12.09.2019

Brief aus Brexitland

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Brief aus Brexitland

von Patrick Cockburn

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Ich nehme einen Zug nach Dover. Falls es zu einem No-Deal-Brexit kommen sollte, wird die Stadt ein Brennpunkt der Ereignisse sein. Dann werden die Straßen von Lastern verstopft sein, die ins EU-Ausland übersetzen wollen. Ein Mann aus Sheffield erklärt mir, den Brexit hinauszuzögern, sei undemokratisch. Er will selbst gesehen haben, wie im nahen Canterbury eine ältere Frau mit einem Leave-Button von vier Remain-Anhängern zu ­Boden gestoßen wurde. Er sagt, Jeremy Cor­byn sollte man erschießen.

In einem Café meint der Helfer einer Wohltätigkeitsorganisation, die Brexit-Krise habe die „schlimmsten Seiten“ der Menschen zum Vorschein gebracht hat. Ein Gewerkschafter erzählt, dass die Leute aus der Arbeiterklasse in den Pubs immer nur über die Einwanderer reden, die in Booten an den Stränden rund um Dover landen. Von Jobs und Wohnungsnot sei kaum die Rede. In Wirklichkeit gebe es nicht viele Immigranten, meint der Mann, „aber jedes Boot schafft es ins Fernsehen, die Lokalzeitungen berichten über nichts anderes“.

Am Abend gehe ich zu einer Kundgebung vor dem lokalen Parteibüro der Konservativen. Etwa 20 Leute – Labour-Aktivisten, Liberaldemokraten und Grüne – protestieren gegen die Suspendierung des Parlaments durch den Premierminister. „Johnson muss gehen“, fordern sie auf ihren Plakaten.

Viele Autofahrer hupen Zustimmung, aber aus einem der Autos fliegt ein Ei, das einem Liberaldemokraten den Kragen bekleckert. Einer der Demonstranten sagt: „Es ist eine Klassenfrage: die Mittelklasse ist für Remain, die Arbeiterklasse für Leave.“

Die Zeitungen und TV-Nachrichten sind derweil voller düsterer Voraussagen über einen „sehr britischen Putsch“, den Johnson plane. Nun habe ich allerdings im Nahen Osten, über den ich seit Jahren berichte, so manchen Putsch oder Putschversuch erlebt. Was wir gerade in Brexitland erleben, ist damit nicht vergleichbar – noch nicht. Ich frage einen linken Leaver in Dover, ob demnächst Blut fließen werde. Er meinte, ja, fügte dann aber hinzu, es sei eben der übliche britische Kampf „zwischen Wut und Apathie“.

Seit Anfang dieses Jahres bin ich quer durch das Vereinigten Königreich gereist. Ich wollte herausfinden, ob dem Land tatsächlich ein „nationaler Nervenzusammenbruch“ bevorsteht, wie es Sir Robert John Sawers, von 2009 bis 2014 Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI6, behauptet.

Sawers Aussage trifft wahrscheinlich auf die politische Klasse zu, die sich bereits in voller Auflösung befindet. Richtig ist aber auch, dass in der Bevölkerung die Bruchlinien, die der Brexit sichtbar gemacht hat, sehr tief sind und weiter vertieft werden, durch Hassgefühle und eine allgemeine Unzufriedenheit, die sich bereits seit Jahrzehnten aufgestaut haben.

Die Leute sind einerseits verunsichert, weil der Brexit noch nicht vollzogen ist, aber andererseits haben sie seine Folgen auch noch nicht am eigenen Leibe erfahren. Johnson könnte mögliche Unterhauswahlen durchaus gewinnen, indem er Labour-Führer Corbyn dämonisiert. Und auch weil die Remainer zerstritten sind. Aber egal wie die Wahlen ausgehen, die Verlierer würden das Ergebnis nie als legitim akzeptieren.

Großbritannien ist dabei, sich selbst zu zerlegen, Schritt für Schritt. Und ganz sicher ist die Bevölkerung tiefer gespalten als beim Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016. Damals hatten die Leute im entindustrialisierten Nordosten Englands mit deutlicher Mehrheit für „Leave“, also für den EU-Austritt gestimmt. In Newcastle sagte mir nun ein Brexit-Befürworter namens Alex Snowden: „Die Positionen sind weit stärker verhärtet und kompromissloser als noch vor drei Jahren.“ Der Brexit, meinte er, sei zum Vehikel für ganz andere Themen geworden, die weniger mit der EU und alles mit der englischen Identität zu tun hätten.

In anderen Gegenden von England und Wales fand ich diesen Befund bestätigt (während die Dinge in Schottland und Nordirland anders liegen). Die Leave-Stimmung ist das Ergebnis einer über die Jahrzehnte angewachsene Verdrossenheit: über die Entindustrialisierung unter Margaret Thatcher, über die Globalisierung unter Tony Blair, über die „Austeritätspolitik“ unter David Cameron und Theresa May.

Eddy Moreton, Musiker, Pub-Besitzer und überzeugter Remainer, berichtet über die Stimmung in den West Midlands. In der Stadt Walsall, aus der er stammt, hat es, „seit Thatcher vor 40 Jahren die verarbeitende Industrie kaputtgemacht hat, keinerlei Investi­tionen mehr gegeben.“ Das heutige britische Wirtschaftsmodell, das auf dem Finanzsektor basiert, habe den Menschen in Walsall nichts zu bieten. Denen sei es deshalb egal, wenn das Bruttoinlandsprodukt abnimmt, „denn es ist nicht ihr Bruttoinlandsprodukt“.

