Brief aus Guadalajara
von Antonio Ortuño
Vor gut einem Jahr, im Frühsommer 2018, machte ich mich mit meiner Familie auf eine Reise, die uns zehntausend Kilometer von unserem Zuhause in Guadalajara, Mexiko, wegführte. Mehr als ein Jahr lebten wir von einem Stipendium in Berlin. Die ganze Zeit wunderte ich mich darüber, wie viele Deutsche ich in dieser Zeit traf, die sich große Sorgen über die Situation in meinem Land machten.
Viele hatten Mexiko als Touristen kennen und schätzen gelernt; sie waren aufrichtig beunruhigt über das, was in Netzwerken und Presse über die mexikanische Realität berichtet wurde. Die vielen und grausamen Morde, vor allem auch Frauenmorde, die Macht des organisierten Verbrechens, das Verschwinden von Menschen, die staatliche Korruption und die Barbarei auf allen Ebenen – das machte sie fassungslos. Es passte nicht zu ihren Erinnerungen an einen warmen und freundlichen Ort.
Tatsächlich ist die Gewalt, die sich Mexikos Tag für Tag bemächtigt und in Guadalajara über die letzten Jahre immer grauenhafter geworden ist, für Deutsche eigentlich gar nicht vorstellbar – vor allem für die, die nicht die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts erlebt haben. Damals war Mexiko – heute eines der gefährlichsten Länder auf dem Erdkreis – Asyl und Zufluchtsort für Tausende von Europäern. Aber das ist lange her, wir befinden uns im 21. Jahrhundert, und die Tatsache, dass sich viele Deutsche schwertun oder einfach nicht in der Lage sind, sich das Ausmaß der Übel vorzustellen, von denen meine Stadt und mein Land heimgesucht werden, hat zu irritierenden Begegnungen geführt.
Bei meinen Lesungen hoben in den anschließenden Fragerunden immer wieder Leute die Hand und schlugen wohlgemeinte und unmögliche Auswege aus dem mexikanischen Albtraum vor. „Warum versucht ihr nicht, miteinander zu reden und eure Differenzen beizulegen?“, fragte etwa eine junge Frau in Frankfurt. Sie meinte das gar nicht herablassend oder ironisch: Sie wollte eine Idee beisteuern. Ich antwortete ihr, dass das in einer kleinen Gemeinschaft gehen könnte, aber in einer übervölkerten, unversöhnlichen und verarmten Gemeinschaft wie der mexikanischen sei das ein Hirngespinst. Sie sagte verlegen: „Vielleicht habt ihr nicht wirklich den Willen dazu.“ Ich musste ihr zustimmen. Aber ich dachte trotzdem weiterhin, dass die Dinge etwas komplizierter sind, als dass ein paar ausgleichende und verständnisvolle Gespräche für Ruhe unter Millionen von Menschen sorgen könnten. Gut, es war der Kommentar einer ganz normalen Person, die wohlwollend, aber naiv war. Das akzeptiere ich. Aber eine ähnliche Ahnungslosigkeit zeigte sich auch bei Leuten vom Fach.
Manche Kommentare über mexikanische Bücher, die sich mit der bei uns herrschenden extremen Gewalt auseinandersetzen (wie auch einige meiner eigenen) und ins Deutsche übersetzt sind, lassen vermuten, dass die Literaturexperten, die sie verfasst haben, von den Zusammenhängen nicht die geringste Ahnung haben.
Uns Autoren werden Absichten und Einflüsse unterstellt, die einfach absurd und der Fantasie der Kommentatoren entsprungen sind. Mir wurde mehr als einmal zu meiner großen Überraschung nachgesagt, ich sei ein „Schüler von Tarantino“ oder „geprägt vom Hollywood-Actionkino“. Solche Anmerkungen halten sich natürlich nicht mit den wirklichen Gründen auf, warum wir heute in meinem Land so schreiben und so leben. Sie offenbaren allerdings den Grad der Ignoranz, der selbst in einem gebildeten und informierten Land wie Deutschland vorherrscht. Natürlich gab es auch andere – kritische wie lobende – Rezensionen, die meist von gut informierten Journalisten stammten.
Wir kehrten, voller Sorge zu Beginn des Sommers 2019 in unsere Stadt zurück. Die Zahlen bestätigten unsere Befürchtungen: Laut dem staatlichen mexikanischen Institut für Geografie und Statistik (Inegi) wurden im Bundesstaat Jalisco, dessen Hauptstadt Guadalajara ist, im Jahr 2018 insgesamt 2919 Morde registriert. Allein in der ersten Jahreshälfte 2019 wurden 1394 weitere begangen. Und wer es ganz genau wissen will: Auf Guadalajara kommen 84 Prozent der mehr als 4300 Morde, die in eineinhalb Jahren in Jalisco begangen wurden. Bei solchen Zahlen würde einem Tarantino die Kinnlade runterfallen.
Drei Tage nach unserer Rückkehr bittet mich meine vierzehnjährige Tochter, die jüngste, sie zu den Galerías zu bringen, einer Shoppingmall in der Nähe unserer Wohnung. Sie will sich mit einer ihrer besten Freundinnen treffen. Die beiden haben sich ein ganzes Jahr lang nicht gesehen. Wir fahren also dorthin, die Freundin ist pünktlich, und die beiden fallen sich in die Arme. Es ist Mittag und sehr heiß, aber die Mall ist klimatisiert, und man vergisst die Hitze. Die Mädchen wollen in einem Burger-Laden etwas essen und dann bummeln gehen und sich alles erzählen. Ich verabrede mit meiner Tochter, dass ich sie abends wieder abhole, verabschiede mich und gehe nach Hause.
