13.02.2020

Brief aus Jakarta

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Brief aus Jakarta

von Krithika Varagur

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Am Neujahrsmorgen weckte mich eine Flut von Nachrichten. Bist du okay? Bist du von den Überschwemmungen betroffen? Alle hatten die Nachrichten verfolgt, in Amerika, London, Indien. Ich antwortete floskelhaft und fühlte mich schlecht dabei: Danke, es geht mir gut, ich lebe in einem stabilen, wenn auch etwas heruntergekommenen Hochhaus. Überschwemmungen gibt es hier leider jedes Jahr. In der ­Regenzeit steht die größte Stadt ­Südostasiens regelmäßig unter ­Wasser. Das Erstaunlichste war deshalb nicht der Regen selbst, sondern dass es sich dabei um eine Nachricht handelte.

Erst in den kommenden Tagen, als die Zahl der Todesopfer und der Menschen, die ihr Zuhause verloren hatten, in – zugegebenermaßen – ungewöhnliche Höhen stieg, begannen wir das öffentliche Interesse zu verstehen. Aber wie berichtet man über die Überschwemmungen? Wie lässt sich logisch erklären, warum Jakarta jedes Jahr aufs Neue unter Wasser steht und die Stadtverwaltung jedes Mal so tut, als wäre das eine Überraschung?

Indonesien hat auf seine geografischen und meteorologischen Realitäten häufig mit spektakulären Megaprojekten reagiert, die eher an Don Quichottes Kampf gegen die Windmühlen erinnern, anstatt dem jährlich wiederkehrenden Phänomen mit Verbesserungen im Kleinen Herr zu werden. So ist seit Jahren eine gigantische Schutzmauer geplant, die – in Form eines Vogels – den nördlichen Hafen abschirmen soll. Und nach Neujahr „impften“ Geo­ingenieure die Wolken mit Salz, um sie vorzeitig abregnen zu lassen. Die absolute Niederschlagsmenge konnte damit aber bestenfalls um 15 Prozent verringert werden. Derweil sind in der Stadt gut 80 Prozent der Entwässerungspumpen kaputt.

Nicht mal jeder Fünfte in Indone­sien glaubt an den Klimawandel, obwohl das Land stärker davon betroffen ist als die meisten anderen Länder. Vielleicht braucht man eine gewisse Portion Fatalismus, wenn man auf einem seismisch hyperaktiven Zipfel der Welt lebt. Aber man sollte die Leute trotzdem nicht damit alleinlassen.

Der Ärger über die Stadtverwaltung schwoll an und wieder ab, und das Leben ging weiter. In einigen Vierteln steht noch immer eine stinkende Brühe. Bei der Mutter eines Freundes war das Wasser in die Küche eingedrungen und hatte die Elektrogeräte ruiniert. Einen neuen Kühlschrank wollen sie aber erst kaufen, wenn die „Flutsaison“ vorbei ist, also verbringen sie den Rest des Monats ohne Kühlschrank.

Die Überschwemmungen haben auch das beliebteste Gesprächsthema in Jakarta wiederbelebt: Wird die Hauptstadt bald wirklich nach Borneo verlegt? Ich persönlich bin der Meinung, dass man sich bei dem Thema ohnehin nur in Mutmaßungen ergeht, also höre ich einfach zu: „Ja, spätestens in drei Jahren, es wird das Vermächtnis von Präsident Jokowi sein.“ – „Nein, an der Verlegung ist noch jeder Präsident seit Sukarno gescheitert.“ – „Ja, aber sie wird eine Geisterstadt sein, wie Myanmars Hauptstadt Naypyidaw.“ – „Nein, das würde der Korruption zu viele Tore öffnen.“

Tatsache ist, dass niemand sagen kann, ob die Hauptstadt nach Ostborneo ziehen wird oder nicht. Und die Verwirrung ist durchaus beabsichtigt, denn der jetzige Präsident schätzt genau wie seine Vorgänger den Überraschungseffekt. Indonesiens Regierungen kündigen gern tollkühne Pläne an, wie zum Beispiel eine Krankenversicherung für alle – die sie dann tatsächlich irgendwie auch umsetzen.

Bei solchen Unterhaltungen kommt man irgendwann auch immer auf den Vorschlag zu sprechen, den Hotel-Indonesia-Kreisel im Stadtzentrum in einen Park umzuwandeln, mit einer schwimmenden Plattform zum Joggen und einer „grünen Oase“. Das ist so ambitioniert, dass es schon wieder lustig ist. Wenn die Hauptstadt wirklich umziehen sollte, hätte Jakarta allerdings noch weniger Mittel für Infrastrukturprojekte als heute. Realistischer scheint deshalb auch die Ankündigung, vier neue Malls mit insgesamt 39 200 Quadratmetern Verkaufsfläche zu bauen – und das ausgerechnet in einer Stadt, in der es bereits so viele davon gibt, dass sich mancherorts Shoppingcenter an Shoppingcenter reiht.

Auf die Flutwoche folgten mehrere schmerzhaft schöne, sonnige Tage. Ich hielt es nicht mehr an meinem Schreibtisch aus und ging raus, um einen „Spaziergang“ zu machen – nur hatte ich dabei vergessen, in welcher Stadt ich lebe. Der einzige Ort, um hier spazieren zu gehen, ist der Friedhof. Ich ging also an den christlichen, dann an den muslimischen Gräbern vorbei und grüßte die Tagelöhner, die hier und da in kleinen Gruppen zusammenstanden und rauchten. Schließlich stand ich schweißgebadet in einer Sackgasse und musste über einen Zaun klettern, um den Friedhof wieder zu verlassen.