Das Brexit-Fußvolk besteht aus den Benachteiligten der britischen Gesellschaft, den „Abgehängten“ und „Ausgeschlossenen“. Was man in vielen Gesprächen erfahren kann – ob in den ehemaligen Bergbau- und Industrieregionen von Wales oder in den verwahrlosten Küstenstädten an der Themsemündung –, wird durch zahlreiche wissenschaftliche Studien über das Brexit-Referendum bestätigt. Innerhalb der jeweiligen Region waren die Distrikte mit einer Leave-Mehrheit stets auch die mit dem niedrigsten durchschnittlichen Bildungsniveau und dem höchsten Altersdurchschnitt. Neben diesen beiden Faktoren war nur noch einer wichtig: der Anteil der Immigranten.

Der höchste Anteil an Leave-Stimmen im gesamten Vereinigten Königreich wurde in einem Stadtteil von Middlesbrough in Nord-Yorkshire verzeichnet. Hier stimmten 82,5 Prozent gegen die EU, zugleich haben nur 4 Prozent der Bevölkerung einen Universitätsabschluss – weniger als irgendwo sonst in England oder Wales.

Warum diese Leute wütend sind, kann man gut verstehen. Aber warum sehen sie den Sündenbock in der EU? Ist es nicht unfair, Brüssel für Handlungen und Unterlassungssünden verantwortlich zu machen, die in Wahrheit auf das Konto der britischen Regierung gehen? Das mag schon sein, antwortete mir Graham Simmonds, ein unabhängiger Stadtverordneter in Caerphilly, Südwales, „aber es ist eben die EU, an der die Leute ihre Wut auslassen“.

Die Feststellung dürfte zutreffen, aber dennoch halte ich die Beweggründe der großen Masse der Leave-Befürworter für hirnrissig und selbstzerstörerisch. Allerdings glaube ich auch, dass die Remainer beim Referendum von 2016 einen entscheidenden Fehler gemacht hat, den sie auch jetzt wiederholen: Sie präsentieren sich als die Partei eines zufriedenstellenden Status quo. „Better together“ lautete ihr tumber Slogan vor dem Referendum. Der zielte vornehmlich auf das Publikum in London und in Städten wie Birmingham, Newcastle und Cardiff, die von der Globalisierung profitiert haben.

Der Vizekanzler der Universität von Newcastle erklärte mir, warum er und seinesgleichen vom Ergebnis des Referendums überrascht wurden: „Das liegt am Umgang, den man hat. Die Leute an den Unis und in London haben nicht mitgekriegt, was die Leute in Sunderland und in Wales dachten.“

Aber es waren ja nicht nur die Opfer der Entindustrialisierung und der Globalisierung, die für den EU-Austritt gestimmt haben. Weitaus mysteriöser ist, warum große Teile der Mittel- und Oberklasse genauso denken, selbst wenn der Brexit ihren Interessen nachweislich zuwiderläuft.

Im ländlichen Herfordshire, das an Wales grenzt, unterhielt ich mich mit Großbauern, die auf Subventionen aus Brüssel angewiesen sind, aber dennoch für den Austritt stimmten, um der „monströsen Bürokratie“ der Europäischen Union zu entkommen. Sie sagten, sie wollten die Kontrolle über das Schicksal der Nation zurückzugewinnen.

Boris Johnson führt nun eine Regierung von Nationalisten, die mit der Leave-Kampagne von 2016 Karriere gemacht haben. Wie andere nationalistische Bewegungen, von der eines Donald Trump bis zu der eines Recep Tayyip Erdoğan, versammelt auch diese Menschen unterschiedlicher und gegensätzlicher Interessen im selben politischen Lager – von Plutokraten bis zu den Ärmsten der Armen.

Solche Regierungen halten sich oft erstaunlich lange an der Macht, indem sie die nationalistische Trommel rühren, Minderheiten verteufeln, eine fremdenfeindliche Stimmung kultivieren und als Antwort auf die Krisen, die sie selbst ausgelöst haben, zunehmend autoritäre Lösungen vorschlagen.

Ob dieser Schachzug in London genauso gut funktioniert wie in Washington, wage ich zu bezweifeln. Der britische Staat ist fragiler und verfügt über weniger Ressourcen als die USA. Bei meinen Reisen hatte ich mehr und mehr das Gefühl, dass der englische Nationalismus eine größere Dosis an Illusionen, Wunschdenken und Nostal­gie enthält als die von vielen verspottete Nationalismus-Version Trumps.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Leave-Anhänger das Argument schlucken, die Briten hätten in ihren Verhandlungen mit der EU nur deshalb den Kürzeren gezogen, weil die 27 EU-Staaten politisch und ökonomisch immer am längeren Hebel sitzen. Sie neigen eher dazu, den britischen Misserfolg auf mangelndes Engagement oder gar auf Verrat ihrer eigenen Politiker zurückzuführen.

„Die Leute sagen, wir haben es früher geschafft, wir werden es wieder schaffen“, erzählt David Hardman, der früher für Labour im Stadtrat von Newcastle saß. „Aber wir sind nicht mehr konkurrenzfähig, was Ausbildung und berufliche Fähigkeiten betrifft. Wir haben schlicht keinen Wettbewerbsvorteil zu bieten.“

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Patrick Cockburn, geboren in Irland, ist derzeit Nahostkorrespondent des Independent.

© LMD, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.09.2019, von Patrick Cockburn