Bangladesch ist gleich dort drüben
Indiens Grenze ist streng bewacht, doch der Schmuggel blüht von Elizabeth Rush
Westbengalen, Indien. In der Ferne gehen zwei Menschen die Grenze entlang, der eine in Orange, der andere in Weiß. Der erste rutscht die Böschung hinunter, streckt die Hand aus, hilft dem zweiten. Gemeinsam durchwaten sie, bis zur Hüfte in Wasserhyazinthen, einen schmalen Kanal. Fünfhundert Meter links von ihnen steht ein Abschnitt des berüchtigten Grenzzauns, aber hier ist nichts, nur die zunehmende Dunkelheit, die bald alles verschwimmen lässt. Die zwei Punkte klettern jetzt den Trampelpfad zum anderen Ufer hinauf. Dann sind sie fort, verschluckt von einem anderen Land. Kosten des Grenzübertritts: 500 bis 1 000 Rupien – je nachdem, wie nah sie den bestochenen Wachposten waren – für die einfache Überquerung.
„Bangladesch ist gleich dort drüben“, sagt Shoun und deutet auf eine Reihe Dattelpalmen. Ein Lächeln verwandelt die zarten Gesichtszüge des Jungen. „Ich bin stolz, hier zu leben, mit zwei verschiedenen Ländern vor Augen.“ Dabei war das Land, das der Junge als Ausland bezeichnet, lange Zeit ein Teil Indiens. Erst 1947 teilten die Briten die Gegend entlang einer Religionsgrenze: Die Muslime kamen auf die eine Seite (ins neu gegründete Pakistan), die Nichtmuslime auf die andere (Indien). Eine schludrige Grenze, das Werk von anderthalb Monaten Planung. Jetzt verläuft sie mitten durch ein Gebiet, in dem noch nie eine internationale Grenze war. Die Teilung der indischen Region Bengalen in Westbengalen und Ostpakistan – aus dem 1971 nach einem Unabhängigkeitskrieg Bangladesch wurde – zerriss eine regionale Kultur und ein wirtschaftliches Geflecht in zwei ungleiche Hälften. Während Indien sich zu einer mächtigen Industrienation entwickelte, blieben alle Bemühungen, in Bangladesch eine stabile, gegen Korruption gefeite Infrastruktur aufzubauen, vergeblich.
In den letzten 25 Jahren investierte Indien Milliarden Dollar in den Bau des längsten Grenzzauns der Welt. Jedes Jahr gibt das Innenministerium weitere 1,3 Milliarden aus, um diese ebenso kostspielige wie unwirksame Grenzanlage instand zu halten und das dafür nötige Personal bereitzustellen. Indiens berühmter Zaun, eine chinesische Mauer der Neuzeit, soll eine unüberwindbare Trennwand sein, um Bangladescher fernzuhalten. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. An vielen Stellen besteht der Zaun nur aus vereinzelten Grenzpfosten, zwischen denen ein paar Stränge Stacheldraht gespannt sind. Immer wieder bricht er ab und fängt neu an, pausiert sozusagen für ein paar Schritte, um durchzulassen, was hindurch will – Bauern, die das Niemandsland zwischen den beiden Ländern bestellen, Flüchtlinge, verkaufte Frauen und Kinder, Schmuggelware im Wert von Millionen Dollar, auf die halb Bangladesch angewiesen ist.
