07.03.2019

Die Häresie der Anderen

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Die Häresie der Anderen

von Daniel Gerlach

Von Schiiten verwüstete sunnitische Moschee in Beirut, 2010 BILAL HUSSEIN/ap
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Manchmal stecken Feinschmecker dahinter, meistens aber Indus­trieverbände: Um den Genuss bestimmter Nahrungsmittel zu steigern, ruft man ständig neue Ak­tions­tage aus. Der „Welt-Vegetarier-Tag“ am 1. Oktober ist seit 1977 eine feste Größe im kulinarischen Kalender. In Deutschland gibt es sogar einen „Tag des deutschen Butterbrotes“, den aber fast niemand kennt. Und am 18. Juni begehen wir – zum Leidwesen bedrohter Thunfische – den internationalen „Sushi Day“.

Zu diesem Anlass tauchte 2014 in den sozialen Netzwerken ein Fami­lien­foto aus dem Irak auf. Es ging so viral wie sonst nur die Selfies amerikanischer Reality-Stars und ihrer jeweiligen Hinterteile. Erstaunlich: Da saß ein Mädchen mit seinen Eltern auf einer Couch. Alle drei hielten Schilder in die Kamera. Bei der Mutter stand „I am Sunni“, beim Vater „I am Shia“. Bei der Tochter „I am Sushi“.

Dass man einen Bilderwitz nicht kommentieren muss, ist noch kein Erfolgsgarant auf Twitter, Facebook oder Instagram. Aber dieser gab wahrscheinlich das Lebensgefühl von Mil­lio­nen Muslimen wieder – besonders im Irak, wo der schiitisch-sunnitische Gegensatz einen mörderischen Konflikt befeuert hat, obwohl kon­fes­sions­über­grei­fende Ehen dort lange Zeit an der Tagesordnung waren und nach Schätzungen über 2 Millionen von insgesamt über 6 Millionen irakischen Familien sushi sind. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass ein findiger Nutzer das Bild frisiert hatte – auf dem Schild des Mädchens stand ursprünglich nur „I am Muslim“. Die Botschaft wurde dadurch erfolgreicher, aber keineswegs verfälscht.

Der Begriff Sushi, der in dieser Verwendung bereits 2011 in einem muslimischen Blog aus den USA auftauchte, ist inzwischen weit über Fachkreise hinaus bekannt. In Teilen der arabischen Welt gilt es bis heute eher als unfein, Menschen auf ihren konfessionellen Hintergrund anzusprechen, zumal bei Sunniten und Schiiten, die ja beide Muslime sind. Der Trendbegriff Sushi lockert die Debatte allerdings ein wenig auf. Er ist eine Reaktion auf den grassierenden konfessionellen Hass, den insbesondere dschihadistische Gruppierungen verbreiten, aber auch Regierungen mit ihrer Politik in der Region befördern.

Die britisch-irakische Regisseurin Hoda al-Soudani griff das Thema auf und schickte in dem rührseligen Dokumentarfilm „Why can’t I be Sushi?“ zwei Schwestern auf die Reise. Sofia und Niamh, beide im Grundschulalter, treffen darin Reli­gions­gelehrte, Schiiten ebenso wie Sunniten. Sie befragen die turbanbewehrten Alleswisser nach dem angeblich so bedeutenden Unterschied und kommen – selbstredend – zu dem Schluss, dass doch die Gemeinsamkeiten überwiegen.

Etwas robuster geht es in einer TV-Serie zu, die 2016 ausgerechnet vom wahhabitischen Königreich Saudi-Arabien koproduziert wurde, einem Land, in dem die schiitische Minderheit bisher nicht gerade einen leichten Stand hatte. In Selfie nimmt der Schauspieler und Comedian Nasser al-Qosaibi die Extremisten der Organisation „Islamischer Staat“ aufs Korn. Am Anfang des Plots steht die Geschichte zweier Väter: Beide – der eine Schiit, der andere Sunnit – erfahren nach Jahren, dass ihre Söhne auf der Säuglingsstation vertauscht wurden, und setzen nun alles daran, ihrem Nachwuchs die jeweilige Häresie des anderen auszutreiben und ihn zurück auf die gerade Bahn zu bringen. Al-Qosaibi erhielt Todesdrohungen dafür, aber viele Saudis fanden es anscheinend trotzdem lustig und bescherten der Serie einigen Erfolg.

