Wir sind nie demokratisch gewesen
von Stephan Lessenich
So zerrissen und gespalten sich die gegenwärtige Gesellschaft zeigt, in der Sorge um die Demokratie erscheint sie innerlich verbunden. Dass es um die demokratischen Verhältnisse nicht gut bestellt sei, ist der Tenor des politischen Diskurses von rechts wie von links.
Die Rede von „postdemokratischen“ Zuständen gehört zum Basisrepertoire der linken Kritik am Neoliberalismus, aber auch die AfD wirbt neuerdings mit der rechten Anverwandlung des Willy-Brandt-Slogans „Mehr Demokratie wagen“. Und sozialwissenschaftliche Beobachter, die den Rechts-links-Gegensatz für überholt erklären, beschuldigen die jugendliche Klimaaktivistin Greta Thunberg der Demokratieverachtung: Aus ihrer unbedingten Forderung nach einer ökologischen Kehrtwende spreche die autoritäre Missachtung der Alltagssorgen von Otto Normalflieger.
Als Gegenhorizont dieser vielstimmig artikulierten Besorgnisse wird häufig jenes goldene Zeitalter beschworen, in dem die demokratische Welt angeblich noch in Ordnung war. Jene bundesrepublikanischen Jahrzehnte, als die Leute wählen gingen, um ihre Stimme den Volksparteien der Mitte zu geben – und als die Tarifpartnerschaft von Kapital und Arbeit verlässlich für geordnete sozialmarktwirtschaftliche Verhältnisse sorgte.
Dann aber kam die demokratische Ordnung durcheinander. Schuld waren, je nach Krisenerzählung, die Globalisierung und die Wirtschaftseliten, die Fluchtmigration und Angela Merkel, oder aber die neuesten sozialen Bewegungen mit ihren gesellschaftlichen Umgestaltungsfantasien. Und alle zusammen ließen sie das grüne Gras der korporativ-inklusiven Schönwetterdemokratie seligen Angedenkens verdorren.
Mit dem seligen Angedenken ist das freilich so eine Sache: Meistens hat das, was im Nachhinein als makellos erscheint, bei genauerem Hinsehen allerhand Macken. Das gilt auch für jene gute alte Demokratie, die heutzutage gern hochgehalten wird und wahlweise gerettet oder wiederhergestellt werden soll. In Wirklichkeit hat es sie gar nicht gegeben.
Genau genommen kann man sagen: Wir sind nie demokratisch gewesen. Jedenfalls dann nicht, wenn man unter Demokratie eine gesellschaftliche Lebensform versteht, in der für alle Bürger und Bürgerinnen die gleiche Teilhabe an der politischen Gestaltung ihrer eigenen Lebensbedingungen gewährleistet ist. Von einem solch substanziellen Demokratieverständnis waren die realen gesellschaftlichen Verhältnisse selbst in ihren besten, vorpostdemokratischen Zeiten weit entfernt.
Seit jeher – und bis heute – ist die Demokratie der westlichen Industriegesellschaften vielmehr geprägt und umgeben von einem Grenzregime, das politische, ökonomische und soziale Berechtigungen äußerst selektiv zuweist. Von einem Regime, das für die einen Berechtigungsräume öffnet, die es anderen verschließt. Diese Grenzlinien zwischen mehr, weniger und gar nicht Berechtigten verlaufen vornehmlich entlang dreier Achsen.
Die Grenzen der Demokratie werden zuallererst von „oben“ gezogen: von den Auserwählten, die gesellschaftliche Herrschaftspositionen bekleiden. Dass diesen Herrschenden daran gelegen ist, das Fußvolk von den Möglichkeiten politischer Mitsprache und ökonomischen Erfolgs, sozialer Teilhabe und persönlicher Selbstbestimmung fernzuhalten, ist durchaus nachvollziehbar.
Machen wir uns nichts vor: Die Vorstellung tatsächlicher Volksherrschaft macht die „oberen Zehntausend“ gruseln. Nicht ohne Grund gab es gegen das wahlpolitische Prinzip des „One man, one vote“ erbitterten Widerstand. Und nicht zufällig musste selbst noch in etablierten Demokratien jahrzehntelang für das Frauenwahlrecht gekämpft werden. Wobei anzumerken ist, dass es auch bei uns noch kein Wahlrecht für die vielen Millionen ausländischer „Mitbürger“ gibt, deren Entrechtung heute kaum jemand als skandalös empfindet.