Das indische Parlament hatte bereits 1986 beschlossen, die Grenze zu Bangladesch mit einem Zaun zu befestigen – als Reaktion auf die wachsenden Ängste vor illegalen muslimischen Einwanderern, durch die die religiösen Mehrheitsverhältnisse in der Provinz Assam zu kippen drohten. Für den Bau, mit dem 1989 begonnen wurde, gab es zunächst nur wenig Geld. Erst als 1998 die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) an die Macht kam, wurde es ernst mit der „Sicherung“ der bengalischen Grenze. Mit aufgebauschten Zahlen zur illegalen Einwanderung von Bangladeschern hatte die BJP Wahlkampf gemacht und Hindus gegen muslimische Flüchtlinge aufgehetzt. Um den nationalistischen Eifer zu schüren, brachte die BJP das muslimische Bangladesch nicht nur mit indischer Arbeitslosigkeit, sondern auch mit Terroranschlägen innerhalb Indiens in Verbindung. Und als dann nach 9/11 der „Krieg gegen den Terror“ globale Dimensionen annahm, verwiesen indische Sicherheitsbeamte auf andere berühmte Zäune, die andere mächtige Demokratien, allen voran die USA und Israel, zu ihrem eigenen Schutz errichtet hatten.
Auf die Frage, wozu der Grenzzaun gut sein soll, antworten die Inder mit der Auflistung altbekannter Ängste: illegale Einwanderer, die ihnen die Jobs wegnähmen; landlose Flüchtlinge, die das religiöse und ethnische Gleichgewicht in einer ohnehin instabilen Region ins Wanken brächten; und grenzüberschreitender Terrorismus, der Bangladesch als Rückzugsgebiet für islamische Extremisten auf dem Weg zu Selbstmordattentaten in Mumbai nütze.
Aber ist Indien hinter seinem Zaun tatsächlich sicher vor den Feindbildern, die Teilung, BJP und 11. September heraufbeschworen haben? Der Zaun, von dem die Leute reden, ist eine Mär, sein Schutz basiert auf der irrigen Vorstellung, dass eine physische Trennung möglich ist. Was tatsächlich dort steht, ist das genaue Gegenteil, ein lückenhaftes, durchlässiges Gebilde – und ein Paradebeispiel dafür, dass die Not der Menschen sich sowohl über die staatliche Politik als auch über die konstruierten Selbstbilder hinwegsetzt.
Eine Reihe kleiner strohgedeckter Hütten säumt die gepflasterte Straße entlang des Zauns. Alle 300 Meter steht ein Wachhäuschen, und davor ist ein Uniformierter mit Gewehr über der Schulter postiert. Indiens Grenzschutz (Border Security Force, BSF) ist 240 000 Mann stark. Eine 3 000 Kilometer lange Kette von Grenzposten bewacht eine Linie, die vor einem halben Jahrhundert in den Sand gezogen wurde. Brigadegeneral Singh, ein Büroleiter, der seit 25 Jahren zum Grenzschutz gehört, behauptet steif und fest: „Nichts überquert diese Grenze. Kein Mensch. Keine Waren. Nichts.“
Aber die Menschen, die hier leben, erzählen eine andere Geschichte. Ein Viehhändler aus Lagola, einer kleinen Grenzstadt in Westbengalen, schätzt, dass hier rund 80 Prozent der Bevölkerung grenzüberschreitenden Handel treiben. In Äquatornähe bricht die Nacht sehr schnell herein, und in der Dunkelheit erwacht eine ganz andere Welt zum Leben. Auf einmal hallt das dumpfe Trappeln von Rinderhufen durch die Nacht. Schwarze Gestalten huschen durch Baumschatten. Einige Trampelpfade sind mit Kerzen beleuchtet. Improvisierte Menschenketten, oft Dutzende, wenn nicht hunderte Personen lang, schleusen Tag für Tag Schmuggelware im Wert von Millionen Dollar nach Bangladesch. Und die 240 000 Posten, deren Job es ist, Indien vor Eindringlingen zu schützen, verdienen nicht schlecht am Grenzverkehr, den sie eigentlich verhindern sollen.
„Indien und Bangladesch sind wie zwei Brüder, die getrennt wurden“, sagt Supriyo Sen, ein Filmemacher aus Bengalen, der für seine Dokumentarfilme über Indiens Grenzen zahlreiche Preise erhalten hat. „Vieles liebt man am eigenen Bruder. Aber manches hasst man auch.“ Vor hundert Jahren war Bengalen die Drehscheibe von Indiens geistiger Renaissance, das Zentrum der modernen indischen Identität. Doch der Reichtum, aus dem die Region – auch in ihrer Landwirtschaft – schöpfen konnte, war auf den ökonomischen Zusammenhalt der beiden Hälften von Bengalen angewiesen. Die Fabriken rund um die koloniale Hauptstadt Kalkutta (heute Kolkata) verarbeiteten die Rohstoffe aus dem Schwemmland, das heute Bangladesch ist.
