Avantgarde der Tugend
von Serge Halimi
Muss man, um echten „Widerstand“ gegen den US-amerikanischen Rassismus zu leisten, die Wandmalereien eines kommunistischen Künstlers zerstören, die während des New Deal in Auftrag gegeben wurden? Diese Frage klingt besonders absurd, weil der Zyklus der 13 Bilder von Victor Arnautoff mit dem Titel „Life of Washington“ einen explizit antirassistischen Inhalt hat.
Als die Bilder 1936 entstanden, waren sie geradezu revolutionär: Sie prangern die Gründerväter der Verfassung, darunter George Washington an, deren hehre Bekundungen sie als Heuchelei entlarven. Dennoch hat die Schulkommission von San Francisco am 25. Juni einstimmig beschlossen, den Bilderzyklus an den Wänden der George Washington High School zu übermalen.
Dabei ist das Werk von Arnautoff alles andere als eine Huldigung des ersten US-Präsidenten, wie man es angesichts des Namens der Schule vermuten würde. Der Künstler besaß vielmehr die Respektlosigkeit, George Washington als Sklavenhalter darzustellen, und seine Rolle als Anstifter der ersten Vernichtungsfeldzüge gegen die indianischen Ureinwohner zu thematisieren.
Diesmal war es freilich nicht Donald Trump mit seinen cholerisch-rassistischen Tweets, der die Entfernung von Fresken eines Malers forderte, der 1963 in sein Geburtsland zurückkehrte, das inzwischen zur Sowjetunion geworden war. In San Francisco haben sich andere als Inquisitoren aufgespielt.
Der Beschluss der Schulkommission wurde von einer 13-köpfigen „Gruppe für Reflexion und Handeln“ verbreitet, die Arnautoffs Bildzyklus schlankweg als Glorifizierung alles Bösen darstellte, also von „Sklaverei, Genozid, Kolonialisierung, weißem Sendungsbewusstein und Überlegenheitsanspruch, Unterdrückung und anderem mehr“.
Eine solche Interpretation entbehrt jeder Grundlage. Der „sozialistische Realismus“, von dem Arnautoff beeinflusst war, setzt auf klare Botschaften und lässt keinerlei Raum für hintergründige Aussagen. Die Entscheidung musste also anders begründet werden: Da auf einem der Bilder zu sehen ist, wie die Siedler über die Leiche eines Ureinwohners hinweggehen, könnte dieser Anblick „die Schüler und die Mitglieder der Community traumatisieren“.
Das wirft weitreichende Fragen auf. Soll man an Sklaverei und Genozid erinnern oder soll man solche dunklen historischen Kapitel vergessen? Und wie will man verhindern, dass ein Künstler, der die Geschichte eines Landes erzählt, die „Mitglieder der Community“ verstört? Die übrigens tagtäglich mit brutalen Szenen konfrontiert sind, und zwar fiktiven wie realen. Und was ist mit Picassos „Guernica“ oder Goyas „Erschießung der Aufständischen“? Sind diese Kunstwerke nicht ebenso gewalttätig und traumatisierend?
Im Moment beschäftigt die Kontroverse von San Francisco vor allem die Fraktion der US-amerikanischen Linken, die in Fragen der Identitätspolitik zu einem Überbietungswettbewerb neigt. Da diese Avantgarde der Tugendhaftigkeit einige ihrer Marotten schon erfolgreich verbreitet hat, sollten wir gewarnt sein.⇥Serge Halimi