07.02.2019

Verflixt und Brexit

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Verflixt und Brexit

In Großbritannien macht der chaotische Verlauf des Brexit-Prozesses eine tiefe Krise sichtbar. Die zeigt sich nicht nur in der Blockade des Regierungssystems und der inneren Spaltung der großen Parteien. Der Austritt aus der Europäischen Union droht auch die Union aufzulösen, die das „Vereinigte Königreich“ ausmacht.

von Neal Ascherson

Dominik Halmer, Leistung, 2015, Acryl, Tusche, Öl auf Leinwand, Medizinball, MDF, ­Spiegel, Holzleiste, ­Rolle, Scharniere, 243 x 163 x 6 cm
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Der Wind kam vom Meer und er fegte das Dach der alten Herberge weg, die wir Ver­einig­tes Königreich nennen. Anfang 2019 stehen die alten Mauern noch, aber man kann von oben in das Gebäude sehen. Was man sieht, ist nichts als Verfall.

Das ehrwürdige Balkenwerk der Verfassung, das den ganzen Bau zusammenhält, ist voller Risse und stellenweise zerborsten; die einst so vornehmen Tapeten blättern streifenweise von den Wänden ab. In der Diele watet man knietief durch ungeöffnete Postsendungen. In der Küche schmeißen sich die Engländer, die einmal als vorbildlich gelassenes und pragmatisches Völkchen galten, verbale Beleidigungen und veritable Stühle an den Kopf. Und die Ratten, die zwischen ihren Füßen herumhuschen, werden immer dreister.

Für Großbritannien und seine Institutionen war 2018 ein Jahr des Schreckens. Während der Brexit voranschritt oder vielmehr im Dunkeln herumtappte, konnte man hören, wie kostbares Porzellan zu Bruch ging und das feine Gespinst der Illusionen zerfetzt wurde. Im Herbst trat die furchtbare Wahrheit endgültig zutage: Großbritannien rutschte in eine gigantische politische und konstitutionelle Krise, aber das Parlament hatte nicht mehr die Kraft, das Ausmaß dieser Krise zu begreifen, geschweige denn, sie zu bewältigen.

Und so offenbarten die Abstimmungen im Unterhaus kurz vor und nach der Jahreswende ein niederschmetterndes Bild: Die Regierung hat für den mit Brüssel ausgehandelten Scheidungsvertrag keine Mehrheit; die beiden großen Parteien sind intern aufs Innigste zerstritten; die Labour-Opposition ist zu schlapp und zu konfus, als dass sie eine Alternative anbieten könnte.

Die Politiker glauben nicht an das, was sie tun

Eine derart verfahrene Situation gab es schon einmal, vor gut hundert Jahren. 1914 sah sich das System von Westminister gleich dreifach bedroht: von der antikapitalistischen Offensive der Gewerkschaften, der immer militanter auftretenden Suffragetten-Bewegung und der Gefahr eines Bürgerkriegs in Ulster, die von den Tories geschürte wurde.

Auch damals war das Parlament paralysiert, weil die großen Parteien gespalten waren. Der innenpolitische Zusammenbruch wurde nur durch den unerwarteten Ausbruch des Weltkriegs im August 1914 abgewendet. Heute wird die Premierministerin – zu unserem Glück und zu ihrem Pech – kein Krieg aus ihrem Dilemma erlösen können.

Das Problem mit dem Brexit ist unter anderem, dass viele Politiker an das, was sie tun, nicht glauben. Und dass man es ihnen ansieht. Beim Brexit-Referendum vom Juni 2016 stimmten 479 der damaligen Unterhaus-Abgeordneten für „Remain“ und nur 159 für „Leave“. Die Wahlen vom Juni 2017 haben diese Minderheit bekennender Brexiteers nur unwesentlich verstärkt.

Dennoch gaben sich Anfang 2018 fast alle MPs – einschließlich der Remain-Anhängerin Theresa May – aus Pflichtgefühl oder aus Feigheit überzeugt, dass der Brexit in irgendeiner Form stattfinden müsse. Das heißt: Ein Großteil der Tory-Fraktion und etliche Regierungsmitglieder unterstützen eine Politik, die sie persönlich als schädlich für das Land betrachten. Damit schwächen sie sich selbst wie auch die Demokratie.