Als Bengalen geteilt wurde, verloren die Bauern im Osten nicht nur einen Absatzmarkt für ihre Erzeugnisse, sondern auch die Möglichkeit, aus diesen Erzeugnissen verkäufliche Waren herzustellen. Die Fabriken, die einst aus Jutefasern Säcke herstellten und Baumwolle zu Fäden verspannen, standen auf einmal hinter der Grenze in einem anderen Land.
Auch der indische Bundesstaat Westbengalen war nach der Teilung mit ungeahnten Problemen konfrontiert. In Kolkata kam es wiederholt zu Nahrungsmittelengpässen. In den 1960er Jahren rief Indien die Grüne Revolution aus, eine Agrarinitiative, die auf die künstliche Bewässerung großer Flächen in Uttar Pradesh, Haryana und des Punjab setzte. Damit Indien seine industrielle Entwicklung vorantreiben konnte, mussten Teile des indischen Nordens den Brotkorb ersetzen, der verloren gegangen war, als aus einer Hälfte von Bengalen über Nacht ein anderes Land entstanden war.
Während 18 Prozent der offiziellen Importe Bangladeschs aus Indien kommen, stammt nur 0,1 Prozent der indischen Importe aus Bangladesch. Das mit Abstand wichtigste Exportgut im Handel mit Indien ist für Bangladesch nicht, wie die Geschichte vermuten ließe, Baumwolle oder Jute, sondern giftiger Ammoniakdünger. Insgesamt kann Bangladesch aber trotz der niedrigen und weiter rückläufigen Einfuhrzölle nicht mit Indiens billigen Arbeitskräften, seinen billigeren Rohstoffen und seiner erstaunlich guten Produktion mithalten. Bangladesch exportiert Kleidung und Rohstoffe für die Textilindustrie in die ganze Welt – nur Indien kauft dem Nachbarland fast gar nichts ab.
Lukrativer Handel mit heiligen Kühen
Bangladesch dagegen ist auf vieles, was aus Indien kommt, dringend angewiesen. Eines der kostbarsten Exportgüter Bangladeschs ist Leder – den Rohstoff dafür bekommt das Land fast ausschließlich aus Indien, und zwar in Form von lebenden Rindern. In weiten Teilen Indiens ist es verboten, Kühe zu töten oder auch nur über internationale Grenzen zu bringen. Doch trotz dieser ursprünglich religiösen Vorschriften, die inzwischen staatliches Gesetz geworden sind, gelangen auf wundersamen Wegen jeden Tag zehntausende Rinder nach Bangladesch.
„Der Schmuggel ist die zweitwichtigste Branche in Bangladesch“, sagt Aminul Ehsan, Pressesprecher der NGO Rupanar in Khulna, die gegen die Korruption und für eine sozial gerechte Entwicklung kämpft. „Sicher, es wird auch in Indien geschmuggelt, aber lange nicht so viel wie hier, wo er praktisch die Hälfte von allem ausmacht.“
In Indien ist es wie gesagt verboten, lebende Rinder zu exportieren. Doch eine indische Kuh wird, sobald sie im vorwiegend muslimischen Bangladesch ankommt, klammheimlich legal. Bei der Ankunft wird eine Steuer in Höhe von 500 Taka (etwa 7 Dollar) fällig, und das Tier gilt nicht länger als Schmuggelware. Für viele der ärmsten Bewohner von Bangladesch, vom ländlichen Viehhalter bis zum Arbeiter in der Lederindustrie von Dhaka, sind die Kühe überlebenswichtig. Rind „aus Bangladesch“ gibt es überall auf der Welt, ob als Filetsteak in Dubai oder Abu Dhabi, als Designerhandtasche in Paris oder als vermeintlich italienische Stiefel in den USA.
