12.12.2019

Explosion in Chile

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Explosion in Chile

von Luis Sepúlveda

Santiago, Ende November 2019 PABLO SANHUEZA/reuters
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Es war Anfang Oktober, wenige Wochen vor der sozialen Eruption, die Chile auf der ganzen Länge und Breite seiner Geografie erschüttern sollte. Die Bilanz dieser Eruption beläuft sich zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, auf 20 Todesopfer, tausende von Verletzten, darunter hunderte, die ein Auge verloren haben und für immer entstellt sind; dazu eine unbekannte Anzahl von Festnahmen, erwiesenen Fällen schwerer Folter, sexueller Gewalt und weitere furchtbare Taten, die von den carabineros (der chilenischen Polizei) und ­Einheiten der Armee begangen wurden.

Kurz bevor all das geschah, beschrieb der chilenische Präsident Sebastián Piñera das Land als eine „Oase“ des Friedens und der Ruhe inmitten des von Stürmen geschüttelten süd­amerikanischen Kontinents.

Aber es war nicht etwa die Anwesenheit von üppigem Palmenbewuchs und frischem Wasser, die unsere chilenische Oase ausmachte, sondern die anscheinend unüberwindlichen Zäune, die sie umgaben. Die Chilenen befanden sich im Inneren dieser Einfriedung, deren Gitterstäbe aus einer speziellen Legierung bestehen: neoliberale Wirtschaft, Abwesenheit von Bürgerrechten und Repression – den drei niederträchtigsten aller metallischen Elemente.

Bis zum Wutausbruch seiner Bürger war Chile das Land, in dem ein Wunder wahr geworden war. Wunder – so nannten es die Vorbeter des Mantras „mehr Markt, weniger Staat“ in Wirtschaft und Politik. Ein spontan ausgebrochenes Wunder, das sich in den Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung offenbarte, in den, nach Meinung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, makellosen Statistiken: Danach wies Chile eine gesunde Wirtschaft mit konstantem Wachstum auf.

Aber dieser offensichtliche paradiesische Zustand herrschte nicht überall im Land: Ein paar eher subjektive Einzelheiten blieben außen vor – wie das Recht auf angemessene Entlohnung, auf ausreichende Renten, ein staatliches Bildungssystem, das diesen Namen verdiente, eine ebensolche öffentliche Gesundheitsversorgung. Und es fehlte vor allem das Recht der Bürgerinnen und Bürger, über die Entwicklung ihres Landes selbst als Subjekte zu bestimmen und nicht nur passiv zu schlucken, was ihnen die Herren des Landes an makroökonomischen Zahlen präsentieren.

Am 11. September 1973 setzte ein Militärputsch der chilenischen Demokratie ein Ende; eine brutale Diktatur wurde installiert und dauerte 17 Jahre an. Dieser Staatsstreich zielte nicht etwa darauf ab, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen oder das Vaterland vor dem Kommunismus zu bewahren, sondern es ging vor allem darum, das neoliberale, von den Chicago Boys um Milton Friedman ausgeklügelte Wirtschaftsmodell durchzusetzen. Es ging darum, durch dieses neue Wirtschaftsmodell auch ein neues Gesellschaftsmodell hervorzubringen: das einer zum Schweigen gebrachten Gesellschaft, die die grundsätzliche Abwesenheit von Rechten und Prekarität als Norm akzeptiert und wo der soziale Frieden durch Repression sichergestellt wird.

Die gemeinsame Diktatur von Zivilisten und Militärs hat ihre Ziele erreicht und sie in einer Verfassung festgeschrieben, die das Land vollständig diesem aufgezwungenen Wirtschaftskonzept unterwarf und entsprechend definierte. In ganz Lateinamerika gab es keine Verfassung, die so sehr darauf abzielte, den Wohlstand einer Minderheit zu vergrößern und die Mehrheit zu missachten, wie die chilenische.

Mit der „Rückkehr zur Demokratie“ ab 1990, zutreffender auch „chilenischer Übergang zur Demokratie“ genannt, änderten sich die Spielregeln keineswegs. Die Verfassung der Diktatur wurde kaum angetastet, nichts Wesentliches wurde daran geändert. Alle Regierungen seither, von Mitte-links bis rechts, sorgten dafür, dass das darin festgeschriebene wirtschaftliche Modell alternativlos blieb. So erfasste die Prekarität immer mehr und immer ­größere Teile der chilenischen Gesellschaft.

Wenn zwei Menschen essen wollen und zwei Brote da sind und der eine von beiden die Brote isst und der andere hungrig bleibt, dann zeigt die unanfechtbare Statistik: Der Konsum liegt bei einem Brot pro Kopf. Auf solcher Grundlage wird der Erfolg des chilenischen Modells errechnet und steht als „chilenisches Wunder“ vor der Welt da. Ein Modell, das sich stets der Angst und der Repression bedient hat, Diktatur hin, Demokratie her.

