darüber sprechen.
Erst als ich sie in ihrem Dorf besuchte, eine halbe Stunde von der Grenze zu Bangladesch entfernt im ländlich geprägten Murshidabad District, fand ich die Antwort auf meine Frage. Trotz Modis großer Versprechen kriselt es in der Wirtschaft seit einigen Jahren, sodass es selbst in Kerala keine Garantie mehr gibt auf tägliche Jobs. „Es lohnt sich kaum noch weit wegzugehen, Miete zu zahlen und schlecht zu essen“, sagte Mintu.
Noch schwerer wog bei der Entscheidung jedoch die Sorge um ihre Familien, fügte Eyum hinzu: „Seit den neuen Staatsbürgerschaftsgesetzen gibt es hier keine Ruhe. Sie denken, dass wir Muslime alle illegale Eingewanderte aus Bangladesch sind. Was, wenn sie unsere Frauen und Kinder irgendwohin deportieren?“
Gemeint sind das National Register of Citizens (NCR), im Rahmen dessen alle indischen Bürger*innen nachweisen müssen, dass sie und ihre Eltern auf heutigem indischen Staatsgebiet geboren wurden; sowie der Citizenship Amendment Act (CAA), durch den erstmals in der Geschichte Indiens die Religionszugehörigkeit darüber entscheidet, wer eingebürgert wird und wer nicht.
Mit beiden zielt die autoritäre Regierung in Delhi darauf ab, muslimische Inder*innen weiter zu marginalisieren. Im Dezember 2019 und Januar 2020 hatte sich die gesamte Medienaufmerksamkeit auf die Gesetze und die Proteste dagegen konzentriert. Dass seit mehr als einem Monat nur noch über das Coronavirus gesprochen wird, könnte den dringend nötigen Widerstand gegen Modis Einwanderungspolitik auf Dauer schwächen.
Elisa T. Bertuzzo ist Honorarprofessorin für Raumstrategien an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Autorin von „Archipelagos. From Urbanisation to Translocalisation“, Berlin (Kadmos) 2019.
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