Diese absurde Lage hat mit etwas zu tun, was unglaublich anmutet: Niemand weiß, auf welchem staatsrechtlichen Prinzip das Vereinigte Königreich basiert. Wer ist die höchste Autorität? Ist es das gewählte und angeblich souveräne Parlament? Ist es der „Volkswille“, wie er sich in einem Referendum ausdrückt?

Oder ist es doch „die Krone“, was heißt die Exekutive, was heißt das Kabinett, was im Normalfall heißt: Premierminister oder Premierministerin? Das alles ist ungeklärt, denn es gibt keine geschriebene Verfassung. Also können sich die Politiker nach Gutdünken mal den Wählern, mal der Parlamentsfraktion, mal der Regierungsspitze verpflichtet fühlen.

Die Streitfrage, wo die Souveränität liegt, hat die Parlamentarier einen Großteil des Jahres 2017 ­ beschäftigt,

am Ende wurde sie als unlösbar abgehakt. Es war bereits Februar 2018, als der EU-Chefunterhändler Michel Barnier sich erstmals mit dem Brexit-Minister David Davis an den Verhandlungstisch setzen konnte. Aber nicht lange, denn der schnell gelangweilte Davis schwänzte viele Gesprächsrunden und überließ das Weitere seinen Beamten. Hätte er mehr Präsenz gezeigt und besser zugehört, hätte er seiner Chefin sehr schnell berichten können, dass ernste Probleme auf sie zukommen würden.

So aber dauerte es fast ein Jahr, bis man in London kapierte, dass ein „Withdrawal Agreement“ abgeschlossen sein musste, bevor man die künftigen Handelsbeziehungen erörtern kann. Während die Austrittsverhandlungen liefen, schwadronierten die Brexiteers in Mays Kabinett, allen voran Außenminister Boris Johnson, London habe sowieso die besseren Karten, und Brüssel werde am Ende einknicken, um den drohenden Verlust des britischen Markts abzuwenden.

Das war pure Illusion. Im Lauf des Jahres 2018 fantasierten sich die Briten ein höchst widersprüchliches Bild von der EU zurecht: Mal war sie ein feindseliges Monster, das danach geifert, die Briten abzustrafen, weil sie die Union zu verlassen wagen. Dann wieder karikierte man die EU als verzweifelten Teppichhändler, der auf die stolze Beharrlichkeit der Briten mit Jammern und Klagen reagiert.

Und so waren die Brexiteers immer bass erstaunt, wenn Brüssel der britischen Forderung, man wolle den Kuchen behalten und zugleich essen, nicht unverzüglich nachkam. Der Tiefpunkt dummdreister Ignoranz war im Oktober 2018 erreicht, als Mays neuer Außenminister Jeremy Hunt allen Ernstes erklärte, die Europäische ­Union gleiche immer mehr einem Gefängnisstaat à la Sowjetunion, und prophezeite: „Wir werden nicht der einzige Ge­fangene sein, der dem entkommen will.“

Die Europäer waren entsetzt – und zwar nicht nur die, die sich an die Diktatur sowjetischen Typs noch erinnern können. Auf dem Kontinent registriert man das dumme Gerede der Brexiteers in der Regel mit Achselzucken, aber diese Sätze eines britischen Außenministers haben bleibende Schäden hinterlassen.

Nach überaus zähen Verhandlungen wurde schließlich im November eine Vereinbarung erzielt, die zwei der drei Austrittsthemen abdeckte: die Rechte der britischen und der EU-Bürger, die auf dem jeweils anderem Territorium leben; und die Frage der „Scheidungskosten“, also der Gelder, die Großbritannien der EU schuldet.

Unerledigt blieb die Frage der in­ner­irischen Grenze: Wie könnte man sie gemäß dem Belfast-Abkommen von 1998 offen halten, wenn sie durch den Brexit zur EU-Außengrenze wird?

Wie kompliziert dieses Pro­blem ist, zeigt die Kontroverse um die „Backstop“-Vereinbarung, die freilich nicht nur eine „irische“ Frage ist. Betrachtet man die Backstop-Saga in einem größeren Kontext, erkennt man, wie der Brexit die „devolution“ gefährdet, also die britische Version dessen, was man auf dem Kontinent als „Föderalisierung“ bezeichnen würde.

