13.12.2018

Brief aus Bratislava

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Brief aus Bratislava

von Joseph Grim Feinberg

Das Denkmal PAVEL SMEJKAL
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Námestie Slovenského národného povstania, ein Tag im November. Der Platz ist nach dem Slowakischen Nationalaufstand benannt, an den auch die überlebensgroße Statue eines Partisanen erinnert. Breite Schultern, drapiert mit einem heroischen Umhang, kantige Hände, die das Gewehr umschließen, das Gesicht asketisch, doch hoffnungsvoll himmelwärts gerichtet und mit der Andeutung eines Lächelns. Hinter dem Partisanen, auf einem eigenen Podest, zwei Frauen, traditionell dörflich gekleidet, die eine mit sorgenvollem Blick, die Arme vor den Leib gepresst, die andere verängstigt, das Gesicht hinter einem Tuch verbergend. Beide blicken deutlich weniger zuversichtlich in die siegreiche Zukunft als ihr junger Befreier.

Der Aufstand, an den das Denkmal erinnert, begann im August 1944 und hat weite Teile des Landes – zumindest für wenige Monate – der Herrschaft der Klerikalfaschisten entrissen. Es war ein Aufstand im Namen der Nation gegen ein Regime von Nationalisten, ein Versuch, das nationale Gewand für die antifaschistische Sache zu reklamieren. Aber Ende Oktober 1944 war es vorbei: Die Wehrmacht schlug den Aufstand nieder. Damit schenkten die Nazis ihrem slowakischen Vasallenstaat noch ein paar Monate Überlebenszeit.

Dann rückte die Rote Armee ein, die ihren Anspruch auf die Rolle des Befreiers vor allem mit ihrer – allerdings unzureichenden – Unterstützung des slowakischen Aufstands legitimierte. Der Platz im Zentrum Bratislavas war vor dem Krieg nach Andrej Hlinka benannt, Gründer der nationalkonservativen und später faschistischen Volkspartei. Nach dem Krieg wurde er in Stalinplatz umgetauft. 1962 bekam er dann seinen heutigen Namen und war fortan das symbolische Zentrum für ­politische Demonstrationen und Proteste.

An diesem Novembertag stehe ich am Rande des Platzes vor dem Symbol der jüngsten Protestbewegung, einer Fläche mit Kerzen und Blumen, dahinter an einer Mauer die Fotos des Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová, die am 25. Februar dieses Jahres ermordet wurden. Kurz zuvor hatte Kuciak begonnen, über das Ausmaß der Korruption in der Geschäftswelt und in der politischen Klasse zu recherchieren.

Wer bis dahin noch kein klares Bild von den Verbindungen zwischen den Eliten und dem organisierten Verbrechen hatte, konnte nach dem Doppelmord keine Zweifel mehr hegen. Die Suche nach den Auftraggebern führte zum einen in Richtung der ’Ndrangheta, zum anderen in die Umgebung des langjährigen Ministerpräsidenten Robert Fico. Knapp einen Monat nach dem Doppelmord sahen sich Fico und sein Innenminister und engster Gefolgsmann aufgrund der massenhaften Proteste zum Rücktritt gezwungen.

Der Ort der improvisierten Gedenkstätte ist bewusst gewählt. Über den Kerzen und den Fotos ist eine Ehrenplakette für die „Verejnosť proti násiliu“ zu sehen. Genau an dieser Stelle wurde im November 1989 die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ gegründet, die zur Opposition gegen das politische Monopol der Kommunistischen Partei aufrief. Jedes Jahr am 17. November ehren die slowakischen Eliten das Andenken dieser Bewegung, die ihnen den Weg zur Macht geebnet hat. Dieses Jahr fand einen Tag zuvor eine Protestversammlung statt, die sich gegen ebendiese Eliten richtete und dabei an die nicht realisierten Visionen von 1989 erinnerte.

Die Demonstrationen im Gefolge der Morde an Kuciak und Kušnírová waren die größten seit 1989. Und viele Leute erwarten von den jungen Anführern der neuen Bewegung, dass sie vollenden werden, was eine Generation vor ihnen begonnen hat. Ich sehe es etwas anders: Sie wollen zu Ende bringen, was ihre Elterngeneration nicht nur unvollendet, sondern auch unvollendbar hinterlassen hat.

Im November 1989 standen die Proteste anfangs unter dem Leitgedanken eines demokratischen Sozialismus – im Sinne der Vollendung des tschechoslowakischen Frühlings von 1968, den die Truppen des Warschauer Pakts erstickt hatten. Aber mit der Zeit gelang es einer anfangs nur kleinen Avantgarde aus Intellektuellen, das Wort Sozialismus aus dem Vokabular der „Transformation“ zu streichen, womit der Demokratiebegriff am Ende aller sozialen Inhalte entleert war.

Das neue System sollte sich also nicht durch eine gerechte Sozialstruktur auszeichnen und nicht einmal durch möglichst repräsentative politische Strukturen, sondern vor allem durch die moralische Qualität ihrer politischen und gesellschaftlichen Spitzenvertreter. Als sich dann die erste Führungskohorte als korrupt erwies, wurde sie abgewählt und durch eine andere ersetzt. 2012 versank das Land in einem weiteren Korruptionsskandal, in den eine neue Generation moralisch aufrechter Politiker verwickelt war, die ebenfalls ihre Ämter verloren.