Damals, als herauskam, dass Julio Ponce Lerou, Pinochets Schwiegersohn und nach dem Willen des Diktators auch der Erbe seines zusammengeraubten Wirtschaftsimperiums, mit gigantischen Summen zahlreiche Minister, Senatoren und Abgeordnete geschmiert hatte, um die parlamentarische Mehrheit für die Fortsetzung der Privatisierungspolitik zu sichern, da bestand die Antwort des Staats darin, das drohende Ende des chilenischen Wunders an die Wand zu malen und Demonstrationen mit aller Härte niederzuschlagen.

Damals, als das Wasser privatisiert wurde – jeder Tropfen in Chile, in allen Flüssen, Seen und Gletschern gehört heute internationalen Konzernen – und der Gemeinsinn der Bürger in Kundgebungen dagegen aufbegehrte, da war die einzige Reaktion des Staats: brutale Repression.

Und damals, als die Zivilgesellschaft auf die Straße ging, um das bedrohte nationale Naturerbe gegen Strom produzierende Energiemultis zu verteidigen; als Studenten und Schüler auf die Straße gingen und ein vom Markt unabhängiges kostenloses staatliches Bildungssystem verlangten; als die indigenen Mapuche auf die Straße gingen, um der systematischen Unterdrückung ihres Volkes Einhalt zu gebieten – da war die einzige Reaktion des Staats Repression und die Beschwörung drohender Gefahr für das chilenische Wunder.

Im Frieden der chilenischen ­Oase kam es nicht deshalb zur Explosion, weil die Fahrpreise der Metro von San­tia­go erhöht wurden, sondern wegen der Unmenge an Ungerechtigkeiten, die im Namen makroökonomischer Statistiken begangen wurden. Wegen der Unverschämtheit von Ministern, die den Leuten raten, früher aufzustehen, um Fahrtkosten zu sparen; oder nach der Erhöhung des Brotpreises vorschlagen, Blumen zu kaufen, die im Preis stabil geblieben seien; oder empfehlen, Bingospiele zu organisieren, um Geld für die Reparatur von Schulgebäuden zu beschaffen, in denen bei Regen das Wasser steht.

Der Frieden in der chilenischen Oase explodierte, weil es nicht in Ordnung ist, als junger Mensch sein Stu­dium abzuschließen und dann mit einem Schuldenberg dazustehen, den man die nächsten 15 bis 20 Jahre abtragen muss. Weil das Geld für die Renten in den Händen privater Finanzunternehmen liegt, die in Spekulationsgeschäfte investieren, dabei die Gewinne einstreichen und Verluste auf die abwälzen, die eingezahlt haben; und die am Ende – als Ergebnis absurder Berechnungen der Lebenserwartung – lächerlich ­geringe Summen ausgezahlt bekommen.

Der Frieden in der chilenischen Oase explodierte, weil den Angestellten, Arbeitern und Kleinunternehmern, die vor der Wahl stehen, welchem Investor sie ihre künftige Rente anvertrauen wollen, klargemacht wird, dass „ein großer Teil ihrer Rentenbezüge davon abhängen wird, wie gut sie ihre Einzahlungen auf dem Markt zu platzieren und einzusetzen wussten“.

Der Frieden in der chilenischen Oase explodierte, weil die große Mehrheit nicht mehr schwieg, sondern nein sagte zur ihrer Prekarisierung und sich in den Kampf um die Wiedererlangung ihrer verlorenen Rechte stürzte.

Es gibt keine Rebellion, die gerechter und demokratischer sein könnte als die Rebellion heute in Chile. Die Bürgerinnen und Bürgern verlangen eine neue Verfassung, die sie nun hoffentlich auch bekommen werden: eine Verfassung, die die gesamte Nation in all ihrer Verschiedenheit repräsentiert. Sie verlangen die Rückgabe so elementarer Dinge wie des Wassers und des ebenfalls privatisierten Meeres. Sie verlangen das Recht, aktiv an der Entwicklung ihres Landes beteiligt zu sein. Sie verlangen, Bürger zu sein und nicht Untertanen eines Wirtschaftsmodells, das an fehlender Menschlichkeit und der unglaublichen Blindheit seiner Manager schon lange gescheitert ist.

Und es gibt keine Unterdrückung, so hart und verbrecherisch sie auch sein mag, die ein Volk im Aufbruch aufzuhalten vermag.

Aus dem Spanischen von Katharina Döbler

Luís Sepúlveda ist ein chilenischer Journalist und Autor. Auf Deutsch erschienen u. a.: „Der Alte, der Liebesromane las“, München (dtv) 2002; und „Der Schatten dessen, was wir waren“, Zürich (Rotpunktverlag) 2011.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Luis Sepúlveda