„Hier kommen die Kühe rüber“, sagt Korban Ud-Dui, der Leiter einer örtlichen Madrasa, und deutet auf das niedergetrampelte Gras an der Uferböschung. „Ein Mann bindet 10 bis 15 Kühe mit einem Strick zusammen und führt sie durch das Reisfeld. Er wartet den richtigen Zeitpunkt ab und schiebt sie dann in den kleinen Fluss, der Indien von Bangladesch trennt, schwimmt mit den Kühen hinüber, und wenn sie am anderen Ufer an Land gehen, sind sie legal.“
Anders als die Hirten, die zu beiden Seiten des Zauns nicht weiter auffallen, sind die – verglichen mit den bengalischen Rindern sehr großen – Kühe aus dem indischen Hochland unverkennbar Importware. In Bangladesch kann man sie für rund 40 000 Taka (500 Dollar) pro Stück verkaufen. Sie bringen im Schnitt 32 000 Taka mehr ein als ihre Artgenossen aus Bangladesch und sind rund sechsmal so viel wert wie in einem indischen Distrikt, wo sie nicht geschlachtet werden dürfen.
Die indische Gemeinde Lagola hat eine 27 Kilometer lange Grenze zu Bangladesch, von denen nur 7 Kilometer mit einem Zaun versehen sind. Aber auch den verzäunten Abschnitt können die Tiere relativ leicht passieren. Romjun, ein einheimischer Viehhändler, erklärt: „Wenn man an den Zaun kommt, braucht man nur einen Metallbecher mit Wasser an den Draht zu halten. Das Wasser im Becher dämpft das Geräusch, das entsteht, wenn man den Draht durchschneidet. So kommt man leicht auf die andere Seite. Ob mit oder ohne Zaun ist eigentlich egal, solange man die richtigen Leute schmiert.“
In Lagola laufen überall Kühe herum. Aber in Rajshahi in Bangladesch – einfach über den Fluss oder vielleicht durch den Zaun – ist der Viehhandel gang und gäbe. In vielen Grenzstädten von Bangladesch gibt es Viehmärkte (haats), die eigens eingerichtet wurden, um mit den zahllosen Rindern fertigzuwerden, die über die Grenze kommen. Auf dem City Haat (einer von insgesamt zehn Rindermärkten im Distrikt Rajshahi) werden jede Woche rund 3 000 Tiere verkauft, kurz vor dem muslimischen Opferfest Eid al-Adha sind es sogar 12 000.
Mohmat Atiqur Rahman ist der Pächter des City Haat, ein Privileg, für das er jährlich etliche Millionen Taka an die Regierung zahlt. Am Ort wird gemunkelt, Rahman habe vielleicht auch den einen oder anderen Rivalen um die Ecke bringen müssen, um diesen kostbaren Pachtvertrag zu erhalten. In einem Land, dessen Bruttoinlandsprodukt zu einem Großteil durch illegale Geschäfte zustande kommt, prägen Gewalt und Korruption unweigerlich jede noch so selbstverständliche Einrichtung. Der Pächter nimmt offiziell 3 Prozent Provision für jeden getätigten Verkauf – bei 3 000 Rindern wöchentlich ist das, wie die Bangladescher sagen, bohoot taka, ein Haufen Geld. Aber jeder in der Stadt weiß, dass die 3 Prozent Gebühr nur ein Bruchteil davon sind, was Rahman mit seinem City-Haat-Privileg am berühmten Viehkorridor von Bangladesch zu Geld macht.