Die Erörterung der Frage, was es eigentlich mit den Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten auf sich hat, ist mehr als abendfüllend. Man fühlt sich beinahe an den Trojanischen Krieg erinnert: nicht etwa, weil die Schlachtfelder mit gefallenen Helden übersät wären – sunnitisch-schiitische Kriege wurden in der Geschichte gar nicht so oft geführt –, sondern weil mancher, selbst unter den Beteiligten, doch eine Weile überlegen müsste, wie die Sache eigentlich angefangen hat. Und warum sie eskalierte.

Aus nahöstlicher Perspektive lässt sich die Ausgangslage in etwa so beschreiben: Es herrscht dort heute vielerorts die Überzeugung, dass, wenn es zum Schwur kommt und wenn Entscheidungen auf Leben und Tod anstehen, ein Sunnit nur mit einem Sunniten solidarisch sein könne, ein Schiit nur mit einem Schiiten, ein Kurde nur mit einem Kurden. Daraus folgt das Bestreben, potenziell feindselige Taten vonseiten anderer Gruppen schon im Voraus zu vereiteln: Angriff scheint auch hier die beste Verteidigung.

Im Englischen bezeichnet man dieses Weltbild und das daraus resultierende Verhalten als sectarianism, abgeleitet von sect für voneinander abweichende Glaubensgruppen. Der spalterische Drang kommt darin gut zum Ausdruck, ebenso das gewissermaßen Faktenschaffende und Normative: Sectarianism ist keine Organisationsform eines Gemeinwesens, sondern vor allem eine von Vorurteilen, Ressentiments oder sogar Hass geprägte Geisteshaltung.

Die Araber sprechen von ta’ifiya oder auch tatayuf, wobei Ersteres für den Zustand steht, das Zweite eher für dessen aktiven Gebrauch, indem man nämlich jedes politische Problem „konfessionalisiert“, Gemeinschaften innerhalb eines Staatswesens spaltet, sie gegeneinander ausspielt und sich konfessionelle oder ethnische Ressentiments machtpolitisch zunutze macht. Jemand, der die Menschen einer nahöstlichen Gesellschaft nur als Sunniten und Schiiten, Drusen, Alawiten oder Christen betrachtet, gilt als tai’fi.

Besonders ist dabei, dass die tai’fa (Plural tawa’if) heute nicht nur reli­giö­se Gemeinschaften umfasst, sondern auch kulturelle oder sogar ethnische, je nachdem, worin man die stärkere innere Kohäsionskraft sieht: In Sy­rien oder im Irak etwa spricht man von Alawiten, Christen, Schiiten und Sunniten ebenso als tawa’if wie etwa von Armeniern, wobei Letztere weniger als eine Nation, sondern mehr als eine – christliche – Konfessionsgemeinschaft betrachtet werden.

Tai’fa bedeutet ursprünglich so etwas wie „Schwarm“ oder „Strömung“. Das Konzept der tai’fa, eigentlich wohl einfach als Gemeinschaft oder community zu verstehen, war zunächst eher religiös konnotiert, vor allem aber deshalb, weil in der arabischen und islamischen Geschichte die religiösen Zugehörigkeiten weitgehend identisch mit sozialen oder kulturellen waren.

Ethnische Kategorien oder Volksgruppen kennt die arabische Sprache eher als qaumiyat, was dem Begriff der Nation nahekommt, allerdings im ethnischen, nicht im staatsbürgerlichen Sinne. Es scheint eine jüngere Entwicklung zu sein, aber inzwischen liest man in arabischen Medien, dass etwa Kurden und Turkmenen als tawa’if bezeichnet werden, wobei diese beiden Gemeinschaften ethnische und nicht konfessionelle Gruppen bilden und mehrheitlich dem sunnitischen, aber auch teilweise dem schiitischen Islam angehören.

