13.06.2019

Brief aus Caracas

zurück

Brief aus Caracas

von Toni Keppeler

Audio: Artikel vorlesen lassen

Man macht sich auf einiges gefasst, wenn man in diesen Tagen nach Venezuela reist. Ein Kollege legte mir nahe, ich möge doch Proviant mitnehmen. Eine Kollegin, die ein paar Wochen früher dort war, berichtete von stundenlangen Verhören am Flughafen. Ich hatte viel gelesen von einer sich zuspitzenden humanitären Krise und von einem diktatorisch regierenden Präsidenten Nicolás Maduro, der seine Macht einzig und allein den staatlichen Sicherheitskräften verdanke.

So flog ich also ein, von Bogotá kommend, wo ich die Tage zuvor verbracht hatte. Es gab nicht viel Auswahl an Verbindungen; kaum eine interna­tio­nale Fluggesellschaft steuert noch Caracas an. Ich wählte Avior, einen kleinen venezolanischen Luftfahrtbetrieb, für dessen Flotte der Luftraum der Europäischen Union wegen Sicherheitsbedenken gesperrt ist. Die ohnehin vorhandene Nervosität wurde dadurch noch gesteigert.

Die Sitzreihen waren nur spärlich besetzt, wer will schon nach Venezuela in diesen Zeiten? Der Flug startete pünktlich und verlief ohne Probleme. Die Einreise auch. Ich kam während einer der vielen Stromausfälle auf dem internationalen Flughafen Simón Bolívar an der karibischen Küste an. Die mechanischen Rüssel, die normalerweise für den Ausstieg der Passagiere an die Flugzeugtür geflanscht werden, funktionierten nicht. Wir mussten die Maschine über eine wacklige Stiege verlassen.

Das Flughafengebäude lag ohne Strom in einem matten Schummerlicht, das durch die getönten Scheiben drang. Die Rolltreppen standen still, die Computerbildschirme der Grenzpolizei waren schwarz. Die Beamten kopierten die Daten aus dem Pass von Hand auf ein Stück Papier. Auch die Röntgenapparate der Zollkontrolle waren außer Betrieb, und so dauerte es keine zehn Minuten, bis ich vom Flugzeug draußen auf der Straße war. Bei der Einreise nach Kolumbien ein paar Tage zuvor hatte ich geschlagene zwei Stunden in Warteschlangen und mit Befragungen verbracht.

Auch sonst ist vieles anders, als ich es erwartet hatte. Während der Fahrt hinauf ins 900 Meter höher gelegene Caracas und auch in der Hauptstadt selbst sah ich am ersten Tag keinen einzigen Soldaten und keinen Polizisten. Die einzigen Uniformierten waren private Wachmänner vor Einkaufszentren und Ladengeschäften. Als ich ein gutes Jahr früher in der Erdölregion von Maracaibo war, wurde man auf so einer Strecke von gut zwanzig Kilometern wenigstens zweimal von Militärs angehalten, musste die Papiere zeigen, den Kofferraum öffnen, und wenn ein Koffer drin war, auch noch den. Statt Soldaten standen nun Trauben von Menschen am Straßenrand – überall dort, wo Wasser in kleinen Rinnsalen aus den Hängen tritt. Sie fingen es in Flaschen und Kanistern auf. Mit dem Strom war in großen Teilen der Hauptstadt auch die Wasserversorgung ausgefallen.

Etliche haben die Wasserknappheit zum Anlass für einen Ausflug aufs Land genommen. Nach Araira zum Beispiel, einem Dorf eine Autostunde östlich von Caracas, durch das der klare Río Araira fließt. Am Ufer standen Autos geparkt, Kinder badeten in aufgestauten Tümpeln, während die Mütter Wäsche wuschen und die Väter Wassertanks füllten.

Keine hundert Meter vom Ufer entfernt betreibt Wendy Vior auf der Terrasse eines Häuschens eine improvisierte Kneipe. Die Flasche Bier kostet dort umgerechnet ein bisschen weniger als einen Euro. Es ging viel davon über den Tresen an diesem Nachmittag, kaum ein Mann ging unter drei Flaschen von der Terrasse. Nach sieben Flaschen hat man einen monatlichen Mindestlohn vertrunken. Sie wisse auch nicht, wie die Leute das machten, wunderte sich Wendy. Manchmal habe sie ein schlechtes Gewissen, wenn sie zum Trinken animiere. Aber Geschäft sei nun einmal Geschäft.

An den Wochenenden laufe es noch besser, erzählte sie. Da veranstalte sie Hahnenkämpfe oder Pferderennen mit den jungen Männern aus der Gegend. Da werde nicht nur viel Bier getrunken, es werde auch viel Geld verwettet, trotz der Krise. Aber das Risiko, Geld zu verlieren, ist beim Wetten eher kleiner, als wenn man es auf die Bank bringt. Die Inflation von fast zwei Millionen Prozent hat es dort schnell aufgefressen. Beim Wetten lockt immerhin ein Gewinn.