Nurul Islam verkauft Chapati am Ghat, das ist ein Umschlagplatz am Fluss. Im Oktober letzten Jahres fing er an, über die Zahl der Rinder, die in Rajshahi ankamen, Buch zu führen. „Ich war frustriert, weil die Männer, die mit den Kühen das große Geld machen, von anderswoher kommen und das ganze Geld, das sie hier in Rajshahi verdienen, immer nur für sich behalten“, sagt Islam. Ein „Mafiaboss“, sagt er, einige sich mit dem Ghat-Pächter (ein ebenfalls von der Regierung vergebener Posten) und erwerbe das Recht, Vieh durch den Hafen zu befördern. Dann würden einheimische Männer angeheuert, die im Auftrag des Chefs nach Indien gehen, die Rinder holen und an den zuvor geschmierten Grenzposten vorbeischleusen.
Empört über das Geschäft, bei dem die lokalen Hirten das größte Risiko tragen und am wenigsten profitieren, haben Islam und sein Freund Eshamel eine improvisierte Kontrollstelle an den Stufen zum Fluss eingerichtet. Für jede Kuh, die hier durchkam, verlangten sie die Importbescheinigung zu sehen, aus der hervorgeht, dass die Einfuhrgebühr bezahlt worden ist. „Es war kurz vor Eid al-Adha, und von den gut 4 000 Kühen, die an einem einzigen Tag hier durchgeschleust wurden, konnte nur jede zweite Mann dieses Papier vorweisen. Nur so konnten wir beweisen, was für korrupte Geschäfte die hier machen“, sagt Islam.
Eine gefälschte Importbescheinigung kostet ungefähr ein Fünftel von der offiziellen. Die Mafiabosse geben den offiziellen Pächtern am Umschlagplatz ein bisschen Extrageld, damit sie ein Auge zudrücken, und besorgen sich die falschen Papiere am Haat – demselben Haat, wo Mohmat Atiqur Rahman für seinen Pachtvertrag wahrscheinlich nicht nur mit Geld bezahlt hat.
Dem Treiben von Islam und Eshamel haben die Herrscher über den Viehhandel von Rajshahi nicht länger als zwei Wochen zugesehen. „Dann rückten die Schläger an und brachten Eshamel auf eine kleine Insel im Fluss. Dort haben sie ihm die Hände und Beine gebrochen. Die Polizei rührte keinen Finger. Natürlich nicht – die sind ja auch gekauft. Eshamel war früher Ruderer. Jetzt kann er nicht mehr rudern, und er kann auch nicht mehr gehen“, sagt Islam und starrt hinüber zu der öden Sandbank im Fluss zwischen Indien und Bangladesch, wo Eshamel zusammengeschlagen wurde und wo im Morgengrauen wieder tausende Rinder herüberkommen werden.
In Bangladesch kann man keinen Stein werfen, ohne etwas zu treffen, das illegal über die Grenze gekommen ist – einen glitzernden Hochzeitssari, eine Prise Kreuzkümmel, eine Portion goru bhuna mit Reis. Dass Bangladesch von illegalen Importen aus Indien derart abhängig ist, nimmt dem Land jede Aussicht auf eine Entwicklung, die ohne das Geld aus dem Schwarzhandel auskommen müsste, das im ganzen Land kursiert. Im Fall von Nurul Islam war nicht nur die Polizei bestochen worden, sondern auch das zuständige Gericht.
Als Kinu Mia, der Mafiapate vom Viehmarkt in Rajshahi und der Mann, der Eshamel eine Lektion hatte erteilen lassen, mit Islam sprechen wollte, brauchte er lediglich einen Haftbefehl gegen ihn in Auftrag zu geben. Und die örtlichen Nachrichtenmedien lehnten es ab, über den Überfall auf Eshamel zu berichten. Im Kommissariat des 9. Distrikts ließ Kinu Mia Islam wissen: „Ich bin ein großer Fisch, und du ein Winzling. Sieh zu, dass du so klein bleibst, sonst zerleg ich dich in tausend Stücke und verteile sie auf einer Insel im Fluss.“
Trotz oder besser gesagt, passend zu dem ganzen illegalen, aber institutionalisierten Handel ist die Grenze zwischen Indien und Bangladesch eine der blutigsten der Welt. Laut Kirity Roy, dem Präsidenten der Masum Foundation mit Sitz in Kolkata, die zusammen mit Amnesty International gegen die außergerichtlichen Exekutionen entlang der Grenze von Westbengalen kämpft, werden an der Grenze durchschnittlich 13 Menschen am Tag gefoltert. Seit 2000 hat allein der indische Grenzschutz BSF im bengalischen Grenzland mehr als 1 000 Menschen getötet.
