08.08.2019

Brief aus Bagdad

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Brief aus Bagdad

von Meret Michel

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Seit zwei Jahren hat die Teestube von Mazen Abu Zahraa rund um die Uhr geöffnet. Das ist nicht immer gut fürs Geschäft, denn nachmittags, wenn die Sonne auf die Straßen des Bagdader Karrada-Viertels knallt und die Temperaturen im Schatten über 45 Grad steigen, schlürfen hier nur ein paar alte Männer ihren süßen schwarzen Tee. Erst wenn die Dunkelheit die Hitze erträglich macht, füllen sich die Plastikstühle und Bänke, die über den gesamten Gehsteig verteilt stehen. Junge und alte Männer sitzen in Gruppen zusammen, trinken Tee und rauchen Shisha.

Vor allem aber zeigen die neuen Öffnungszeiten des „Kahwa“, wie sehr sich Bagdad in den letzten Jahren verändert hat. Spätestens seit Dezember 2017, seit der IS im Irak offiziell besiegt ist, explodieren nur noch selten Autobomben, und die Entführer halten sich augenscheinlich zurück. Die Betonmauern, die die Regierung einst zwischen den sunnitischen und schiitischen Vierteln hochziehen ließ, um die Bewohner vor Angriffen von Milizen und religiösen Extremisten zu schützen, werden nach und nach abgerissen. Auch die nächtliche Ausgangssperre wurde aufgehoben. Sogar die hochgesicherte Grüne Zone, die die Amerikaner nach ihrem Einmarsch in Bagdad rund um den Sitz der irakischen Übergangsregierung 2003 im Stadtzentrum eingerichtet hatten, wurde im Dezember 2018 teilweise, im Juni 2019 dann vollständig für den Verkehr geöffnet.

Bevor ich das erste Mal nach Bagdad gereist bin – im Februar 2019 – wusste ich nicht, was mich erwarten würde. „Bagdad ist easy“, versicherte mir ein Freund, ein deutscher Fotograf, der seit Anfang des Jahres in der Stadt lebte. Was auch immer das heißen sollte. Bagdad galt schließlich über Jahre als eine der gefährlichsten Städte überhaupt; es ist noch nicht lange her, dass man beinahe täglich Meldungen über Bombenanschläge lesen konnte. Lange war an kaum einem anderen Ort auf der Welt das Entführungsrisiko – besonders für Ausländer – so hoch wie hier. Das Auswärtige Amt warnt bis heute: „In Bagdad ist weiterhin mit schweren Anschlägen zu rechnen. Es besteht ein hohes Maß an krimineller Gewalt und das Risiko von Entführungen, auch für Ausländer.“

Natürlich trifft man Sicherheitsvorkehrungen. Die von meinem deutschen Kumpel sehen so aus: Erstens achtet er auf allen seinen Wegen auf verdächtige Anzeichen. Zweitens lässt er sich von Taxifahrern nie unmittelbar vor der Haustür absetzen. Drittens nimmt er nachts – wenn möglich – überhaupt kein Taxi (weil die Fahrer dann häufig betrunken sind), sondern nutzt die App Careem, eine arabische Version von Uber.

Vor allem wenn man sich im Stadtzentrum bewegt, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie gefährlich Bagdad bis vor Kurzem noch gewesen sein muss: In Karrada reiht sich ein Laden an den nächsten, jeden Monat eröffnen neue Cafés und Restaurants. Selbst nach Mitternacht bummeln die Leute durch die Straßen, an Grillständen vorbei, wo fette Fische aufgeschnitten über dem Feuer hängen. Wenn man sich unter Irakerinnen und Irakern umhört, welches die größten Probleme des Landes sind, sagen die meisten: die Parteien, die Korruption, die Arbeitslosigkeit. Und die Sicherheitslage? Die war seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein vor 16 Jahren noch nie so gut wie heute.

Zwar ist den Irakern bewusst, dass sich die Lage sehr schnell wieder verschlechtern kann. Doch wenn man sie danach fragt, spricht kaum jemand über seine Angst. Stattdessen prangert man die politischen Ränkespiele an, die für die Gewaltausbrüche in den letzten Jahren verantwortlich seien. „Sind sich die Parteien einig, so wie jetzt, bleibt es ruhig“, sagt ein junger Mann, den ich auf einer Brücke treffe, wo viele Bagdader ihre freien Abende verbringen. „Sobald sie erneut anfangen zu streiten, explodieren auf der Straße wieder Autobomben.“

Kürzlich saß ich mit einem irakischen Freund, der schon vor zehn Jahren in die USA ausgewandert ist, in einem Park am Ufer des Tigris, gegenüber die Palastanlagen der Grünen Zone. Es war nach Mitternacht, wir tranken Bier – allein das kam ihm schon surreal vor. Im nahen Wasser quakten Frösche, nur von fern hörten wir das Rauschen des Verkehrs. Ein irrer Ort: Um uns herum der überall im Park verstreute Abfall, im Blick die protzigen Bauten, die Saddam Hussein noch kurz vor seinem Sturz errichten ließ. Als ob sich Bagdad hier in seiner ganzen Widersprüchlichkeit offenbart: Prunk und Trash, die Ruhe mitten in der Stadt, der Alkohol, der in der Öffentlichkeit verboten ist.

Während des Bürgerkriegs arbeitete mein Kumpel für einen Fernsehsender, der seinen Sitz im Sheraton-Hotel hatte. Das Hotel liegt direkt hinter uns. Damals, erzählt er, war es häufig Ziel von Raketenangriffen. Man merkt, das neue friedliche Bagdad ist noch sehr ungewohnt für ihn.

