Korruption in Russland – ein Fehler im System
Nur ein Fünftel der russischen Wahlberechtigten gab bei den Regionalwahlen am 8. September seine Stimme ab. Die Partei der Regierung stellt weiterhin überall die Mehrheit, verlor jedoch in Moskau ein Drittel ihrer Mandate. Aber solange die Oligarchie am Ruder ist, wird sich nichts ändern.
von Tony Wood
Öffentliche Proteste gehören inzwischen zum politischen Alltag in Russland – trotz der äußerst repressiven Maßnahmen gegen Demonstrierende. Und die Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Bevölkerung werden intensiver. Seit Juli gingen im Vorfeld der Wahlen zum Moskauer Stadtparlament zehntausende Russen auf die Straße. Sie protestierten dagegen, dass die Behörden Oppositionskandidaten von der Teilnahme ausschlossen. Beispiellos viele Beteiligte wurden bei den friedlichen Kundgebungen verhaftet, mehr noch von Sicherheitskräften verprügelt und verletzt.
Den Bürgerinnen und Bürgern ging es allerdings um viel mehr als nur um diese eine Wahl. Sie sehen sich in der Tradition der Proteste vom Winter 2011: Damals trotzten Zehntausende der bitteren Kälte, um ihre Stimme zu erheben gegen die Manipulationen der regierenden Partei Einiges Russland bei der Parlamentswahl vom 4. Dezember 2011 sowie gegen die bevorstehende Rückkehr Wladimir Putins ins Amt des Staatspräsidenten.
Die Opposition umfasst ein breites Spektrum politischer und ideologischer Strömungen. Was Liberale, Sozialisten, Monarchisten und Techno-Libertäre dabei vor allem eint, ist der Kampf gegen Korruption. Von nicht unerheblichem Nutzen ist hier die Bekanntheit des Politikers Alexei Nawalny, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt beharrlich mit dem Thema beschäftigt. Auf seinem Blog bei der in Russland besonders beliebten Plattform LiveJournal, auf Twitter oder auch mittels der Multimediaaktivitäten seines Fonds zur Bekämpfung der Korruption (FBK) entlarvt er korruptes Handeln aller Art, von Vetternwirtschaft und persönlicher Bereicherung von Regierungsvertretern und Beamten bis zu den gigantischen Raubzügen der Staatskonzerne.
Bei seinen Enthüllungen scheut Nawalny auch nicht vor Personen aus dem inneren Zirkel des Kreml zurück. So machte der FBK den Reichtum des früheren Staatspräsidenten Dmitri Medwedew zum Gegenstand seiner Dokumentation „Nennen Sie ihn nicht Dimon“ aus dem Jahr 2017. Der Film wirft ein Licht auf Medwedews Privatvermögen, auf seine Jachten, auf Grundbesitz und Immobilien in Russland und Italien, darunter Nawalny zufolge Weinberge und ein Schloss in der Toskana.
Ganz sicher war und ist der Kampf gegen die Korruption ein wirksames Mittel, um Oppositionelle im Kampf gegen das Regime zu einen – das dann auch durchaus gezwungen war, sich diesem Problem zu stellen. Als Putin im Juni während seines vom Fernsehen übertragenen, jährlich stattfindenden „Dialogs mit dem russischen Volk“ Fragen von handverlesenen Anrufern beantwortete, kam die Sprache auch auf Korruption. Auf die Frage, ob er sich persönlich für diesen Schlamassel verantwortlich fühle, sagte er: „selbstverständlich.“ Putin behauptete aber zugleich, „die Zahl der Korruptionsdelikte sinkt (...) großenteils dank unseres nicht nachlassenden, konsequenten Einsatzes“.
Tatsächlich werden gelegentlich hochrangige Personen festgenommen, was Putins Aussage zu bestätigen scheint. So wurde der ehemalige Wirtschaftsminister Alexei Uljukajew im Dezember 2017 wegen Bestechlichkeit zu acht Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Blickt man auf andere Fälle, so sind Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Korruptionsbekämpfung dennoch mehr als angebracht: 2012 wurde Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow wegen eines Korruptionsskandals zwar entlassen, doch schon im darauffolgenden Jahr fiel der Vorwurf des Amtsmissbrauchs gegen ihn unter den Tisch. Heute hat er einen wichtigen (und zweifellos lukrativen) Posten bei Rostec, der staatlichen Waffen- und Hightech-Firma.
Anstatt als Disziplinierungsinstrument zu wirken, sind Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der russischen Elite eher ein Symptom der Auseinandersetzungen innerhalb dieser Elite selbst. Staatliches Vorgehen gegen Korruption dient lediglich der internen Kontenklärung oder bleibt reine PR-Übung. Der Versuch der Opposition, die Korruption aus der Welt zu schaffen, beruht hingegen auf der Annahme, sie sei nur Begleiterscheinung eines Systems, das ohne sie gerechter und besser funktionieren würde.