Begehrte Posten als Grenzschützer
Viele betrachten die allgegenwärtige Gewalt an der indisch-bangladeschischen Grenze als einen Kollateralschaden: Das sei eben unvermeidlich, wenn ein derart durchlässiges Grenzgebiet überwacht werden müsse. Doch angesichts millionenschwerer illegaler Geschäfte, an denen die Grenzwächter beteiligt sind, erscheint die Gewalt in einem ganz anderen Licht.
Am bezeichnendsten ist vielleicht, dass der Grenzzaun von Männern bewacht wird, die ebenfalls importiert sind, und zwar aus den 27 anderen Bundesstaaten Indiens. „Die BSF-Leute sprechen kein Bengalisch“, sagt Roy. „Das ist ein Riesenproblem.“ In der Regel sind die Männer zwischen drei Monaten und einem Jahr hier stationiert, damit sie nur ja keine Gelegenheit haben, mit den ortsansässigen Bengalen zu sympathisieren. Prostitution grassiert im Grenzland, die einheimischen Frauen, Inderinnen ebenso wie Bangladescherinnen, bezeichnen die Männer vom Grenzschutz als ihre besten Kunden.
Im Januar machte ein Video Schlagzeilen, das zeigte, wie BSF-Männer einem Viehhirten die Kleider vom Leib rissen und ihn zusammenschlugen. Zwar wurde kürzlich das Recht der BSF, ohne Vorwarnung zu schießen, wieder aufgehoben, aber die Grenzwächter gehen nach wie vor grundsätzlich straffrei aus.
Für die Gewalt an der Grenze werden normalerweise Langeweile, Rassismus, Machismus und nicht gezahlte Schmiergelder verantwortlich gemacht. Kaum jemand spricht von einer anderen, ebenso unabweislichen Tatsache: Indien schickt Wachposten in eine Gegend, deren Sprache sie nicht verstehen und deren Geschichte und Kultur ihnen fremd ist.
Die BSF und in geringerem Maße die BGB (Border Guard Bangladesh, die deutlich kleinere und weniger brutale Grenzschutztruppe von Bangladesch) könnten die illegalen Grenzübertritte tatsächlich reduzieren, wenn sie es denn wollten. Aber viele Grenzer haben für ihren Posten bezahlt, denn sie wissen genau, dass derjenige, der die Nulllinie bewacht, auch entscheidet, wer sie überschreiten darf. „Soldaten und Offiziere versuchen die Postenvergabe in Dhaka und Delhi zu beeinflussen, die kaufen sich die Posten an der Grenze. Denn wer dort stationiert ist, kann gutes Geld verdienen“, sagt ein Zollbeamter in Benapole, dem meistfrequentierten Grenzübergang von Bangladesch.
Was an der Grenze geschieht, hat mehr mit routinemäßiger Machtdemonstration zu tun als mit dem ernst gemeinten Versuch, den Grenzverkehr von Menschen und Waren zu stoppen. „Es ist eine einzige Farce“, sagte Aminul Eshan. „Die Wächter haben doch überhaupt nicht die Absicht, irgendetwas zu verhindern. Die Gewalt gegen Menschen, die arm und verzweifelt genug sind, um sich in dieses Kreuzfeuer zu wagen, ist eine Schande.“ Auf der einen Seite macht es die Grenze dank ihrer Durchlässigkeit möglich, dass einige Leute viel oder auch nur etwas Geld verdienen können, auf der anderen Seite wird sie wegen der hier herrschenden Gewalt für manche zum unüberwindlichen Hindernis.