Zugleich haben die ökonomisch Herrschenden nie einen Zweifel daran gelassen, wer in dieser Gesellschaft nach wessen Pfeife zu tanzen hat: Wer kein Kapital besitzt, sondern lohnabhängig ist, verfügt in dem zentralen Lebensbereich – dem der vergesellschafteten Arbeit – über herzlich wenige Möglichkeiten zur Gestaltung der eigenen Lebensumstände. Im Normalbetrieb einer kapitalistischen Ökonomie gilt es bis heute als selbstverständlich, dass die Demokratie vor den Werkstoren, Bürotürmen und virtuellen Arbeitswelten haltmacht.
Die Begrenzung von Berechtigungsräumen in modernen Demokratien erschöpft sich allerdings nicht im Bemühen der Herrschenden, die gesellschaftlichen Gestaltungschancen der Beherrschten zu beschneiden. Quer zu dem, was man als die Logik der Klassengesellschaft bezeichnen könnte, liegt die Logik der Konkurrenzgesellschaft, liegen die vielfältigen Arten der Grenzziehung, zu denen die Beherrschten selbst durch die Gesetze der Marktökonomie gezwungen sind.
Auf den mittlerweile in sämtlichen Lebenssphären etablierten Marktplätzen kämpfen die Besitzlosen um Teilhabe, tobt der alltägliche Wettbewerb um den Rest vom Kuchen und ein paar relative Privilegien. Hier kämpfen alle um die attraktiven Positionen in der materiellen und symbolischen Statushierarchie: Männer, die Frauen, Einheimische, die Zugewanderte oder Junge, die Alte draußen halten wollen (und umgekehrt). All das gehört in der Konkurrenzgesellschaft zum demokratischen Gang der Dinge: Berechtigung erscheint als knappes Gut, und wer es einmal in den Kreis der Berechtigten geschafft hat, übernimmt fraglos die Überzeugungswelt der Etablierten. Das hab ich mir verdient! Das Boot ist voll!
Genau dies ist freilich auch – und erst recht – die kollektive Parole, mit der die Bürger und Bürgerinnen demokratischer Gemeinwesen das Berechtigungsbegehren Außenstehender abzuwehren, ja möglichst schon im Keim zu ersticken trachten. Wenn auch noch „Dahergelaufene“ (im wahrsten Sinne des Wortes) Einlass in die heiligen Hallen der Staatsgesellschaft begehren und den Raum demokratischer Berechtigung mitbevölkern wollen, dann zeigen sich die Grenzen der Demokratie ganz schnell und überdeutlich. Dann nämlich wird diesen Möchtegernen klargemacht, dass sie im Haus der Demokratie, das angeblich „für alle offen“ ist, unerwünscht sind.
Und diese Botschaft geht keineswegs nur von den Unterprivilegierten aus, von den objektiv oder subjektiv „Abgehängten“ der Marktgesellschaft. Vielmehr ist es das quer zu Klassenlagen und Statuspositionen sich konstituierende „Wir“ der nationalen Berechtigungsgemeinschaft, das den ungebetenen Gästen in bemerkenswertem sozialem Einklang die Türe weist. Dieses „Wir“ versteht in Sachen Öffnung keinen Spaß und gebietet: Ihr müsst leider draußen bleiben.
Als Klassen-, Konkurrenz- und national organisierte Gesellschaft ist die moderne Demokratie mithin ein vielschichtiges Arrangement der sozialen Begrenzung von Berechtigungsansprüchen. Dabei sind die Mitglieder des Gemeinwesens, über alle inneren Spaltungen und Differenzen hinweg, vereint nicht allein im Willen zur Abschließung des nationalen Berechtigungsraums nach außen. Das moderne demokratische Grenzregime basiert auch auf dem gesellschaftlichen Konsens, dass es keine Grenzen der Naturbeherrschung gibt.