Die ta’ifiya kann sich implizit in diskriminierenden Verhaltensweisen des Staates oder von Teilen der Bevölkerung gegen andere äußern oder aber, wie im besonderen Fall des multikonfessionellen Staates Libanon, explizit der politischen Ordnung und den Normen zugrunde gelegt werden, was wiederum dem deutschen Konzept vom Konfessionalismus näherkommt. Denn dieser stellt die Rechte der Gemeinschaft über die Rechte des Individuums, schreibt das Individuum zwangsweise der Gemeinschaft zu – und zwar völlig unabhängig davon, ob es sich dieser zugehörig fühlt.

In jedem Fall aber vermengt das Prinzip der ta’ifiya das Religiöse, Konfessionelle mit dem Sozialen und Politischen. Und diese Denkweise sowie der historisch gewachsene Sprachgebrauch werden durchaus kritisiert, weil sie mitunter Identitäten konstruieren. In einigen Teilen der arabischen Welt, etwa im Maghreb, ruft das Konzept der ta’ifiya sogar verständnisloses Kopfschütteln hervor. Aber die meisten Menschen im multiethnischen und multireligiösen Nahen Osten wissen recht genau, was damit gemeint ist. Ob sie es gutheißen oder nicht.

Im deutschen Sprachgebrauch fehlt ein Begriff, der diesen Sachverhalt beschreibt, obwohl die deutsche Geschichte viel von solcher Geisteshaltung zu erzählen hat. Man behilft sich stattdessen mit einem ungefähren, aber letztlich unzureichenden Wort, dem „Konfessionalismus“, und wendet ihn auf die Verhältnisse im Nahen Osten an.

Der Begriff Konfessionalismus geht natürlich aus der deutschen Religionsgeschichte hervor: Er bezeichnet den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten, die Reformationskriege und den im Augsburger Reichs- und Reli­gions­frieden 1555 vereinbarten Grundsatz „Cuius regio, eius religio“. Damit wurde das Recht der Fürsten verbrieft, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen – wer sich dem nicht beugen wollte, durfte immerhin auswandern.

Spaltungen in der Arabischen Welt

Dieser später als „Konfessionalisierung“ bezeichnete Prozess mündete bekanntlich in den Dreißigjährigen Krieg. Einiges von dieser deutschen Erfahrung mag mit den Realitäten in den nahöstlichen Gemeinschaften vergleichbar sein. Aber es besteht doch ein Unterschied, der erstaunen mag, wenn man bedenkt, dass der Orient allgemein im Ruf steht, er nehme die Religion übermäßig wichtig: Anders als im Konfessionalismus deutscher Prägung geht es dort nämlich weniger darum, in theologischen Belangen recht zu haben, sondern um das, was der Vater der arabischen Soziologie, Ibn Khaldun (1332–1406), die ’asabiya nannte: die innere Kohäsionskraft einer Gemeinschaft im Nahen Osten, die aus der Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Clan erwachsen kann. Manchmal auch aus einem gemeinsamen Mythos und durchaus, aber eben nicht zwingend, aus einer Religion.

Im Bewusstsein dieser Nuancen haben manche deutschsprachigen Journalisten versucht, den passenden englischen Ausdruck sectarianism mit „Sektierertum“ zu übersetzen. Das trägt zwar dem Umstand Rechnung, dass viele fanatische und gewalttätige Gruppen, die gegen Minderheiten hetzen, Merkmale einer Sekte aufweisen – allen voran der sogenannte Islamische Staat. Es bildet auch das Ansinnen ab, die Wahrnehmung der Differenzen zwischen den Gemeinschaften mutwillig zu vertiefen. Gleichwohl können „Sektierer“ auch Eigenbrötler sein, die sich von dem, was sie als Mainstream ansehen, entfernen, ohne anderen dabei Schaden zuzufügen. Das, was man im Deutschen gemeinhin unter „Sekten“ und „Sektierern“ versteht, ist im Arabischen allerdings eher durch einen anderen Begriff besetzt, nämlich firqah. Zudem fehlt dem Begriff Sektierertum die politische Komponente, die in ta’ifiya enthalten ist.

