11.10.2018

Wie Zeit zu Geld wurde

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Wie Zeit zu Geld wurde

von Cosima Dannoritzer

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Stellen Sie sich vor, sie müssten Ihren Chef jedes Mal um Erlaubnis fragen, ob Sie pinkeln gehen dürfen. Dafür sollte doch eigentlich immer Zeit sein, oder?

Doch das ist keinesfalls überall so – und genau darum geht es bei einer Versammlung von Arbeiterinnen im Northwest Arkansas Worker’s Jus­tice Center in der Südstaatenkleinstadt Spring­dale, nicht weit von der Grenze zu Oklahoma und Missouri. Trotz müder Gesichter dauert die hitzige Debatte bis tief in die Nacht.

Hilda, Fließbandarbeiterin bei der Tyson Fastfood-Fabrik, berichtet, dass eine Supervisorin ihre Toilettenpausen mit der Stoppuhr timt und manchmal sogar an die Tür klopft, bevor Hilda ihre Notdurft verrichtet hat. Ihrer Kollegin Maria steigen vor Wut die Tränen in die Augen, als sie erzählt, ihr und anderen bleibe nichts anderes übrig, als während der Schicht Windeln zu tragen. Obwohl sie bei der Arbeit schwitze, traue sie sich kaum, etwas zu trinken.

„Ich hatte so etwas von Firmen in Entwicklungsländern erwartet, aber nicht in den USA“, sagt Oliver Gottfried von der NGO Oxfam America. Er ist Koautor einer detaillierten Studie, die in den USA von 250 000 betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern spricht.

Auch in Europa hört man von Fällen in Callcentern, an Hotelrezeptionen und auf Baustellen. In Logistikzentren von Amazon in Großbritannien fand der Journalist James Bloodworth mit Urin gefüllte Flaschen auf den Regalen. „Das Management sieht die fünf Minuten Klopause als verlorenen Profit“, erklärt der britische Journalist Jawad Qasrawi, der die Rubrik „Toilet Break News“ im gewerkschaftsnahen Hazards Magazine ins Leben rief.

Zeit ist Geld. Wir leben in einer Welt, in der nicht nur die Industrie vom Gedanken der Zeiteffizienz besessen ist; auch als Privatmensch fühlen sich viele immer mehr unter Druck, jede einzelne Minute produktiv zu nutzen. Wir sprechen von Zeit „sparen“ und „investieren“ oder davon, dass etwas zu viel Zeit „kostet“.

Wie konnte es dazu kommen, dass das Ticken der Uhr derartig die Kon­trol­le über unser Leben übernommen hat? Gab es da nicht einmal eine Zeit, in der nur die Sonne – und vielleicht noch die Kirchturmuhr – eher ungenau die Stunde anzeigten, und es niemandem im Traum eingefallen wäre, Zeit und Geld als Gleichung zu betrachten? Es war die Erfindung der Eisenbahn, die diese idyllische Epoche vor etwa 150 Jahren abrupt beendete.

„Die Eisenbahn machte uns zu Zeitreisenden“, sagt der Historiker Robert Levine. „Man stieg zum Beispiel in Oakland, Kalifornien, in den Zug; Abfahrt war um 15 Uhr. Der erste Halt in Sacramento war 45 Minuten später, doch die Bahnhofsuhr zeigte dort erst 14.45 Uhr.“ Wer damals mit dem Zug die USA durchquerte, musste seine Uhr bis zu 220-mal umstellen, da die Standardzeit noch nicht erfunden war und jedes Städtchen in seiner eigenen, lokalen Zeitzone lebte.

Im August 1853 prallten in der Nähe von Boston zwei Züge frontal auf­ein­ander; 14 Menschen starben. Die Ursache des Unfalls: Die Uhren der beiden Zugchefs waren nicht synchron. Die Differenz betrug nur wenige Minuten, genug, um die beiden Züge auf Kol­li­sions­kurs zu schicken. Kurz darauf führten die Bahnbetreiber die sogenannte Eisenbahnzeit ein: Die Standardzeit war erfunden.