Man könnte an so einem idyllischen Nachmittag in Araira fast vergessen, dass man sich in dem Land befindet, das, so der Harward-Ökonom Kenneth Rogoff, weltweit den tiefsten wirtschaftlichen Absturz der vergangenen vierzig Jahre erlebt hat, ohne dass ein Krieg die Ursache dafür wäre. Tiefer noch als der von Kuba nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Auch im Zentrum von Caracas merkt man nicht allzu viel von der Krise. Nur wenige Läden sind geschlossen, die Fußgängerzonen gut frequentiert. Man sieht keine Bettler. Aber was sollten sie auch erbetteln? Es gibt so gut wie kein Bargeld, und die wenigen Scheine im Umlauf sind so gut wie nichts wert. Bankautomaten spucken umgerechnet höchsten zwanzig Cent aus, am Bankschalter bekommt man immerhin fast einen Euro. Bezahlt wird mit der Debitkarte, und selbst fliegende Straßenhändler haben ein Lesegerät dafür. Aber betteln mit einem Lesegerät für Plastikgeld, das wäre selbst für Venezuela zu absurd.

Man kann übrigens von der rasenden Inflation auch profitieren. Yudelcy Díaz hat es getan. Sie ist 33 Jahre alt und wohnt mit ihren drei Kindern – das jüngste gerade ein Jahr alt – in einer geräumigen hellen Vierzimmerwohnung in Guatire, einer Vorstadt im Osten von Caracas. Sie stammt eigentlich aus Araira, ihr Haus stand direkt am Fluss. Es wurde vor zehn Jahren bei einem fürchterlichen Hochwasser zusammen mit anderen weggerissen. Die Regierung – damals war Hugo Chávez noch Präsident – hat die Familie über Jahre in einem Hotel untergebracht.

Seit vier Jahren wohnt sie nun in Gua­tire, in einer Wohnung der misión vivienda, dem staatlichen Wohnungsbauprogramm. Sie kostete damals 460 000 Bolivares. Die eine Hälfte davon bezahlte der Staat, für die andere bekam sie einen zinslosen Kredit. Mit der Währungsreform vom vergangenen August wurden aus 100 000 alten Bolivares ein neuer Bolívar – und ihre Schuld schrumpfte auf 2,3 Bolivares. Das ist weniger als das Tausendstel eines Cents.

Auf Chávez lässt Yudelcy nichts kommen, der hat ihr die Wohnung verschafft. Und Maduro, der ihr mit der Hyperinflation die Schulden getilgt hat? Ach, sagt sie, Maduro sei „un bobo“. Das habe ich oft gehört, wenn ich nach dem Präsidenten fragte. Kaum jemand nannte ihn einen „Diktator“, fast alle einen bobo. Das Wort lässt sich am ehesten mit „Hanswurst“ oder „Dummkopf“ übersetzen und meint bestenfalls, dass Maduro völlig unfähig sei.

Yudelcy ist Friseurin. Ihren festen Job in einem Salon hat sie gekündigt, weil sie dort nur den gesetzlichen Mindestlohn verdient hat, umgerechnet rund sechs Euro im Monat. Nun bedient sie an den Wochenenden ihre Kundinnen zu Hause und verdient damit an zwei Tagen achtmal so viel wie früher an fünf. Dazu bekommt sie den sogenannten Clap. Die Abkürzung steht für einen Karton voller staatlich subventionierter Lebensmittel: Nudeln, Bohnen, Linsen, Reis, Zucker, Speiseöl ... Man komme damit gerade so über den Monat, sagt Yudelcy. Für den Clap bezahlt sie umgerechnet knapp zwanzig Cent.

Jeder, mit dem ich gesprochen habe, egal ob arm oder reich, bekommt dieses Paket. Zumindest in Caracas und Umgebung scheint die Verteilung zu funktionieren. Aus anderen Gegenden hört man auch Klagen. Für Frischwaren muss man auf die Märkte mit nicht regulierten Preisen. Die sind zwar viel besser bestückt, als ich erwartet hatte, die Preise aber sind gemessen an durchschnittlichen Löhnen astronomisch. Eine Frau, die zusammen mit ihrem Mann das Zweieinhalbfache des Mindestlohns verdient, erzählte mir, dass Obst und Gemüse für sie absoluter Luxus seien. Und wenn sie Zahnpasta kaufe, dann gebe es eben kein Shampoo und umgekehrt.

Vieles im heutigen Venezuela erinnert an die schlimmen Zeiten der período especial in den neunziger Jahren auf Kuba: Für das Überlebensminimum ist gesorgt. Alles, was darüber hinausgeht, ist für Lohnempfänger unerschwinglich. Nur diejenigen, die Überweisungen aus dem Ausland erhalten oder sich auf dem unregulierten und oft nicht ganz legalen Markt bewegen, haben es leichter. Und das sind immer mehr, weil immer mehr gehen und immer weniger eine formelle Arbeit haben. Aber ist das eine humanitäre Krise?

Doch, es gibt sie, ich habe sie zu Gesicht bekommen. Es war nicht leicht, und ich will nicht erzählen, wie ich in das onkologische Krankenhaus von Caracas gekommen bin, weil das eigentlich verboten ist. Das Gebäude ist gut in Schuss, es gibt sogar ein funktionierendes Notstromaggregat. Aber zwei Drittel der Betten sind leer, und das nicht, weil es keine Krebskranken gäbe. Wer sich dort behandeln lassen will, muss alles mitbringen, bis hin zu Wattetupfern und Einmalhandschuhen für die Chirurgen; von Medikamenten ganz zu schweigen. Eine Chemotherapie werde derzeit auf dem Schwarzmarkt für eine Million Dollar gehandelt, erzählte mir eine Krankenschwester. Ernsthaft krank werden sollte man hier nicht.

Ich habe zwar eine weltweit gültige Reisekrankenversicherung. Aber in Venezuela, da nützt sie derzeit gar nichts.

Toni Keppeler ist Journalist mit dem Schwerpunkt Mittelamerika (www.latinomedia.de).

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Toni Keppeler