12.08.2005

Ein Doktor, ein Übersetzer, ein Fotograf und ein Soldat

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Ein Doktor, ein Übersetzer, ein Fotograf und ein Soldat

Befehlskörper und Befehlsempfänger in Abu Ghraib von Carolin Emcke

They stripped me from my clothes and all the stuff that they gave me and I spent 6 days in that situation. […] And approximiately at 2 at night, the door opened and Graner was there. He cuffed my hands behind my back and he cuffed my feet and he took me to the shower room. […] And then Graner and another man, who looked like Graner but doesn’t have glasses, and has a thin moustache, and he was young and tall, came into the room. They threw pepper on my face and the beating started. This went on for half an hour. And then he started beating me with the chair until the chair was broken. And they started choking me. At that time I thought I was going to die, but it’s a miracle I lived. And then they started beating me again. They concentrated on beating on my heart until they got tired from beating me. They took a little break and then they started kicking me very hard with their feet until I passed out.“

Aussage 0003-04-C1 D 149-B 31 30 (letzte Ziffer unleserlich) von Mohanded Juma Juma, Häftling Nr. 152307.

Wieder und wieder haben wir die Bilder von den Misshandlungen in Abu Ghraib gesehen. Wir haben die Berge aus verschraubten Körpern der Opfer auf den Fotos mit Mitleid betrachtet. Wir haben mit Schrecken auf Szenen geschaut, wie menschliche Wesen zu Tieren degradiert wurden, wie die muslimischen Opfer die sexuellen Ängste und Fantasien ihrer Peiniger darstellen, ja ausagieren mussten. Wir haben die Grimassen der Folterer in ihrer perversen Heiterkeit, ihrer Lust an der Selbstdarstellung in Bildern analysiert. Aber auch wenn uns das, was wir auf den Laienfotos sehen konnten, intensiv beschäftigt hat, wurden darüber die Verbrechen ignoriert, die nicht zu sehen waren.

Während also die Bilder von Abu Ghraib als exemplarisch für die Ikonografie der Folter und die Rolle der Inszenierung innerhalb der Folter analysiert wurden, müsste auch jenes Abu Ghraib zur Sprache kommen, das sich in den Bildern nicht wiederfindet, jedoch ausführlich dokumentiert ist in zahllosen protokollierten Aussagen ehemaliger Häftlinge. Deren Geschichten sind nicht auf den Fotos zu finden. Vielleicht, weil sie nicht für die Inszenierung taugten, vielleicht weil selbst diese Täter vor manchen Abbildungen ihrer Taten zurückschreckten, vielleicht weil die Öffentlichkeit die Bilder nicht sehen sollte.

In den Transkripten der Aussagen zahlreicher Opfer und Zeugen finden sich Beschreibungen wie die folgende: „Sie haben sie geschlagen, bis sie auf dem Boden zusammenbrachen, und einer von ihnen hatte eine verletzte Nase, und sie blutete. […] Dann kam der Doktor, um die Wunde zu nähen, und Graner bat den Arzt, ihm doch das Nähen beizubringen, und wirklich, der Wärter lernte. Er nahm Nadel und Faden und setze sich hin, um die Wunde zuzunähen, und ein anderer Mann kam, um Fotos vom Verwundeten zu machen.“ Oder: „Es gab auch einen Übersetzer. Abu Adell, den Ägypter. Der half Graner und Davis und den anderen.“

Ein Doktor, ein Übersetzer, Soldaten mit Namensschildern, Soldaten ohne Namensschilder – alle sind sie beteiligt an den Folterungen in Abu Ghraib. „Das sind isolierte Einzelfälle“, erklärt Donald Rumsfeld am 5. Mai letzten Jahres, „sie sind unamerikanisch.“ Diese Soldaten hätten das in sie gesetzte Vertrauen verraten. Auf die Frage nach der Aufklärung der gerade publik gewordenen Misshandlungen in Abu Ghraib gab Rumsfeld kurioserweise die Auskunft: „Das System funktioniert.“ Für Rumsfeld waren die Misshandlungen das Werk pathologischer Sadisten, klassischer Triebtäter, die mit dem normalen Befehlsempfänger nichts zu tun haben.

Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich schnell auf jene Armeeangehörigen, die dem von Rumsfeld beschworenen notorischen Gewalttäter oder gestörten Renitenten am ehesten entsprachen: Charles Graner und Lynndie England. Zur strukturellen, politischen Analyse der Geschehnisse taugt jedoch ein anderer, eher unbeachteter Täter weit eher: Ivan Fredrick, Reservist aus West Virginia, unbescholtener weißer Bürger, im zivilen Leben Gefängniswärter in einem staatlichen Gefängnis in Buckingham Court.

