Wie alles anfing
von Thomas Schmid
„Andere produzieren Beilagen, deren Texte nur noch redaktionelles Umfeld für Anzeigen sind. Es gibt einen Trend zum MacJournalismus, zum schnell konsumierbaren Info-Häppchen. Wir gehen davon aus, dass diese generelle Tendenz zur Verflachung ein Bedürfnis nach mehr Analyse, mehr Hintergrundwissen, mehr Tiefgang erzeugt. Deshalb legen wir ab heute monatlich einmal der aktuellen Tagesausgabe der taz eine deutsche Ausgabe von Le Monde diplomatique bei.“
Diese Sätze standen vor 25 Jahren, am 12. Mai 1995, auf der Titelseite der taz.
300 Ausgaben sind seither erschienen. Das Projekt wurde – publizistisch wie auch wirtschaftlich – ein Erfolg. Allen Unkenrufen zum Trotz. Von der Existenz des französischen Monatsblatts Le Monde diplomatique wusste vor 25 Jahren nur eine Minderheit der taz-Redakteure, regelmäßig gelesen haben es allerhöchstens drei, wahrscheinlich waren es weniger. Allein schon der Titel schreckte ab. Mit Diplomatie hatte man in der taz nichts am Hut. Man wollte Tacheles reden. Und dann diese Bleiwüste, dieses altertümliche Outfit!
1954 von Hubert Beuve-Méry, dem Herausgeber der renommierten französischen Tageszeitung Le Monde, gegründet, richtete sich Le Monde diplomatique zwar ursprünglich (Frankreich war damals noch Kolonialmacht) explizit an die „diplomatischen Kreise und internationalen Organisationen“. Nach der Entkolonialisierung aber entwickelte das Blatt, das profunde Analysen über die Entwicklung der sogenannten Dritten Welt lieferte, unter der Chefredaktion von Claude Julien ein klares linkes Profil. Und Ignacio Ramonet, der 1991 das Ruder übernahm, geißelte dann zuverlässig jeden Monat in seinem Editorial auf der ersten Seite von Le Monde diplomatique den Neoliberalismus (siehe zum Beispiel Seite 7).
Aber all dies wusste man in der taz nicht. Wie aber kam sie dann dazu, eine deutsche Ausgabe der französischen Zeitschrift herauszugeben? Zu einer Sitzung des taz-Vorstands, dem ich damals angehörte, brachte ich am 21. Januar 1995, gerade aus Rom kommend, eine Ausgabe der linken Tageszeitung il manifesto mit. Ihr beigelegt war eine italienische Ausgabe von Le Monde diplomatique.
Karl-Heinz Ruch, geschäftsführendes Mitglied des Vorstands und faktischer Verleger der taz, zögerte nur wenige Sekunden. „Das könnten wir doch auch machen, oder was meinst du?“ Bei mir, langjährigem Auslandsredakteur, rannte Kalle, wie wir ihn alle nannten, offene Türen ein. Und im Vorstand, den ich eine Woche später verließ, um die Chefredaktion der taz anzutreten, sprach sich niemand gegen den Vorschlag aus.
Schon zwei Tage nach dem Vorstandstreffen faxte ich dem Direktor der französischen Ausgabe einen Brief, in dem ich ihm die taz vorstellte („die Auflage ist bescheiden, 62 000, aber die Bedeutung der Zeitung ist viel größer, als man aus dieser Zahl schließen könnte …“). Ich schlug ihm eine deutsche Ausgabe seines Blatts vor und bat um einen Termin. Noch am selben Tag rief mich Ramonet an und teilte mir mit, es gebe schon einen „hebdomadaire suisse“ (eine Schweizer Wochenzeitung), der sich für die Herausgabe eines deutschsprachigen Monde diplomatique interessiere. Das könne denn wohl nur die Wochenzeitung (WOZ) sein, sagte ich ihm. Er könne mir nicht verraten, welche Zeitung es sei, antwortete er, aber wenn ich meine, ich wüsste es, solle ich mich mit ihr zusammentun.
Danach rief ich sofort bei der WOZ in Zürich an. Dort war man allerdings not amused, weil man mit dem Projekt schon über ein halbes Jahr lang schwanger ging und erst mal nichts nach außen dringen sollte. Immerhin machten wir für den 9. Februar einen gemeinsamen Termin beim Chefredakteur in Paris aus. Um uns zwischen Zürich und Berlin abzustimmen, verabredeten wir ein Treffen drei Tage zuvor in den Räumen der WOZ in Zürich. Das Gespräch verlief zäh. Die Zürcher hatten vor, nach einer aufwendigen Werbekampagne im September 1995 mit der Herausgabe eines deutschsprachigen Monde diplomatique einen medialen Coup zu landen – und nun fuhren ihnen die Berliner in die Parade und wollten mit der Beilage des französischen Blatts schon im April herauskommen.
Auch beim Treffen in Paris konnten wir uns nicht einigen – weder auf die Gründung einer gemeinsamen Herausgebergesellschaft noch auf einen Erscheinungstermin. Die WOZ wollte den alleinigen Lizenzvertrag und mit der taz einen Untervertrag schließen, worauf sich die taz nicht einlassen mochte. Die Folge des Zwists: In Paris setzte man zwei Verträge auf, einen für die Berliner und einen für die Zürcher. Kaum hatte die taz grünes Licht aus Paris, ging alles zügig voran. Marie-Luise Knott, vom taz-Vorstand als verantwortliche Redakteurin für Le Monde diplomatique berufen, stellte eine Redaktion und ein Übersetzerteam zusammen. Die Technikabteilung der taz bereitete die Produktion vor, und die Anzeigenabteilung suchte nach Inseraten.
Der Streit mit der WOZ war bald bereinigt. Mitte März traf eine Delegation aus Zürich im Rudi-Dutschke-Haus ein, dem damaligen Sitz der taz-Redaktion in der Kreuzberger Kochstraße. Man fand einen Accord: Le Monde diplomatique in deutscher Sprache kommt im Mai gleichzeitig in der Schweiz und in Deutschland heraus, aber in den ersten vier Monaten obliegen Übersetzung, Redaktion und Produktion allein der taz – mit der Option, sich danach die Arbeit zu teilen. Dazu kam es allerdings nie. Produktion, Redaktion und Übersetzung blieben bis heute in Berlin. Trotzdem: Der erste deutschsprachige Monde diplomatique kam dann doch in Zürich heraus, am 11. Mai 1995. Einen Tag später erschien sie auch in Berlin.
Mir gefällt die deutsche Ausgabe besser als die französische. Einige Artikel der Originalausgabe fehlen zwar, aber dieses Manko wird durch Eigenbeiträge der deutschen Ausgabe mehr als wettgemacht.
Weltweit erscheint Le Monde diplomatique heute in 22 Sprachen in 31 Ländern (in jeweils eigenen Ausgaben) – in einer Gesamtauflage von rund 650 000 Exemplaren. Nach der französischen Originalausgabe, die eine Auflage von 180 000 erreicht, steht die deutsche, von der taz herausgegebene Ausgabe mit 74 130 gedruckten Exemplaren (I. Quartal 2020) an zweiter Stelle. Zusammen mit der Schweizer Ausgabe, die die WOZ vertreibt, wird Le Monde diplomatique in deutscher Sprache aber wohl vielhunderttausendfach gelesen. Eine respektable Bereicherung einer Presselandschaft, die durch Auflagenverluste und Fusionen zunehmend verarmt.⇥Thomas Schmid