Noch grundsätzlicher formuliert: Das gesamte demokratische Berechtigungsarrangement setzt voraus, dass sich die Gesellschaft permanent und unaufhörlich natürliche Ressourcen einverleiben und die Rückstände ihres Verbrauchs bedenkenlos entsorgen kann. Dies ist gleichsam eine weitere, vierte Achse demokratischer Öffnungs- und Schließungspraktiken: Die Bürger und Bürgerinnen finden sich, so ungleich ihre Berechtigungspositionen auch sein mögen, in der wechselseitigen Zuerkennung gleicher Rechte auf Naturentrechtung zusammen. Peinlich, aber wahr: Die gemeinsame Ermächtigung zur uneingeschränkten Inanspruchnahme der gesellschaftlichen „Umwelt“, die selbstverliehene ökologische Lizenz zum Töten, ist die implizite Geschäftsgrundlage der modernen Demokratie.
Was gegenwärtig geschieht und die kapitalistischen Demokratien des Westens ebenso aufwühlt wie ihre einst hoffnungsfrohen Nachahmersysteme im Osten Europas, ist die Tatsache, dass dieses demokratische Grenzregime zunehmend offensichtlich wird. Und dass es sich gerade in seiner Offensichtlichkeit zunehmend als unhaltbar erweist.
Genau dieser Umstand, die Gleichzeitigkeit vielfältiger demokratiepolitischer Erschütterungen, ist die Krisensignatur unserer Zeit. Wer diese auf den aufhaltsamen Aufstieg des „Rechtspopulismus“ reduzieren will und nach jedem einschlägigen Wahlerfolg in die wohlfeile, parteiübergreifende Sorge um die Demokratie einstimmt, mag sich zwar automatisch auf der richtigen Seite wähnen, hat aber die Tiefe der Zeitenwende nicht begriffen.
Denn die Grenzen der so lange so gut funktionierenden demokratischen Schließungen werden immer deutlicher sichtbar. Sie zeigen sich im rechtspopulistischen Establishment-Bashing wie in der linkspopulären Skandalisierung des „einen Prozent“ der Superreichen; in den erkennbar wahnwitzigen Auswüchsen der sozialen Statuskonkurrenz wie in der erschreckenden Selbstverständlichkeit eines ungeschminkten Alltagsrassismus; in den humanitären Kosten der polizeilich-militärischen Abschottungspolitik wie in den spürbaren ökologischen Folgen des global verallgemeinerten Wachstumskapitalismus.
Es ist die dunkle Ahnung, dass die Grenzen des demokratischen Grenzregimes tatsächlich erreicht sein könnten, die den Herren und Hütern, den großen und kleinen Profiteuren, den politischen Apologeten und intellektuellen Verteidigern dieses Regimes gleichermaßen Sorge bereitet.
Dabei geht es auf den vielen Stufen der Sozialhierarchie all den selbsterklärten Sorgeberechtigten darum, ihre bedrohte materielle oder symbolische Vorrangstellung zu sichern. Einheimische und Alteingesessene, „alte weiße Männer“ und die „hart arbeitende Bevölkerung“, der luxurierende Geldadel und die wohlbestallten Deutungseliten – sie alle verteidigen, jeweils mit ihren Mitteln, den Status quo einer Demokratie, die sich in ihrer Berechtigungslogik als multipel geschlossene Gesellschaft erweist.
All diese Gruppen wenden sich auf jeweils ihre Weise – ob per sozialmedialer Hetze oder eloquenter Diskurspolitik – gegen jede Regung einer systemüberschreitenden, der sozialen Entgrenzung und ökologischen Begrenzung der Demokratie verschriebenen Fantasie. Hauptsache, man bleibt unter sich – und alles bleibt so, wie es war.
Man kann über diese vielstimmige und vielförmige Herrschaft des demokratischen Ressentiments verzweifeln, achselzuckend hinweggehen oder in Rage geraten. Aber egal wie man sich dazu verhält, der Blick auf die geistige Situation der Zeit vermittelt eine Lehre, und die lautet: So sehen Krisen aus. Allerdings muss die Krise dessen, was wir „Demokratie“ zu nennen uns angewöhnt haben, nicht das Schlechteste sein.
Stephan Lessenich lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Gerade erschien von ihm „Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem“, Stuttgart (Reclam-Verlag) 2019.
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