Goodbye, Britenrabatt
von Dietmar Bartz
Für die Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU (GAP) ist ein Ausruf der britischen Premierministerin Margaret Thatcher legendär. „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) soll sie 1984 auf einem Gipfeltreffen der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) gefordert haben. Denn der britische Agrarsektor war zu klein, um von den Subventionen aus Brüssel ebenso zu profitieren wie der französische oder deutsche. Weil aber Anfang der achtziger Jahre mehr als 70 Prozent des EG-Budgets auf die GAP entfielen, gab es keine Möglichkeit, diese britische Benachteiligung anderswo zu kompensieren.
Auch die vergleichsweise hohen Zoll- und Mehrwertsteuereinnahmen, aus denen die Höhe des EG-Mitgliedsbeitrags resultierte, benachteiligten Großbritannien. Außerdem lag das britische Pro-Kopf-Einkommen wegen der Konjunkturkrise deutlich unter demjenigen Deutschlands und Frankreichs. Schon seit ihrem Amtsantritt 1979 hatte sich Thatcher daher über die Höhe des EG-Beitrags beschwert und für eine regelrechte Politikblockade in Brüssel gesorgt.
Sie bekam ihren „Britenrabatt“, wie er schnell hieß. Zwei Drittel vom Netto fielen für die Briten künftig weg. Ein Beispiel: Wenn Großbritanniens jährlicher EU-Mitgliedsbeitrag bei zehn Milliarden Euro lag und sieben Milliarden davon durch EU-Subventionen oder Beihilfen zurückflossen, verblieben drei Milliarden Nettosumme, die Großbritannien an die EU zahlen musste. Durch den Rabatt brauchte Großbritannien jetzt aber nur noch eine Milliarde zu zahlen. Die anderen zwei Milliarden wurden – und werden bis heute – von anderen Mitgliedsländern übernommen. So wurden die Agrarsubventionen zum Auslöser für den ersten großen Verstoß gegen das Solidarprinzip bei der europäischen Einigung.
In Brüssel stieß eine solche Politik des „juste retour“, des „gerechten Rücklaufs“ oder von Leistung und Gegenleistung, auf grundsätzliche Kritik. Sie verstieß gegen den Gemeinschaftsgedanken, denn was wäre ihr Optimum? Genauso viel einzuzahlen wie zurückzubekommen? Zudem gab und gibt es keine Methode, die unterschiedlichen wirtschaftlichen Vor- und Nachteile der beteiligten Ländern – von Investitionen über Arbeitsplätze bis zum Handel – zu verrechnen, erst recht nicht, wenn es um die Landwirtschaft mit ihren Produktions- und Preisschwankungen geht.
Dennoch gelang es niemandem in der EU, den Britenrabatt wieder abzuschaffen – auch nicht, als Großbritannien wirtschaftlich zu den anderen Industrieländern aufschloss und Labour an die Regierung kam. Dabei war der Rabatt immer spürbar. Denn 1985 wurde nicht etwa das generelle Verfahren zur Beitragsberechnung angepasst, um die Zahlungsausfälle aus Großbritannien auszugleichen, sondern der Rabatt wurde und wurde Jahr für Jahr auf die anderen EG- beziehungsweise EU-Mitglieder umgelegt, auch auf die neuesten und ärmsten. 1985 begann er bei einer Milliarde Euro und erreichte 2001 – auch durch Nachzahlungen – einen Höchststand von 7,3 Milliarden Euro. 2017 lag der aufgelaufene Preisnachlass seit 1985 bei 129 Milliarden Euro. Mit dem Brexit wird sich allerdings auch der Britenrabatt erledigen.
Wenn sich noch ein weiterer großer Nettozahler – Deutschland, Frankreich oder Italien – nach dem britischen Vorbild verhalten und nur auf den eigenen Vorteil gesetzt hätte, wäre es mit dem Projekt der europäischen Integration schnell vorbei gewesen. Dass der Streit, der sich in der Nettozahlerdiskussion manifestierte, nicht weiter um sich griff, lag ironischerweise ebenfalls an der Agrarpolitik. Zu Beginn der 1980er Jahre galt die EG-Landwirtschaft als Fass ohne Boden. Die Fehlanreize durch Preisstützung führten zu Marktverzerrungen und Überproduktion. Diese Dauerkrise ging über Thatchers Rabatt weit hinaus. Für positive Dynamik sorgte daher das Aufkommen neuer Integrationsprojekte: des Binnenmarkts, der Gemeinschaftswährung, der Infrastrukturförderung durch die EU. Obwohl die GAP der dominante Ausgabenposten blieb, rückte die Agrarpolitik in den Debatten in den Hintergrund. Gestritten wurde nun über Reformen für die ganze, ständig wachsende EU, nicht mehr über den Britenrabatt.
Für die 13 „neuen“ Länder der EU-Erweiterungen seit 2004 hat die GAP hingegen weiterhin eine große Bedeutung, denn fast alle gehören zu den Nettoempfängern der EU-Agrarpolitik. Selbst die gegenüber Brüssel kritischen Regierungen in Warschau oder Budapest können sich einen Verzicht darauf nicht leisten; beide Seiten wissen das. Für Polen geht es nach einem Entwurf der Kommission für die Haushaltsrunde 2021 bis 2027 um insgesamt 30,6 Milliarden Euro, für das viel kleinere Ungarn sind es immerhin noch 11,7 Milliarden.
Ihre Investitionszuschüsse an Polen und Ungarn – im Umfang ähnlich wichtig wie die GAP-Gelder – will die Kommission hingegen um ein Viertel reduzieren, denn künftig soll auch die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen ein Kriterium für solche Fördermittel sein. Für die Agrarzahlungen brauchen die Regierungen in Warschau und Budapest solche Konsequenzen allerdings nicht zu fürchten: Die GAP gilt gleichermaßen in der ganzen Union und bleibt eine stabile Einnahmequelle. So könnte sich ausgerechnet der traditionellste Sektor der EU, die Finanzierung der Landwirtschaft, als wichtiges Mittel im Kampf gegen die politische Erosion der Union erweisen.
Dietmar Bartz ist Journalist in Berlin. Der vorliegende Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem „Agrar-Atlas 2019“, herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung, BUND und Le Monde diplomatique. Dieser Beitrag erscheint unter der Lizenz CC BY 4.0, UrheberIn: Bartz/Stockmar. Bedingungen für die Nutzung: creativecommons.org/licenses/by/4.0/legalcode.de.