Millionär werden leicht gemacht
Die wahren Orgien illegaler Bereicherung, die Nawalny und andere zu Recht angreifen, resultieren aber weniger aus der persönlichen Raffgier Putins und seiner Kollegen als vielmehr daraus, dass sie Teil der Systemarchitektur sind. Die Korruption ist nichts Zufälliges oder dem zeitgenössischen russischen Kapitalismus Übergestülptes – sie ist ihm von Anfang an inhärent.
Um das besser zu begreifen, muss man die Entstehung der postsowjetischen Elite betrachten. Gewöhnlich kursiert in den westlichen Medien die Geschichte, dass schlaue Akteure in dem Drunter und Drüber des Übergangs zum freien Markt während der 1990er Jahre Reichtümer scheffelten. Vielleicht hielten sie sich dabei nicht immer an die Gesetze: Aber waren diese in den chaotischen Zeiten nicht selbst uneindeutig?
Oft wurden die damals emporkommenden Oligarchen mit den US-amerikanischen Raubkapitalisten („robber barons“) des späten 19. Jahrhunderts verglichen – also Männern, deren skrupellose Aneignung von Reichtum bald schon hochwohlanständig daherkam: siehe Boris Beressowski,¹ der binnen weniger Jahre vom Computerverkäufer zum Eigentümer einer Bank, einer Ölgesellschaft sowie einer großen Zeitung und des wichtigsten landesweiten Fernsehsenders aufstieg. Obendrein konnte er auch noch einen hohen Posten in der Regierung Jelzin ergattern.
Was dieser Erzählung fehlt, ist allerdings das grundlegende Verständnis für die Art und Weise, wie die Oligarchen ihre Vermögen erwarben. Die neue russische Elite entstand nämlich nicht durch munteren Wettbewerb, sondern durch den politischen Willen des Staats.
Da für die Regierung Jelzin die Zerschlagung der sowjetischen Planwirtschaft oberste Priorität besaß, privatisierte sie Staatsvermögen von 1992 an in einem regelrechten Rundumschlag. Mittels „Coupon-Vergaben“ bekamen die russischen Bürger und Bürgerinnen Anteile an ausgewählten Unternehmen, mit denen sie handeln durften; durch „Privatisierungen qua Dekret“ übertrug der Regierungschef bestimmten Personen den Besitz ganzer Firmen.
Die Folge dieser Formen von Privatisierung war eine rasch sich bildende und wachsende neue Schicht von Reichen, die beträchtliche Anteile der produktiven Infrastruktur des Landes zu lächerlich niedrigen Preisen ergatterten. Dabei machten sie ihre mangelnden unternehmerischen Qualitäten mehr als wett durch ihr Talent, ihre Beziehungen zum Staatsapparat auszunutzen. Dank ihrer informellen Verbindungen besorgten sie sich etwa eine Exportlizenz oder versprachen als Gegenleistung für eine Ölgesellschaft Jelzins Bewerbung um die Wiederwahl 1996 zu unterstützen.
Der Banker Petr Awen drückte das Ganze so aus: „Um in unserem Land Millionär zu werden, muss man mitnichten Köpfchen oder besondere Kenntnisse haben. Häufig reicht es, dass man von Regierung, Parlament, lokalen Potentaten oder Strafverfolgungsbehörden tatkräftig unterstützt wird. Wenn Sie Glück haben, wickelt der Staat eines schönen Tages seine Finanzgeschäfte über Ihre eigene kleine Bank ab, oder es werden großzügig Quoten für den Export von Öl, Holz und Gas erteilt. Mit anderen Worten: Sie können gar nicht anders, als Millionär werden.“²
Schon kurz nachdem Putin im Jahr 2000 auf den Präsidentenstuhl gelangt war, gelobte er öffentlich, „die Oligarchen als Klasse zu liquidieren“ – dem ersten Anschein nach ein Zeichen, dass sich die Zeiten änderten und der Staat privaten Reichtum von nun an nicht mehr unangetastet lassen würde.
Die Realität sah dann anders aus. Putin schaffte die Oligarchen nicht etwa ab, im Gegenteil: Während seiner Amtszeit erlebten sie einen beispiellosen Aufschwung. Als er an die Macht kam, gab es in Russland laut der jährlichen Forbes-Liste null Milliardäre, 2008, zum Ende seiner zweiten Amtszeit, 82. Gegenwärtig verzeichnet die Liste trotz der schwächelnden Wirtschaft und der Sanktionen, die der Westen und Russland nach der Annexion der Krim 2014 gegeneinander verhängt haben, 98 Milliardäre!
Unter Putin änderten sich freilich nicht nur die Möglichkeiten zur kolossalen persönlichen Bereicherung, es wandelte sich auch die Beziehung der Profiteure zum Staat; und diejenigen, die absahnten, waren nun andere. Während die Oligarchen in der Ära Jelzin dem Staatsapparat eher fernstanden, aber Nutzen aus seinem Nichtfunktionieren zogen, sind die Oligarchen in der Ära Putin Insider, die staatliche Macht erfolgreich dafür instrumentalisieren, das Staatsvermögen unter ihre Kontrolle zu bringen.