1890 ging es weiter mit der Erfindung der Stechuhr. Ab jetzt wurde das Kommen und Gehen der Fabrikarbeiter genauestens kontrolliert. Zeit war zum Rohstoff geworden, der von den Fabrikbesitzern genauso eingekauft, investiert und abgerechnet wurde wie das Material am Fließband. „Jetzt verbinden sich Zeit, Geld und auch Macht“, formuliert es Robert Levine.

Die Moralvorstellungen passten sich flugs an. Das Wort „Pünktlichkeit“ erlangte seine heutige Bedeutung und avancierte zur hochgeschätzten Eigenschaft des modernen, vorwärtsblickenden Menschen. In der Schule wurde die Botschaft den Kindern durch Geschichten vermittelt, in denen das kleinste Herumtrödeln zu tragischen Unfällen führte.

Uhren wurden ein beliebtes Geschenk zu religiösen oder weltlichen Ini­tiationsritualen wie Konfirmation oder Volljährigkeit; sie stellten ein Symbol der Verantwortung dar, die ab jetzt von den jungen Erwachsenen zu tragen war. Im Stadtbild schossen die öffentlichen „Normaluhren“ – also Uhren, die die jeweilige „Normalzeit“ anzeigten – wie Pilze aus dem Boden; prächtige Zifferblätter auf Banken und Firmensitzen gesellten sich zu den Kirchturmuhren.

Den Verfechtern des industriellen Kapitalismus reichte es bald nicht mehr, die Länge einer Fabrikschicht genau zu kontrollieren. Ihr nächstes Ziel wurde die Erhöhung der Produktivität innerhalb jeder einzelnen Arbeits­stunde.

Diverse Versuche, in den Fabriken per Stoppuhr einen erhöhten Rhythmus zu erzwingen, schlugen zunächst fehl; erschöpfte Fabrikarbeiter legten gar 1912 beim US-Kongress Beschwerde ein, dass sie doch keine Rennpferde seien. Doch bald darauf wurde eine neue Methode erfunden, die Arbeit zu rationalisieren.

In dem Bestseller „Im Dutzend billiger“ von 1948 erzählen die Geschwister Frank Bunker Gilbreth jr. und Ernestine Gilbreth Carey das Aufwachsen in einer Familie mit zwölf Kindern. Das Besondere daran: Ihre Eltern Frank Bunker Gilbreth sen. und Lillian Evelyn Gilbreth waren die erfolgreichsten Effizienzexperten ihrer Zeit. Sie wussten nicht nur, wie man einen großen Haushalt organisiert, angefangen mit dem Zähneputzen am Morgen in nur zwei Badezimmern.

Im frühen 20. Jahrhundert, in dem die Bilder gerade laufen gelernt hatten, filmten sie Fabrikarbeiter an ihrem Arbeitsplatz mit einer Uhr im Vordergrund und erstellten damit sogenannte Time and Motion Studies: Sie sichteten das Material Bild für Bild und zerlegten den Vorgang in kleinste Teilbewegungen, wie zum Beispiel „Greifen“, „Hochheben“ oder „Loslassen“. Ziel war es, kostbare Sekunden zu sparen, indem überflüssige Bewegungen systematisch eliminiert oder verkürzt wurden.

