12.08.2005

London – Bagdad

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London – Bagdad

von Ignacio Ramonet

Die Attentate von London sind durch nichts zu rechtfertigen. Wer Unschuldige im Namen einer so genannten Sache tötet, kämpft in keinem Fall für eine gerechte Sache. Er tut nichts anderes, als Unschuldige zu töten.

Die letzten Anschläge waren vorhersehbar. Seit Monaten sagten die britischen Behörden immer wieder, die Frage sei nicht, ob solche Anschläge stattfinden würden, sondern wann. Der Beginn des G-8-Gipfels in Gleneagles lieferte den Anlass. Die britischen Geheimdienste MI 5 und MI 6 konnten das Massaker nicht verhindern und bestätigten so, dass noch niemand das ideale Sicherheitskonzept gefunden hat, das vor terroristischen Anschlägen schützt.

Der britische Premier Tony Blair will zwischen den jüngsten Attentaten und seiner Irakpolitik keinerlei Zusammenhang erkennen. Dabei liegt auf der Hand, dass Londons Einschwenken auf die Kriegspolitik Washingtons für Großbritannien nicht ohne tragische Konsequenzen bleiben würde. Die Anschläge in Madrid am 11. März 2004 waren in dieser Hinsicht eine düstere Warnung.

Zumal die Lage im Irak chaotisch bleibt. Die US-Regierung, die nachweislich Lügen verbreitete, um die Invasion zu rechtfertigen, hat ihre Fähigkeit, die Nachkriegsentwicklung zu steuern, offenkundig überschätzt. Der Irak ist nicht nur der sprichwörtliche Morast, in dem man immer tiefer versinkt, sondern auch ein veritables Pulverfass.

Anders, als der US-Präsident ankündigte, wurde die Welt seit der Besetzung des Irak nicht sicherer. Im Gegenteil. Das Al-Qaida-Netz existiert noch immer, Ussama Bin Laden ist nicht verhaftet, und die dschihadistischen Grüppchen schlagen an Orten zu, die zuvor verschont geblieben waren: Istanbul, Bali, Casablanca, Madrid, London. Auch nach Meinung der US-Geheimdienste hat sich der Irak zur „Schule der Stadtguerilla“ entwickelt, zu einem regelrechten „Versuchslabor des Terrors“ (International Herald Tribune vom 22. Juni), in dem hunderte von Freiwilligen aus vielen Ländern ausgebildet werden.

Die Gewalt im Irak hat unvorstellbare Ausmaße erreicht. In den letzten 18 Monaten töteten die Aufständischen über 12 000 Menschen. Gegenwärtig kommen jede Woche durchschnittlich 200 Iraker bei Attentaten ums Leben. Das Pentagon schätzt, dass sich die im Wesentlichen sunnitische Rebellion auf rund 20 000 Kombattanten und 200 000 gelegentliche Helfer stützt.

Die Besatzungskräfte kommen dagegen nicht an, auch wenn sie zu noch so drastischen Mitteln greifen.Tim Talib, der als Soldat beim Angriff auf Falludscha dabei war, berichtet: „Eines Tages, als ich einen Gefangenen ins Gefängnis brachte, meinte der für Verhöre zuständige Vorgesetzte, wir sollen das lassen. ‚Knallt sie ab‘, sagte er. Ich war völlig verwirrt. Ich konnte nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hatte. Und zwar nicht im Spaß. Einige Tage später kamen einige Humvees vorbei, mit zwei toten Irakern auf der Kühlerhaube, wie erlegtes Wild. […] Es war ein grauenhafter Anblick. Ich habe miterlebt, wie wenig Achtung den Lebenden entgegengebracht wurde, den Toten schon gar keine. Und fast niemand musste für sein Tun einstehen.“

Vom 25. bis 27. Juni fand in Istanbul das Internationale Tribunal über den Irakkrieg (WTI) statt, von dem die großen Medien keine Notiz nahmen. Einer der bedrückendsten Augenzeugenberichte stammte von dem libanesisch-amerikanischen Journalisten Dahr Jamail. Er erzählte, wie ein Kommunalbeamter aus Bagdad, Ali Abbas, eine US-Basis aufsuchte, um sich über den Verbleib eines verschwundenen Nachbarn zu erkundigen. Weil er sich nicht abwimmeln ließ, wurde er auf der Stelle verhaftet und ausgezogen, bekam eine Kapuze über den Kopf und wurde gezwungen, sexuelle Handlungen mit anderen Gefangenen zu simulieren. Anschließend hetzte man Hunde auf ihn, schlug ihm auf die Geschlechtsteile und jagte ihm Elektroschocks in den Anus. Man steckte ihm den Lauf einer Waffe in den Mund und drohte, ihn zu erschießen, falls er schreien würde. Dann musste er sich in seinen Exkrementen wälzen (siehe dahrjamailiraq.com).

Tony Blair sieht zwischen den Menschenrechtsverletzungen im Irak und den Anschlägen in London keinerlei Zusammenhang. Was aber, wenn es doch einen gibt?

Le Monde diplomatique vom 12.08.2005, von Ignacio Ramonet