Ich sitze vielleicht eine Viertelstunde in meinem Arbeitszimmer und schaue in die Nachrichten, da erscheint eine Warnung auf Twitter, die ein Polizeireporter veröffentlicht hat: „Schießerei mit zwei Toten im Burger-Restaurant in den Galerías“. Ich erstarre, schau auf den Zeitpunkt der Veröffentlichung. Sie ist noch keine Minute alt. Es ist auch kein falsches Datum.
Das geschieht jetzt, genau in diesem Moment. Meine Frau und ich stürzen auf die Straße. Wir rufen unsere Tochter auf ihrem Telefon an, niemand geht ran. Wir sind in Panik. Dann, als wir gerade bei den Galerías ankommen, hat meine Frau eine Idee. Sie ruft die Mutter der Freundin an, und der gelingt es, die Mädchen zu erreichen. Sie versicherten ihr, bei ihnen sei alles in Ordnung. Sie haben beschlossen, woanders zu essen, und erst jetzt bemerken sie, dass anscheinend etwas Ungewöhnliches passiert ist.
In dem Burger-Restaurant wurde der Anführer einer Drogenbande von ein paar jugendlichen Killern angegriffen. Nachdem sie den Mann umgebracht hatten, schossen sie wahllos um sich. Die Frau des Gouverneurs im Nachbarstaat Nayarit war auch da, ihre Leibwächter schossen zurück. Einer der Killer konnte entkommen, der andere wurde getötet. Er war siebzehn Jahre alt. Das Ganze – der Burger-Laden, die Pistolen – mag nach „Pulp Fiction“ klingen. Allein, es ist die mexikanische Realität. Am nächsten Tag wurden meine Frau und ich krank. Die Angst forderte ihren Tribut.
Am Nachmittag der Schießerei in den Galerías machte sich ein Freund mit seiner Freundin auf den Weg zu einem anderen Einkaufszentrum in der Nähe, Plaza Cordilleras, wo es auch mehrere Kinosäle gibt. Sie wollten sich nach einem langen Arbeitstag einen Film gönnen. Aber daraus wurde nichts. Ein paar Meter vor einem Lokal versuchte ein junger Mann mit vorgehaltener Waffe einem Gast seinen kleinen Lieferwagen zu rauben. Nur dass das Opfer auch bewaffnet war. Als der Angreifer einen Moment abgelenkt war, zog der andere seine Waffe und erschoss ihn. Als mein Freund und seine Freundin dort eintrafen, war der ganze Parkplatz voller Krankenwagen und Polizeifahrzeuge. Der Kinoabend fiel aus.
So ist das Leben heute in Guadalajara.
In Deutschland haben mich viele Menschen gefragt, ob die neue mexikanische Regierung, die 2018 gewählt wurde und als links gilt, etwas an der Situation wird ändern können. Ich hatte den Eindruck, dass in der Frage Hoffnung mitschwang. Ich hätte gern den Erwartungen entsprochen und ja gesagt. Aber das kann ich nicht. Die Regierung von Präsident López Obrador besitzt die Mehrheit in beiden Parlamentskammern und dominiert auch in der Exekutive. Sie ist überfordert.
Seit der Amtseinführung des Präsidenten am 1. Dezember letzten Jahres wurden in Mexiko mehr als 27 000 Morde begangen. Dies ist die höchste Zahl, seit es diese Statistik gibt.
Als wichtigstes Instrument zur Bekämpfung der Gewalt hat der Präsident eine Nationalgarde geschaffen. Aber die ist unter dem anhaltenden Druck der US-Regierung hauptsächlich damit beschäftigt, mittel- und südamerikanische Migranten daran zu hindern, Mexiko zu durchqueren. Die meisten Einheiten werden eingesetzt, damit die Migranten die Grenze zu den USA nicht erreichen und Trump seine Drohung wahr macht, verheerende Zölle auf mexikanische Exporte zu erheben.
Obrador sind die Hände gebunden, und so beschränkt er sich darauf, an die Kriminellen zu appellieren, keine Verbrechen mehr zu begehen und sich doch bitte wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Ein Vorschlag wie jener der jungen Frau in Frankfurt.
Derweil geht in Mexiko das Leben weiter. Die Leute gehen zur Schule, ins Büro, in die Werkstatt und die Fabrik. Und sie gehen in Einkaufszentren. Die Fußballliga veranstaltet ihre Spiele. Es gibt Hochzeiten. Kinder werden geboren. Manche kämpfen für Rechte, die andere ihnen vorenthalten. Und so versuchen wir inmitten des ständig lauernden Todes unser Leben zu führen.
Wenn das ein Film ist, kann ich Ihnen zumindest versichern, dass es sich nicht um eine Actionkomödie handelt. Es ist eine Tragödie voller Entführungen, Morde, Vergewaltigungen und Angst. Für jemanden, der all dies nicht selbst erlebt, ist es sicher schwierig, das voll und ganz zu begreifen. Aber es gibt immer die Möglichkeit, sich darüber zu informieren und nachzudenken. Und so, mit etwas Glück, es zu begreifen.
Aus dem Spanischen von Carsten Hinz
Antonio Ortuño ist Schriftsteller. Auf Deutsch zuletzt erschienen: „Die Verschwundenen“ (München (Antje Kunstmann) 2019.
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