Einige von den originalen Filmaufnahmen haben in den Archiven überlebt. In einer Szene sieht man, wie die Gilbreths einen ganzen Arbeitsplatz neu anordnen. Da jetzt alle Materialien in bequemer Reichweite waren, konnte die Arbeiterin, ohne wie vorher ständig umhergehen zu müssen, mit kürzeren Bewegungen und sogar im Sitzen arbeiten; ihre Produktivität verdoppelte sich prompt. Gilbreth-Expertin Jane Lan­caster sagt: „Das waren die Vorreiter der Ergonomie. Wer nicht so schnell erschöpft, ist produktiver. Und das ist in aller Interesse.“

Im Zweiten Weltkrieg fand diese Methode begeisterte Aufnahme in den Munitionsfabriken. Ein US-Propagandafilm von 1942 erklärt die Zeit zum „wichtigsten Rohstoff einer Nation zu Kriegszeiten“ und verleiht ihrer Bedeutung, wie schon zu Zeiten der Erfindung der Stechuhr, mit Schreckensbeispielen Nachdruck: Die wenigen Minuten, in denen sich eine Muni­tions­arbeiterin eine unerlaubte Zigarettenpause gönnt und eine fehlerhafte Patrone produziert wird, kosten einen Soldaten das Leben; in einem anderen Beispiel ist ein Angestellter gar schuld am Sinken eines ganzen Schiffs.

In den 1950er Jahren nahm Lillian Evelyn Gilbreth die Sandwichproduk­tion eines Cafés unter die Lupe; gleichzeitig führte einer ihrer Schüler, Marvin E. Mundel, Zeitstudien in einer Geflügelfabrik durch. Der Effizienzgedanke hatte seine logische Fortsetzung gefunden: Wer nur kurze Arbeitspausen hat, muss schneller essen; sowohl ­Angestellte wie Konsumenten der rapide anwachsenden Fastfoodindustrie wurden dem Diktat der Uhr unterworfen.

Der Ergonomikgedanke der Gilbreths ist bei manch einer modernen Produktionsanlage längst von reinem Profitdenken überholt worden. Firmen setzen auf immer ausgefeiltere Techniken, um „Zeitdiebe“ in die Schranken zu weisen – wie eben bei den schon erwähnten Toilettenpausen.

Jawad Qasrawi berichtet von Logistikzentren, in denen GPS-Tracker kontrollieren, ob Angestellte den direktesten Weg zur Toilette nehmen und dort nicht zu lange verweilen; eine britische Firma händigte Chipkarten aus und zog die Toilettenpausen kurzerhand von Arbeitszeit und Lohn ab.

Wie Robert Levine in einer Langzeitstudie feststellte, hat unsere Gehgeschwindigkeit in den letzten Jahrzehnten stetig angezogen; wir reden schneller und nehmen uns weniger Zeit für einander. In den USA und in Japan gibt es Drive-Thru-Bestattungsunternehmen, die den Angehörigen ermöglichen, sich im Vorbeifahren zu verabschieden, ohne das Auto auch nur anzuhalten. Hat die Uhr den Menschen also zu einer Maschine gemacht, die 24 Stunden am Tag produktiv sein soll, die nicht mehr innehalten darf?

Die US-amerikanischen Fließbandarbeiterinnen von Tyson Foods in Springdale sehen das anders. Zusammen mit Oxfam haben sie 150 000 Unterschriften gesammelt und dem Management der Geflügelfabrik überreicht. Und als 2010 ein Arbeitgeber in Deutschland seinem Angestellten Teile der Lohnzahlung verweigerte, weil der „erhebliche“ Teile der Arbeitszeit auf der Toilette verbracht habe, klagte der Arbeitnehmer. Das Arbeitsgericht Köln urteilte in seinem Sinne, dass nämlich Toilettenaufenthalte von bis zu 30 Minuten am Tag noch keine Lohnkürzung rechtfertigten.

„Die Menschen haben angefangen, um ihre Zeitrechte zu kämpfen“, sagt Robert Levine. Wann die temporale Selbstbestimmung zum demokratischen Grundrecht werden wird, ist also – hoffentlich – nur noch eine Frage der Zeit.

Cosima Dannoritzer ist Dokumentarfilmautorin („Kaufen für die Müllhalde“). Ihr neuer Film „Zeit ist Geld“ steht bis Ende November frei in der Arte-Mediathek zur Verfügung.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.10.2018, von Cosima Dannoritzer