Was Nordirland betrifft, so musste May die herrschende nationalistische DUP bestechen, ohne deren Abgeordnete sie in Westminster keine Mehrheit hat. Die Schotten dagegen glaubte sie problemlos übergehen zu können. Chancen, die viel größere Unterhausfraktion der Scottish Nationalist Party (SNP) zu kaufen, konnte sie sich jedenfalls nicht ausrechnen. Seit dem Brexit-Referendum hat Edinburgh wiederholt gefordert, Schottland müsse in der Zollunion wie im Gemeinsamen Markt verbleiben. Das wurde in London schlicht ignoriert.

Anfang 2018 wurde offensichtlich, dass Westminster plante, einen Teil der Kompetenzen, die Schottland an die EU übertragen hatte, für sich zu beanspruchen. Die SNP sah darin einen Fall von „power grab“, weshalb sie im März 2018 im Parlament von Edinburgh die „Continuity Bill“ durchbrachte. Es war ein mutiger Versuch, dem „Withdrawal Act“ vom Juni 2018 zuvorzukommen, das die Rückübertragung der an Brüssel abgetretenen Kompetenzen an die Regierung in London regelt.

Über die Hierarchie der konkurrierenden Gesetze musste der britische Supreme Court befinden. Am 13. Dezember 2018 entschied das oberste Gericht, das schottische Gesetz sei zwar weitgehend rechtens, werde aber in den Punkten, die der Withdrawal Act regelt, außer Kraft gesetzt.

Das war zu erwarten. Aber in Schottland keimte der Verdacht, dass sich unter der Decke der „power grab“-Kontroverse eine weit bedrohlichere Entwicklung anbahnte. In Edinburgh war es vor allem Brexit-Minister Mi­chael Russell, der geltend machte, bei der Gesamtarchitektur der Devolution, so wie sie 1997 entworfen wurde, sei die EU-Mitgliedschaft vorausgesetzt. Das heißt aber: Nach dem Brexit würde Schottland – da nicht mehr in die EU eingebunden – einem ganz anderen Vereinigten Königreich angehören.

Dieses Post-Brexit-Königreich wäre nicht nur isoliert und unpopulär, sondern auch verzweifelt bemüht, die tief gespaltene Bevölkerung zu einen. Folglich würde die Regierung in London die Devolution als Bedrohung der „nationalen Einheit“ ansehen und zurückstutzen. Theresa May betont seit Längerem die Notwendigkeit, „unsere kostbare, kostbare Union“ zu stärken. Aber meint sie mit „stärken“ nicht eher „straffen“? In schottischen Ohren klingen solche Töne nach einer Restauration der zentralen Kontrolle durch London mit dem Ziel, den wackligen Post-Brexit-Staat mit harter Hand zusammenzuhalten.

Auch in der Frage der irischen Grenze zeigt sich, wie sehr es in Westminster – beim Parlament wie bei der Regierung – an Einfühlungsvermögen für die Gliedstaaten mangelt, die zum Vereinigten Königreich gehören oder einmal gehört haben (wie Irland). In London reagiert man bis heute noch verblüfft, wenn die Iren auf die historischen Vorbelastungen verweisen, die ihr Verhältnis zu den Briten so problematisch machen. Solches Einfühlungsvermögen seitens der anderen werden die Engländer demnächst für sich selber fordern – und schwerlich bekommen.

Die nächste Generation wird den erbitterten Backstop-Disput nur noch wunderlich finden. Wenn Theresa May erklärt, keine britische Regierung könne jemals einer Zollgrenze in der Irischen See zustimmen, muss man fragen: Warum eigentlich nicht? Nur die nordirischen DUP-Leute behaupten in ihrer dumpfen Paranoia, dass es das Ende des Vereinigten Königreichs bedeute, wenn die irischen Schweine statt in Strabane an der irisch-nordirischen Grenze im schottischen Hafen ­Stran­raer gezählt werden.

Auch beim Rücktritt von Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis im Juli 2018 spielte das Problem der irischen Grenze eine wichtige Rolle. Als May ihrem gespaltenen Kabinett auf dem Rasen von Chequers die Grundzüge einer Austrittsvereinbarung vorstellte, stimmten die beiden Minister noch zu – um gleich darauf den Medien ihren Rücktritt mitzuteilen, weil das ganze Konzept völlig unannehmbar sei.