Heute droht die Sense der öffentlichen Empörung die nächste Kohorte umzumähen. Bei den Kommunalwahlen vom 10. November – die Plakate der Kandidaten hängen noch überall an den Mauern – schnitten solche Gruppierungen am besten ab, die ihre Unabhängigkeit von allen im Parlament vertretenen Parteien betonten.

Jetzt ist ins Rathaus von Bratislava ein „Team“ aus Experten und NGO-Aktivisten eingerückt, die selbst das Wort Koalition scheuen, weil es nach Parteipolitik klingt. Dabei sind sie im Vergleich mit ihren „politischen“ Vorgängern noch radikaler in dem Sinne, dass ihnen gesellschaftliche Visionen und politische Ideen erklärtermaßen egal sind. Ihre technokratisch formulierten Programme versprechen alles Mögliche, von einem effizienten „Mikromanagement“ bis zur Beendigung des allgemeinen Parteiengezänks. Und alles garniert mit einem abstrakten Begriff von „Fortschritt“, der ganz allgemein für das Gute steht.

Die Vertreter dieser Bewegung haben die alte Garde gründlich blamiert – aber selbst noch keinerlei klare Alternative präsentiert. Bei ihren Demons­tra­tionen und Auftritten dominiert die Parole „Für eine anständige Slowakei“. Wobei ihr Lieblingsadjektiv slušný nicht nur „anständig“ bedeutet, sondern auch „richtig“, „rechtschaffen“ oder „höflich“. Das Wort steht also für alles, wofür ein anständiger Mensch zu sein hat. Damit kann man aber auch alle möglichen Machenschaften aus dem Blickfeld nehmen, die gar nicht thematisiert werden, weil die Debatten immer nur um die Frage kreisen, was slušný ist und was nicht.

Doch die Leute, die das ständige Beschwören von Moral und Anstand satthaben, formulieren ihre Alternativen mittlerweile in genau entgegengesetzten Begriffen. Weil die „anständigen“ Progressiven den politischen Diskurs mit ihrem Lieblingswort besetzt haben, reagieren ihre Gegner mit trotzigen Bekundungen des „Unanständigen“ – mit Fremdenhass, mit Putin-Verehrung, mit demonstrativ schockierenden Aktionen bis hin zu einem neuen, rasch um sich greifenden Faschismuskult.

Ich kenne kein anderes Land, in dem eine so starke Minderheit anständiger Individuen noch derart leidenschaftlich an die Werte der liberalen Demokratie glaubt. Aber das macht allem Anschein nach die slowakische Gesellschaft insgesamt nicht unbedingt „liberaler“ und „anständiger“. Als der Demokratiebegriff nach 1989 zunehmend entleert wurde, wurde den politischen Protestaktionen eine Rolle und Bedeutung zugeschrieben, der sie nie gerecht werden konnten. Irgendwann forderten die Demonstranten dann nicht mehr eine anständige Gesellschaft, sondern nur noch anständige Führer. Die aber wurden immer „unanständiger“, weil sie die Gesellschaft, von der sie geprägt sind, gar nicht mehr zu ändern versuchten.

Der Generation von 1989 galt „Anstand“ als Alternative zum Sozialismus. Heute lautet die entscheidende Frage, ob es der Generation von 2018 gelingt, das ewige Wechselspiel zu beenden: die ständige Wachablösung zwischen Anständigen und Unanständigen, die sich gegenseitig hochpäppeln und immer neu erzeugen. Wird diese Generation über die Ideen ihrer Eltern hinausgehen und eine neue Idee hervorbringen, die sie aus dem alten Teufelskreis herausholen könnte?

Dabei wandert mein Blick erneut zum Denkmal des Partisanen, der so selbstgewiss in die Zukunft blickt. Aber was mich jetzt interessiert, ist nicht mehr die Zuversicht derer, für die Fortschritt eine Gewissheit ist. Hoffnung gibt mir vielmehr der Ausdruck in den Gesichtern der beiden ängstlichen Frauen. Dem Bildhauer Ján Kulich, der alle drei Statuen im Sinne der offiziellen kommunistischen Propaganda geschaffen hat, lag es gewiss fern, die Hoffnungsbotschaft des Partisanen zu untergraben. Aber das Wunder der Kunst liegt stets darin, dass sie mehr sagt, als der Künstler sagen wollte.

Ich sehe in die Gesichter der beiden Frauen, sehe ihre Ungewissheit über die unmittelbare Zukunft, aber auch ihren Willen, in diese Zukunft einzutreten. Der nationale Aufstand gegen die nationalistische Diktatur ist zwar gescheitert, aber immerhin hat er zu deren Ende beigetragen. Damit ist er zum Symbol der Umkehr und der politischen Wende geworden. Wenn sich die Demonstranten heute und künftig an diesem Ort versammeln, werden sie die Blicke der beiden Frauen auf sich gerichtet spüren.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Joseph Grim Feinberg ist Research Fellow an der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.12.2018, von Joseph Grim Feinberg