Unterschiede gibt es auch zwischen den verschiedenen Wirtschaftsbereichen: Als in den 1990er Jahren die Preise für Bodenschätze allgemein niedrig waren, konnte man im Bankensektor, Finanzwesen, Fernsehen und Kommunikationssektor die größten Vermögen scheffeln. Als Öl, Gas und Metall in den 2000er Jahren teurer wurden, machten Großunternehmer in diesen Sparten üppige Gewinne. Dazu gehörten unter anderem dem Kreml nahestehende Männer an der Spitze von Staatskonzernen; die spätkapitalistische Vetternwirtschaft florierte.
Dies aber wiederum verschleiert, wie sehr viele russische Staatskonzerne mit ihren Methoden und Prioritäten ohnehin schon Privatfirmen ähneln. Beide versuchen eher, Shareholder Value und Zahlungen an ihre Führungskräfte zu maximieren, als Gewinne in für die Nation langfristig wichtige Projekte zu reinvestieren (ganz zu schweigen von einer Umverteilung von Reichtum). Trotz nach außen hin formaler Unterschiede differieren privater und öffentlicher Sektor kaum.
Die Grenzen zwischen Staat und Wirtschaft sind aber nicht erst seit der Ära Putin allenthalben verwischt. Und das ist auch kein Zeichen für eine schleichende Übernahme der Wirtschaft durch den Staat oder für die kriminellen Energien mächtiger Individuen. Nein, die Unschärfen rühren von einer Verflechtung der politischen und ökonomischen Macht in Russland her, die zurückgeht auf die Präsidentschaft Jelzins und die Herausbildung der postkommunistischen Wirtschaft.
Diese Verflechtung erlaubt Korruption auf dem derzeitigen Niveau und in ihren derzeitigen Formen. Gelüstet es einen biznesmen, einen konkurrierenden Betrieb zu übernehmen, kann er Beamte bestechen, die Steuerprüfungen, Arbeitsschutzbegehungen und dergleichen veranlassen, bis sein Übernahmepreis vom Rivalen akzeptiert wird. Im vergangenen Jahrzehnt waren die „Käufer“ zunehmend Beamte und Regierungsvertreter selbst, die ihre legale Macht missbrauchten, um sich jedes Anlageobjekt unter den Nagel zu reißen, das ihnen ins Auge stach. Wie lautet das schöne russische Sprichwort? „Für unsere Freunde haben wir alles, für unsere Feinde das Gesetz.“
Was also heißt das für die Opposition und ihre Stoßrichtung? Selbstverständlich ist es politisch sinnvoll, die Korruption weiterhin anzuprangern, allein schon wegen des schieren Ausmaßes. Doch wie in anderen Teilen der Welt birgt eine politische Agenda, die vor allem auf dem Antikorruptionskampf beruht, Risiken und Beschränkungen. Wenn Nawalny die Korruption als Vergeudung von Steuergeldern kritisiert, dann öffnet er mit dieser – vollkommen berechtigten – Klage Tür und Tor für ein breites antistaatliches Pro-Markt-Denken und eine Konsumentenhaltung gegenüber zum Beispiel öffentlichen Dienstleistungen. Was wiederum leicht zum Ruf nach einem völligen Rückzug des Staats und nach noch harscheren neoliberalen Maßnahmen führen kann, als Russland sie ohnehin schon erlebt – mit der Begründung, dass der Staat ja eine zu einfach zu plündernde Quelle bleibe.
Dem Kampf der Opposition gegen die Korruption gelingt es derzeit nicht, die Strukturen infrage zu stellen, die sie überhaupt erst möglich gemacht haben. Doch solange man nicht das herrschende wirtschaftliche und politische System Russlands ändert, wird man den Räubereien in den sich überlappenden Bereichen von Wirtschaft und Staat kein Ende setzen.
¹ Beressowski war einer der mächtigsten russischen Oligarchen. In Russland, Frankreich und Brasilien wurde er der Korruption angeklagt. Er setzte sich schließlich nach London ab, wo er 2013 verstarb. Die Behörden teilten mit, es sei nicht mehr zweifelsfrei festzustellen, ob es sich um Selbstmord oder ein Tötungsdelikt handele. www.theguardian.com/world/2014/mar/27/boris-berezovsky-inquest-open-verdict-death.
² Peter Reddaway und Dmitri Glinski, „The Tragedy of Russia’s Reforms: Market Bolshevism against Democracy“, Washington, D. C. (United States Institute of Peace Press) 2001, S. 603.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Tony Wood ist Autor und Redaktionsmitglied bei der New Left Review (London). Er ist der Verfasser von „Russia Without Putin: Money, Power and the Myths of the New Cold War“, London (Verso) 2018.