Dieser Zaun soll anscheinend gar kein echter Schutz gegen den illegalen Grenzverkehr sein. Er verkörpert vielmehr Indiens Selbstbild als mächtiger zentralistischer Staat. Ein Land zu sein, das demokratisch und attraktiv genug ist, um so eine Grenzanlage zu brauchen – haben sie darauf nicht seit Jahrzehnten hingearbeitet?
Aus dem Englischen von Barbara Schaden Elizabeth Rush ist Autorin und Fotografin, siehe auch www.elizabethrush.net.
Fatale Staudämme
Das Ganges-Brahmaputra-Delta ist eine der fruchtbarsten Regionen der Erde. Nachdem Indien durch die Teilung zwei Drittel dieses Schwemmlands verloren hatte, wurden in den Bundesstaaten Bihar, Haryana und Uttar Pradesh großflächige Bewässerungsanlagen gebaut. Doch die entziehen dem Ganges inzwischen so viel Wasser, dass an seinem Unterlauf riesige Ackerflächen austrocknen.
Nur acht Kilometer nördlich der Grenze zu Bangladesch lenkt der Farakka-Staudamm seit 35 Jahren immer mehr Ganges-Wasser in den Fluss Hugli um. Der schlampig gebaute Staudamm sollte ursprünglich den Hafen von Kolkata, der Hauptstadt Westbengalens, von Sand und Schlick befreien. Wegen der unüberlegten Wassernutzung stromaufwärts, in Verbindung mit dem größenwahnsinnigen Versuch, der Versandung in Kolkata Einhalt zu gebieten, ist im gesamten Südwesten von Bangladesch der Grundwasserspiegel gesunken und der Salzgehalt der Flüsse gestiegen. Der indisch-bangladeschischen Joint Rivers Commission zufolge kommt aufgrund der Wasserentnahme durch Indien hinter dem Farakka-Staudamm nur noch die Hälfte der natürlichen Wassermenge des Ganges an.
Während die Bewässerung und Umleitung flussaufwärts die Menge des in Bangladesch verfügbaren Wassers reduzieren, führen diese flussabwärts paradoxerweise zu Überschwemmungen und zur Bodenerosion der Ufergebiete: Weil das Wasser nicht mehr schnell genug fließt, um sein Bett kontinuierlich von Versandung freizuhalten, wird der Lauf des Ganges zunehmend unvorhersehbar und zerstörerisch.
Die Erosion am Ganges gilt vielen als zweitwichtigste Ursache für die Armut in Bangladesch – nach der Korruptheit der Regierung. Laut einer Studie des Ispan (Irrigation Support Project for Asia and the Near East) werden jedes Jahr etwa 70 000 Bangladescher infolge der Erosion der Flussufer ins Ganges-Brahmaputra-Becken abgedrängt. Viele fliehen deswegen nach Indien.
„Ich würde schon gern nach Indien gehen“, sagt der fünfzehnjährige Faharul aus Bangladesch. „Das Land ist stabil, und man hat dort mehr Möglichkeiten.“ Letztes Jahr hat eine Überschwemmung in Faharuls Dorf fast 600 Häuser zerstört. Als das Wasser wieder abgeflossen war, blieb eine feine Sandschicht zurück und verwandelte die zuvor fruchtbaren Böden in eine dürre Landschaft. Diese Wüste müssen die Bauern aus Allatoli jetzt zu Fuß durchqueren, bis sie Land erreichen, das fruchtbar genug für den Anbau von Linsen ist. „Daran ist der Farakka schuld“, sagt ein älterer Dorfbewohner, der solche Überschwemmungen schon zweimal erlebt hat.
Von den 59 größeren Flüssen, die nach Bangladesch fließen, kommen 54 über Indien. Derzeit plant Indien zehn Kilometer von der Grenze entfernt ein gewaltiges Wasserkraftwerk. Bangladesch befürchtet ähnliche Folgen wie beim Farakka-Staudamm. Doch Indien weigert sich auch diesmal, die Planung mit dem Nachbarland abzustimmen.