Die Welt ist klein in Buckingham Court im US-Bundesstaat Virginia. Und sie ist übersichtlich. An der Route 60, der örtlichen Durchgangsstraße, liegt der „Video Voyage“-Laden, der auf einem sonnengebleichten Werbeplakat „Kill Bill“ anbietet, daneben, hinter verstaubten Jalousien, das örtliche Fitnesscenter, dann kommt ein von zwei antiken Kanonen eingerahmter Obelisk – das Denkmal für die Soldaten der Konföderierten Armee aus dem Bürgerkrieg. Sonst nichts. Kein Kino, kein Supermarkt, keine Bar. Auch kein Kiosk, an dem man Zeitungen kaufen könnte. Die Welt gibt es in Buckingham nur im Fernsehen, in den Nachrichten von CNN und Fox News.

Auf der Nordseite der Route 60 liegen die Baptist Church „Maysville“ und der Friedhof. Blank geputzt sind die Grabplatten, ordentlich gesteckt die Blumengebinde auf den Gräbern, als wären sie frisch. Hier liegen die Söhne der Stadt. Geboren und gestorben in Buckingham Court. Kaum beachtete Leben in den verarmten Landstrichen rechts und links der Route 60. Wären da nicht die Kriege, in denen sie Ruhm oder den Tod gefunden haben: der Erste Weltkrieg, der Zweite Weltkrieg, der Koreakrieg. Vor den Wohnhäusern auf beiden Seiten der Straße flattern die Stars and Stripes und ab und an auch mal eine Flagge mit dem Andreaskreuz der Südstaaten.

Die geordnete Welt von Buckingham Court, Virginia

Im Garten von Martha Frederick, ein wenig abseits der Route 60, künden blau-weiß-rote Streifen und Sterne vom ortsüblichen Patriotismus. Sauber und gepflegt ist der Rasen. Zwei Blumentöpfe flankieren die kurze Treppe zur Veranda. Der Grill ist ordentlich mit einer Plastikplane abgedeckt. „Von jeder Reise, von jedem Einsatz hat er eine amerikanische Flagge mitgebracht“, sagt Martha Frederick. „Er war so stolz auf dieses Land.“ Sie spricht in der Vergangenheit von ihrem Mann, so als wäre er schon gestorben. Als würde sie nicht mehr warten. Dabei ist die geordnete Welt von Buckingham Court schon längst aus den Fugen, seit die Bilder aufgetaucht sind, die das Gefängnis von Abu Ghraib in der ganzen Welt bekannt gemacht haben. Diesen ganz und gar unübersichtlichen Ort. Den Ort, an dem aus ihrem Ehemann Ivan Frederick ein Folterer wurde.

Ivan Frederick, den alle nur „Chip“ nennen, wächst in den Wäldern des westlichen Maryland auf. Gleich nach der High School meldet er sich zu den Reservisten der Nationalgarde. Sein Drill-Sergeant hält nicht viel von dem schüchternen jungen Mann. Auf einer Schulung für angehende Gefängnisbedienstete lernt er 1996 seine spätere Frau Martha kennen. Sie ist seine Vorgesetzte, Mutter von zwei Kindern, und sie ist schwarz. Doch das ungleiche Paar heiratet. Drei Jahre später hat sich die Familie eingerichtet. Morgens fahren die beiden zusammen zur Arbeit ins Gefängnis.

Das Buckingham Correctional Centre, eine vierstöckige staatliche Haftanstalt, ist der größte Arbeitgeber der Region. Knapp 1 000 Insassen werden von 400 Angestellten bewacht und verwaltet. Auch misshandelt? Jeder Einsatz von Gewalt seitens des Wachpersonals werde „strikt überprüft“, sagt Gerald K. Washington, der Direktor der Haftanstalt. „Es können hier nur Leute eingesetzt werden, denen ich vertrauen kann.“ Seinem Angestellten Frederick hat Washington stets vertraut.

Fredricks übersichtliches Leben ändert sich mit dem 11. September 2001. Die USA ziehen in den Krieg gegen den Terror, und der Dienst bei den Reservisten – bisher lediglich ein Wochenende pro Monat plus einmal im Jahr eine zweiwöchige Übung – wird zur Vollzeitbeschäftigung. Oberfeldwebel Frederick wird eingezogen und nach Pennsylvania verlegt.