Am ehesten würde man dem Phänomen wohl mit dem Lehnwort „Sektarismus“ gerecht. Man liest es hin und wieder als behelfsmäßige Formel in deutschen Übersetzungen aus dem Französischen (sectarisme), die großenteils aus dem 19. Jahrhundert stammen. Und wenngleich es nicht sehr griffig klingt, bezeichnet es genauer als die gemeinhin verwendeten Begriffe die spezifische Gemengelage in Nahost.

Auf den Nahen Osten bezogen, ließe sich der Sektarismus künftig wie folgt definieren: eine von Ressentiments geprägte Geisteshaltung, die sich in einer Überbetonung der ethnischen oder religiösen Identität äußert. Sie verfolgt nicht die Überwindung der Gräben, sondern deren Vertiefung. Sie sieht keine Perspektiven für Integration oder ein friedliches Zusammenleben und strebt daher nach Verdrängung oder Beherrschung der jeweils anderen Seite.

Diese Geisteshaltung hat dem Nahen Osten großen Schaden zugefügt. Sie war nicht die Ursache, sehr wohl aber der Brandbeschleuniger für Kriege. Sie stellte die Betriebstemperatur für explosive Reaktionen her. Nach dem Despotismus ist der Sektarismus die zweite große Geißel der nahöstlichen Gesellschaften. Viele Reformer und fortschrittliche Denker sind im 19. und 20. Jahrhundert angetreten, um ihn zu überwinden: sunnitische Muslime wie der arabische Nationalist Sati’ al-Husri (1880–1968) und Christen wie der syro-libanesische Pastor und Verleger Butrus al-Bustani (1819–1883) oder der Journalist und Parteigründer Antun Sa’ada (1904–1949). Sie selbst, vor allem aber diejenigen, die sich auf sie beriefen, haben dabei oft das Gegenteil erreicht.

Vielleicht ist nun für den Nahen Osten der Zeitpunkt gekommen, es noch einmal zu versuchen und dem Sektarismus entschlossener zu begegnen. Denn die hier beschriebene Geisteshaltung hat sich in den vergangenen, von Gewalt und Staatszerfall geprägten Jahren diskreditiert: nach den Kriegen im Irak, in Syrien und im Jemen, in denen keine Gemeinschaft wirklich gewonnen, sondern alle nur verloren haben, nach der Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen, der Vernichtung von Siedlungen, Kulturstätten und Ernten.

Neben schnöden Motiven wie Macht und Geld standen religiöse Überzeugungen im Verdacht, die Gewalt zu solchen Ausmaßen zu treiben. Aber dort, wo Religion draufstand, steckte oftmals Sektarismus drin. Diejenigen, die ihm das Wort redeten, mochten zwar Fanatiker gewesen sein, gottesfürchtig waren sie deshalb längst nicht. Man konnte und kann im Nahen Osten „Sektarist“ sein und andere Gemeinschaften bekämpfen, ohne sich um die eigenen religiösen Gebote zu scheren. Diesen Unterschied erkennen heute, da sie der zerstörerischen Folgen des Sektarismus gewahr geworden sind, immer mehr Menschen. Und aus dieser Suche nach einem Neuanfang ergibt sich eine historische Chance, die womöglich so schnell nicht mehr wiederkommt.

Daniel Gerlach ist Chefredakteur der Zeitschrift Zenith. Der vorliegende Text ist ein Vorabdruck aus seinem neuen Buch „Der Nahe Osten geht nicht unter. Die arabische Welt vor ihrer historischen Chance“, das am 11. März 2019 bei der Edition Körber in Hamburg erscheint. Wir danken dem Verlag für die Abdruckrechte.

Le Monde diplomatique vom 07.03.2019, von Daniel Gerlach