Nur wenige kommen nachts hierher ans Ufer. Nach zwölf schleichen lediglich ein paar einsame Typen herum – vermutlich vom Geheimdienst, tippt mein Freund. Und dann ist da noch der Mann, der ein paar Meter entfernt von uns auf einer Mauer sitzt, Bier trinkt und aus einer Plastikschale Bohnen isst. Vielleicht ein Taxifahrer, der gerade seine Schicht beendet hat. Irgendwann kommt er zu uns rüber und bietet uns von seinen Bohnen an. In seiner Hosentasche steckt eine Pistole, als traue auch er dem Frieden noch nicht ganz.

Mein Freund kommt nicht gern nach Bagdad zurück, auch wenn er seine Familie und seine Freunde vermisst – er empfindet die Stimmung in der Stadt einfach als zu bedrückend. „Jeder hier hat eine posttraumatische Belastungsstörung“, sagt er. Die meisten Irakerinnen und Iraker würden das insgeheim wahrscheinlich bestätigen. Aber wenn man sie direkt darauf anspricht, wiegeln sie ab: „Alhamdulillah, wir leben.“

Am nächsten Abend sitzen wir bei Abu Zahraa und es ist wie jeden Abend so laut, dass man beinahe schreien muss, wenn man sich unterhalten will. Abu Zahraa ist eine Institution in Karrada. Während all der Jahre der Gewalt war sein Lokal eines der wenigen, die jeden Tag geöffnet hatten. Die meisten Wirte machten im Laufe der Jahre ihre Läden dicht, erzählt er, viele verließen Bagdad Richtung Syrien, Libanon oder Jordanien.

Abu Zahraas Teestube liegt an der belebten Hauptstraße des Viertels. Das Nationaltheater ist nur wenige Minuten Fußweg entfernt – sicherlich einer der Gründe, warum dieser Ort zum Treffpunkt der Bagdader Intelligenzia geworden ist: Filmemacher, Theaterregisseure, Dichter, Aktivisten, sie alle treffen sich bei Abu Zahraa.

Nur einmal war die Teestube in den letzten 16 Jahren geschlossen. 2014 war das, nachdem sie Ziel eines Anschlags geworden war. Neun Menschen starben, darunter Abu Zahraas Bruder. „Es war ein schwarzer Tag“, sagt er, als ich mich an einem Nachmittag mit ihm vor der Teestube treffe. Abu Zahraa ist nicht der Typ der großen Worte. „Nach einem Monat haben wir wieder aufgemacht“, sagt er nur. Sie hätten den Schutt weggeräumt, neue Bänke und Plastikstühle angeschafft. Und hatten von da an wieder jeden Tag geöffnet.

„Es gibt keine andere Stadt auf der Welt, in der eine halbe Stunde nach einem Anschlag die Leute wieder auf die Straße gehen und weitermachen, als wäre nichts geschehen“, beschreibt Tahrir Alasadi, Regisseur am Nationaltheater, die Mentalität der Bagdader. Nicht dass sie keine Angst gehabt hätten. Viele von ihnen bewegten sich jahrelang nur zwischen ihrem Zuhause und dem Arbeitsplatz, und verbrachten so wenig Zeit wie möglich draußen. Dennoch habe sich die Gesellschaft auf beinahe unheimliche Weise daran gewöhnt, mit der Gefahr zu leben. Weiterzumachen.

Alasadi sitzt an jenem Abend auf einer Bank vor der Teestube, über ihm hängt ein Fernseher, in dem gerade ein Fußballspiel läuft. Aus dem Regisseur spricht die Melancholie eines Kulturschaffenden, der es gewohnt ist, auf einer Metaebene über die Gesellschaft nachzudenken, und der zugleich selbst ein Betroffener ist. 2016, wenige Stunden nach dem wohl größten Anschlag des IS in Karrada, bei dem über 300 Menschen getötet wurden, seien er und seine Frau an den Ort der Explosion gegangen. „Für drei Stunden standen wir einfach nur da und haben geweint um die Menschen, die gestorben sind.“

Tahrir Alasadi schaut jeden Tag zweimal bei Abu Zahraa vorbei. Seine Wohnung liegt ganz in der Nähe. Jeden Morgen vor der Arbeit und am Abend auf dem Weg nach Hause setzt er sich kurz in die Teestube. Vor ein paar Jahren hat sie ihn sogar zu einem Theaterstück inspiriert: „Al-Maqha“ – das Café.

Die Teestube wird darin zum Spiegel der Zeit, in dem mit jedem Jahrzehnt das Figurenpersonal wechselt. In den Siebzigern ist der Protagonist Kommunist und Gegner des Baath-Regimes. In den Achtzigern steht ein Soldat im Mittelpunkt, der im ersten Golfkrieg gegen Iran kämpft. In den Neunzigern ist es ein normaler Bürger, der wegen der Sanktionen der Amerikaner Hunger leidet. Und in den nuller Jahren ist die Hauptfigur ein junger Mann, der ein Mädchen liebt, das eine andere Re­li­gion hat als er.

Alasadi entschuldigt sich, er müsse jetzt nach Hause. Auch wir brechen kurz danach auf. Für uns ist es einer der letzten Abende in der Stadt, und wir wollen noch einmal an den Fluss, um Bier zu trinken und den Fröschen lauschen.

Meret Michel ist freie Journalistin und arbeitet im Nahen Osten. Sie reist regelmäßig in den Irak.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.08.2019, von Meret Michel