Auf einen möglichen Einsatz im Irak werden die Soldaten der 372. Kompanie der Militärpolizei nur bedingt vorbereitet: Sie trainieren Patrouillen, simulieren Geschwindigkeitskontrollen und werden an Waffen ausgebildet. Über kulturelle Besonderheiten im Irak erfahren sie nichts und auch nichts über die Genfer Konventionen.

Von dem geheimen Arbeitsgruppenbericht über „Verhöre von Gefangenen im globalen Krieg gegen den Terrorismus“, der Donald Rumsfeld, dem obersten Dienstherrn des Reservisten, am 6. März 2003 vorgelegt wird, weiß Frederick nichts. Die Anschläge vom 11. September seien von Saddam Hussein unterstützt worden, hat Vizepräsident Dick Cheney im Fernsehen gesagt. Im Irak lagerten Massenvernichtungswaffen, hat Condoleezza Rice im Fernsehen gesagt. Und Frederick glaubt ihnen.

Im Mai 2003 wird der Oberfeldwebel mit der 372. Kompanie der Militärpolizei unter Hauptmann Donald Reese in den Irak entsandt. In einem seiner ersten Briefe an Martha schreibt er: „Ich bin frustriert, weil ich hier und nicht bei dir bin. […] Aber wenn das alles dazu dient, dieses Land hier zu einem besseren zu machen und gleichzeitig meine Familie zu beschützen, dann will ich dem dienen.“

Im selben Monat, in dem Frederick im Irak eintrifft, werden von der US Army Criminal Investigation Command (USACIDC) Ermittlungen gegen vier Soldaten des 320. Militärbataillons eingeleitet. Ihnen wird grausame Misshandlung von Gefangenen in Camp Bucca vorgeworfen. Doch es kommt nicht einmal zu einer Anklage – die Täter in Uniform kommen mit einer unehrenhaften Entlassung davon.

Im Zweistromland angekommen, beginnt Frederick, auf seinem kleinen Camcorder ein digitales Tagebuch seines Einsatzes zu führen. Für seine Frau daheim filmt er sich selbst und den Alltag im Krieg. Es sind heitere Aufnahmen, ohne Leid und ohne Zweifel. Er filmt auf Patrouille, bei der Fahrt durch die staubigen Straßen, und immer wieder filmt er Kinder. Doch schon bald zeigt die glatte Oberfläche erste Risse: Obgleich seine Einheit im Irak zu Straßenkontrollen eingesetzt werden soll, sind die Soldaten nicht mit den nötigen Schutzwesten ausgestattet. Nach einem verzweifelten Anruf von „Chip“ bestellt Martha Frederick über eine Internetfirma eine kugelsichere Weste und lässt sie ihrem Mann schicken.

„Ich kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen“, sagt Chip in seinem Filmtagebuch. Er steht aufrecht, trägt das grüne, kurzärmlige Militär-T-Shirt, am linken Oberarm ein Tattoo mit dem Kosenamen seiner Frau, „Tinki“. Er schaut direkt in die Kamera. Nur ab und an zuckt er zusammen. Dann wischt er mit einer fahrigen Handbewegung die Fliegen und die innere Unruhe beiseite. „Es ist ziemlich hart hier“, sagt Frederick am 13. Juni.

Im Juni 2003 erhält Generalin Janis Karpinski, die bereits im ersten Golfkrieg dabei war und zuvor noch nie eine Haftanstalt geleitet hat, die Befehlsgewalt über alle Militärgefängnisse im Irak. Ihrem Kommando unterstehen acht Bataillone Militärpolizei und 3 400 Reservisten.

Mit der Zeit gelingt es Frederick immer weniger, die Fassade aufrechtzuerhalten. Das Filmtagebuch wird nach und nach zu einer Dokumentation des psychischen Verfalls. Mit tiefen Rändern unter den Augen sitzt ein verzagter Frederick schließlich im weißen Unterhemd im Dunkel der Nacht. Er nuschelt nur noch, den Blick in die Kamera scheut er ganz. Unruhig schaut er um sich, manchmal ragt das in den Schoß gestemmte Maschinengewehr ins Bild. „Dieser Ort ist völlig außer Kontrolle“, sagt er leise, „Bush hat uns belogen. Der Krieg sei zu Ende, hat er behauptet. Aber davon kann keine Rede sein.“ Da ist er noch nicht einmal in Abu Ghraib stationiert.

Am 31. August trifft General Geoffrey D. Miller, Kommandeur der Joint Task Force in Guantánamo Bay, im Irak ein. Mit seinem Team, das den Gefangenen in Kuba bereits zu diesem Zeitpunkt auf Anweisung Rumsfelds mit Schlafentzug zusetzen darf, mit Dauerlärm oder der Androhung sexueller Misshandlung, sucht er nach „Möglichkeiten, Gefangene rasch auf handlungstaugliche Informationen hin auszubeuten“.