Ansonsten muss ich sagen, dass das neue Jahr bisher ruhig verlief. Vielleicht, weil ich lange weg war und gerade erst zurückgekommen bin oder weil mein Kopf noch so voll ist mit Eindrücken von früheren Aufenthalten. Meist verbrachte ich längere Zeit in der Stadt, wenn irgendeine wichtige Wahl anstand: die des Gouverneurs von Jakarta oder des Präsidenten. Ich besuchte meinem alten Freund, den renommierten Journalisten Nasir Tamara. Er war 1979 der einzige indonesische Journalist in Teheran, der aus erster Hand über die iranische Revolution berichtete. Unser Treffen fiel zufällig in die Woche, in der Qassem Soleimani getötet wurde.

„Es ist komisch, wie wenig Aufsehen das hier erregt hat, oder?“, stellte Tamara fest. Es sei heutzutage schwierig, den durchschnittlichen indonesischen Zeitungsleser für Nachrichten aus anderen Teilen der Welt zu interessieren, alles drehe sich um die Innenpolitik. Ganz anders damals, als junge Indonesier sich an den Kiosken drängelten, um die neueste Ausgabe der Sinar Harapan zu kaufen, mit Tamaras Berichten aus Teheran.

Ich fragte ihn, ob ich mich täusche, wenn mir die aktuelle Politik in Indonesien wie stehen geblieben vorkommt. Joko Widodo hatte gerade die ersten 100 Tage seiner zweiten Präsidentschaft hinter sich gebracht. Auch Tamara sah keine wirkliche Veränderung. „Ist die Zeit der Ordu Baru (Neue Ordnung) wirklich vorbei, wenn all diese Leute immer noch da sind?“, fragte er und bezog sich damit auf die Militärdiktatur unter Haji Mohamed Suharto von 1965 bis 1998. Prabowo Subianto, ein ehemaliger General und enger Vertrauter Suhartos, unterlag Widodo zweimal bei Präsidentschaftswahlen. Heute sitzt er als Verteidigungsminister am Kabinettstisch, als sei nie etwas gewesen.

Tamara hat sich vom Journalismus verabschiedet und sich aufs Schreiben und Übersetzen literarischer Texte verlegt: „Der Kampf um die Herzen und Köpfe ist nicht zu unterschätzen.“ Das hätten schon die Niederländer gewusst, als sie Anfang des 20. Jahrhunderts die Produktion islamischer Liebesromane förderten, um den nationalistischen Agitatoren das Wasser abzugraben. Heute ist indes kein Kolonisator mehr nötig, die jungen Leute seien frommer, als es seine Generation je gewesen sei. Deswegen verzichte die Jugend auch auf ihr ureigenstes Vorrecht: aufzubegehren. „Wir müssen sie wieder zum Lesen bringen“, sagt Tamara.

Ebenfalls junge Menschen waren es, die eine Schlagzeile aus der britischen Presse aufgriffen, um die allgegenwärtigen Ressentiments gegen die indonesische LGBT-Bewegung zu schüren: Es ging um den Fall des Doktoranden Reynhard Sinaga aus Sumatra, der in Manchester promovierte. Er wurde Anfang Januar verurteilt, weil er mehr als hundert junge Männer unter Drogen gesetzt und vergewaltigt hatte.

Eifrige Onlinejournalisten nahmen das zum Anlass, die große queere Community in Indonesien als abartig zu brandmarken. Meine queeren Freunde seufzten; es war nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte Mal sein, dass sie das erdulden müssen. Viele bestärkte es darin, sich lieber nicht vor ihren Familien zu outen.

Während ich im Süden der Stadt im Stau steckte – Jakarta steht auf der Rangliste der Verkehrschaos-Städte weltweit auf Platz zehn –, entdeckte ich ein Transparent einer islamischen Nonprofitorganisation namens Baitul Maal Hidayatullah. Es warb um Spenden für den Bau einer Moschee für Konvertiten der indigenen Baduy, einer abgeschiedenen Community in Westjava, die jeden technologischen Fortschritt ablehnt.

Ein Jahr zuvor hatte ich die Enklave Outer Baduy mitten im Regenwald besucht. Die Menschen trugen handgewirkte blaue und schwarze Kleidung, praktizierten den animistischen Wiwitan-Glauben und lebten von dem, was die Natur ihnen bot. Ich war bestürzt, dass diese Menschen nun – womöglich illegal – missioniert werden sollten. Es wäre Teil der fortschreitenden Zerstörung indigener Lebensweisen in Indonesien.

Mit einem befreundeten Fotografen, der die Baduy schon lange begleitet, machte ich mich auf den Weg. Mit dem Zug, dann in zwei Sammeltaxis (angkot) fuhren wir durch die atemberaubende javanische Landschaft. Es war der Höhepunkt der Duriansaison, und auf den Dorfstraßen trugen junge Männer und Kinder schwere Stäbe, an denen die stinkenden Früchte hingen, zum Markt. Erleichtert stellte ich fest, dass hier niemand missionierte. Tatsächlich arbeitete die muslimische NGO mit Baduys zusammen, die die Gemeinschaft bereits vor langer Zeit verlassen hatten. Nichtsdestotrotz waren wahrscheinlich tausende ahnungslose Muslime aus der Mittelschicht auf den Betrug reingefallen und hatten Teile ihrer Ersparnisse gespendet. Diesen Skandal aufzudecken steht allerdings noch aus.

Aus dem Englischen von Anna Lerch

Krithika Varagur ist Korrespondentin des Guardian und anderer Medien in Indonesien.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.02.2020, von Krithika Varagur