Johnson wie Davis nannten als Hauptgrund für ihren Rücktritt den Backstop-Plan. Mittlerweile hat die ganze Frage die Züge eines theologischen Disputs angenommen: Soll für den Fall, dass die Verhandlungen über die irische Grenze nicht vorankommen, Nordirland – oder gar ganz Großbritannien – in einer Zollunion verbleiben? Und das für unbestimmte Dauer, ohne dass London sie einseitig beenden kann?

Die Tory-Brexiteers dröhnten, Backstop bedeute die Aufgabe der britischen Souveränität und Verrat am Ergebnis des Referendums von 2016. Dabei dachten sie gar nicht an Ulster und die Nordiren, sondern in erster Linie an den Sturz ihrer Regierungschefin. Doch die hielt sich weiter im Sattel. Aber während sie ein ums andere Mal versicherte, ihr „Chequers-Paket“ sei der einzig mögliche Deal, wurde der Pulverdampf der politischen Scharmützel so dicht, dass die grundlegende Kontroverse im Nebel verschwand.

Damit gerieten zwei überaus wichtige Fragen aus dem Blick. Die eine lautet: Welches Großbritannien schwebt der Brexit-Fraktion der Konservativen vor? Die Antwort lautete bis vor Kurzem: Brexit ist nichts anderes als die Vollendung des Thatcher-Projekts, also eines Den-Letzten-beißen-die-Hunde-Kapitalismus bei fast völliger Abschaffung des Staats. Die zweite Frage betrifft die Zukunft Schottlands. Der Mythos einer „Partnerschaft“ hat sich in dem Maße verflüchtigt, in dem London auf die Bedürfnisse und die Stimmen der Schotten mit einer frivolen Ungeduld reagiert, wie man sie seit Generationen nicht erlebt hat.

Obwohl gegen Ende 2018 immer klarer wurde, dass das Chequers-Paket im Parlament keine Chance hatte, bestand May darauf, dass die einzige Alternative zu ihrem Vorschlag das No-deal-Desaster sei. Aber die Gegenstimmen wurden lauter. Die großen Demonstrationen für ein zweites Referendum waren im Grunde eine Kampagne für die Revision der Brexit-Entscheidung. Aber das blieb nicht unwidersprochen. „Zieht es einfach durch!“, tönte es aus weiten Teilen Englands jenseits von London.

Doch exakt dieser Forderung konnte die Regierung (wenn man sie noch so nennen konnte) nicht nachgeben. Kurz vor Weihnachten musste May die Abstimmung im Unterhaus verschieben, weil ihr Withdrawal Agreement keine Mehrheit bekommen hätte. Aber der Aufschub war vergebens: Als sie von ihren verzweifelten Flügen nach Brüssel und in die anderen europäischen Hauptstädte keine neuen Konzessionen mitbrachte, war die krachende Niederlage, die sie am 15. Januar 2019 mit ihrem Vertragsentwurf im Unterhaus erlitt, unvermeidlich – und allenfalls in ihrem Ausmaß überraschend.

Der Brexit-Plan, der vom Parlament abgeschmettert wurde, war für die EU immerhin akzeptabel. Zehn Tage später stimmte dasselbe Unterhaus einem Plan B zu, der beinhaltet, dass May erneut nach Brüssel fährt, um alles und speziell den Backstop-Plan neu zu verhandeln. Die europäischen Verhandlungspartner haben allerdings längst signalisiert, dass das Abkommen nicht verändert werden kann. Die Briten ziehen sich auf von Selbstmitleid genährte Wahnvorstellungen zurück. Und der Widerstand gegen eine No-deal-Bruchlandung bröckelt.

Das Unterhaus ist heute vielfach fraktioniert, wobei jede der Gruppen eine Idee hat, aber keine die Macht, sie umzusetzen. Ein No-deal-Brexit ist inzwischen eine reale Möglichkeit und der 29. März rückt unerbittlich näher. Großbritannien taumelt hilflos auf den Abgrund zu. Jemand müsste die Verantwortung übernehmen. Aber wer?

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Neal Ascherson ist Journalist und Autor.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.02.2019, von Neal Ascherson