Im September 2003 empfiehlt Miller, die Einheiten der Armee, die das Gefängnis kontrollieren, den Geheimdiensten zu unterstellen. Zudem habe der Einsatz der Soldaten auch zum Ziel, „aktiv die Umstände herzustellen, unter denen die Gefangenen erfolgreich ausgebeutet werden können“.

Am 17. September schreibt Ivan Frederick an seine Frau: „Die neusten Nachrichten: Wir erhalten nicht den Einsatz, den ich erhofft hatte, sondern sie haben uns die Aufgabe im Bagdader Gefängnis Abu Ghraib zugewiesen, von dem ich schon erzählt hatte.“ Abu Ghraib müsste eigentlich ein passender Einsatzort für einen professionellen Gefängniswärter sein. Doch Frederick sträubt sich. „Ich fürchte mich davor, aber was kann ich tun?

Ohne klare Dienstanordnung

Als Fredericks Einheit in Abu Ghraib eintrifft, sind die Zustände dort bereits außer Kontrolle: Mehrere tausend Häftlinge hausen in dem Barackenkomplex sowie in den beiden angrenzenden Zeltlagern Camp Vigilant und Camp Ganci: Jugendliche, Frauen, psychisch Kranke, Kriminelle und Gefangene der Staatssicherheit, alle werden hier festgehalten. Fredericks unmittelbarer Vorgesetzter, Hauptmann Reese, entdeckt auf seinem ersten Rundgang im Zellenblock 1-A nackte Gefangene. Reese, im zivilen Leben Jalousienverkäufer, wendet sich an die Geheimdienstoffiziere, die ihm versichern, dass daran „nichts ungewöhnlich oder illegal“ sei.

Seit General Millers Anweisungen steht Abu Ghraib unter dem Kommando der Geheimdienstabteilungen. Staatliche Angestellte der CIA, Mitarbeiter der privaten Sicherheitsfirmen Titan Corporation und Caci – sie alle regieren in Abu Ghraib, „ohne dabei ordentlich überwacht zu werden“, wie es später in einem offiziellen Untersuchungsbericht heißt. Zum Dienst erscheinen diese Leute in ziviler Kleidung oder Uniform, mit oder ohne Namensschilder.

In zahlreichen Anrufen bei Martha klagt Frederick, es sei alles ein einziges Durcheinander. Es gebe keine klaren Dienstordnungen in diesem Gefängnis. Den einen Tag müsse man einem neuen Vorgesetzten salutieren, am nächsten werde man dafür zurechtgewiesen. Die Sicherheitsbeamtin Martha empfiehlt ihm, er solle doch seine eigene Dienstordnung schreiben. Unmöglich, er habe nichts zu sagen in diesem Gefängnis. Von der widerwärtigen Realität in Abu Ghraib traut er sich nicht ihr zu erzählen.

Im Oktober schreibt Major Dinenna vom 320. Militärbataillon mehrere E-Mails an Major William Green von der 800. Militärpolizeibrigade, in denen er die grauenhaften Bedingungen in Abu Ghraib anklagt. Im Essen der privaten Firma, die das Gefängnis beliefert, finde man Ratten, Wanzen und Dreck, schreibt Dinenna. Statt Unterstützung jedoch erhält der Major nur eine Rüge: „Wer macht die Anschuldigung mit Dreck und Wanzen im Essen? Wenn es von den Gefangenen stammt, braucht man dem keinen Glauben zu schenken.“ Major Dinenna gibt zurück: „Unsere Militärpolizei, unsere Krankenpfleger und unser Feldarzt können durchaus Dreck, Wanzen und Ratten identifizieren – und das haben sie getan.“ Hat die Gleichgültigkeit gegen die Gefangenen damit zu tun, dass die muslimischen Opfer schon längst nicht mehr als legitime Gegner in einem konventionellen Krieg anerkannt werden?

Wie Wolfgang Sofsky in seinem Buch „Die Ordnung des Terrors“ schreibt, ist die Institutionalisierung des Terrors eine Bedingung für die Entgrenzung der Gewalt. „Erst einmal als Institution sedimentiert, wirkte habituelle Gewalt auf den Täter zurück.“ Die Soldaten von Fredericks Einheit ahmen nur nach, was sich längst als Verhalten etabliert hat. Angesichts der unklaren Zuständigkeiten, der chaotischen Hierarchien, in einem Krieg gegen den Terror, in dem alle Hemmungen längst verloren, alle Normen schon gebrochen sind, bedarf es gar nicht mehr eines präzisen Befehls.

Die Vorgesetzten, Oberst Thomas Pappas, der Kommandeur einer Brigade des Militärgeheimdienstes, dessen Kollege, Oberstleutnant Steve Jordan, und Steve Stefanowicz, ein Verhörspezialist der privaten Sicherheitsfirma CACI, setzen die ihnen zugewiesenen Reservisten als Handlanger ein: „Macht den Kerl weich für uns“, lauten die vagen Anweisungen der Geheimdienstler an die Soldaten der 372. Kompanie. „Bereitet ihm eine schlechte Nacht.“ Jemand wie Stefanowicz, wird Generalmajor Taguba später in seinen Untersuchungsbericht schreiben, wisse genau, „dass seine Befehle physische Misshandlung bedeuten“. Und Frederick und seine Kollegen tun, was ihnen gesagt wird. Frederick verweigert nicht den Befehl. Er verweist nicht auf die Genfer Konvention. Er beruft sich nicht auf sein Gewissen oder auf seine Erfahrung im Gefängnis von Buckingham County.

Auffällig an Abu Ghraib ist die Gleichzeitigkeit von Befehlsordnung und Unordnung: die Soldaten sind eingebunden in Strukturen, doch diese werden beständig verändert und aufgelöst, sie müssen gehorchen, aber die Anweisungen sind vage, fordern zu eigenmächtigem Handeln auf, sie geben Richtungen der Gewalt vor, aber lassen Raum für Exzesse. So wird der Einzelne einerseits zur Folter aufgefordert und in sie eingebunden, aber gleichzeitig als Einzelner be- und entlastet.

Hatte Donald Rumsfeld das gemeint, als er Mitte 2002 seine Militärführung dazu ermutigte, mehr Risiken einzugehen?

Letzte Zweifel an ihrem Handeln werden den Aufsehern von ihrem Vorgesetzte Stefanowicz genommen: Sie erledigten „hervorragende Arbeit“, die Gefangenen könnten nun viel leichter „abgeschöpft“ werden.

Gewalt an Häftlingen wird zum Alltag in Abu Ghraib. Keiner der Krankenpfleger, die die malträtierten Körper behandeln müssen, stoppt die Misshandlungen. Die Folter von Gefangenen gehört so sehr zur Routine, dass eines der Fotos von Misshandlungen als Bildschirmschoner des Computers im Hauptverhörzimmer dient.

Das politische System mit seinen geheimen Memos, offiziellen Anordnungen, den privaten Firmen, den internationalen Söldnern, die Mischung aus Ordnung und Anarchie, die beabsichtigten Phasen kontrollierter und orgiastischer Gewalt, die Verunsicherung durch den Wechsel von Hierarchie und Chaos, von Anordnungen und Planlosigkeit – dieses System funktionierte perfekt.

Auch über die Warnungen von Soldaten, die zufällig Zeuge der Zustände im Zellenblock 1-A werden, setzen sich alle hinweg. Monatelang geschieht nichts. Warum schreitet niemand ein? Weil sie nichts von der Gewalt vor ihren Augen gewusst haben? Oder weil sie wussten, dass die Gewalt von der obersten Führung erwünscht war?

Im Spätherbst ruft Frederick bei Martha an: Schreckliche Dinge geschehen hier, erzählt er seiner Frau. Er könne am Telefon nicht darüber sprechen, aber nach seiner Rückkehr aus dem Irak werde er therapeutische Behandlung benötigen. Erst am 14. Januar ist alles vorüber. Spät nachts klopfen Ermittler an Fredericks Tür, und der Oberfeldwebel wird abgeführt. Zwei Wochen später wird Generalmajor Antonio Taguba beauftragt, die Vorfälle zu untersuchen. „Systemische Probleme“ konstatiert Taguba, „mangelnde Führung“ und „unzureichende Ausbildung“ der Militärpolizei. Doch vor Gericht standen nur die Reservisten der Militärpolizei der 372. Kompanie, die willigen Vollstrecker. Mittlerweile ist Frederick zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Daheim in Buckingham Court kann Martha Frederick die Welt nicht mehr verstehen. „Die haben uns mit Lügen in den Krieg geführt“, sagt sie, „und jetzt benutzen sie die einfachen Soldaten als Sündenbock für ihre Verbrechen.“

© Le Monde diplomatique, Berlin Carolin Emcke ist Redakteurin beim Spiegel. Zuletzt erschien ihr Buch „Von den Kriegen. Briefe an Freunde“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2004.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2005, von Carolin Emcke