Brief aus Buenos Aires
von María Sonia Cristoff
Vom Kochen verstehe ich nicht allzu viel, trotzdem kenne ich mich – aus Gründen, die hier keine Rolle spielen – mit Kochutensilien ziemlich gut aus: Ich weiß zum Beispiel, dass eine Kasserolle ein Küchengeschirr mit einem etwa zehn Zentimeter hohen Rand ist. Wäre der Rand niedriger, spräche man von Pfanne, wäre er höher, von Kochtopf. Ich sah auf die Uhr und las mit leiser Verzweiflung noch einmal das Rezept durch. Es waren nur noch wenige Stunden bis zum Eintreffen der Freunde, die ich zum Essen eingeladen hatte, und ich konnte nicht begreifen, wie ich imstande gewesen war, das, was ich ihnen vorsetzen wollte, in einem Topf statt wie eigentlich nötig, in einer Pfanne zuzubereiten und damit zu ruinieren. Wie hatte ich einen solchen Fehler begehen können?
Bis etwas in meiner Erinnerung aufleuchtete und mir klar wurde, dass es sich hier um keinen Fehler, sondern um eine Bedeutungsverschiebung handelte, und dieser Verschiebung ließ sich ein Datum zuordnen: Dezember 2001. Damals brach in diesem Land alles in sich zusammen, und die Leute gingen in Massen auf die Straßen, um mit dem Erstbesten, was sie in der Speisekammer gefunden hatten, lautstark ihre Wut und ihren Protest zum Ausdruck zu bringen. Und all die Küchenwerkzeuge, die sie damals benutzten, wurden ausnahmslos als „Kasserollen“ bezeichnet, und die dazugehörigen Proteste als „Cacerolazos“.
Einige Stunden später, das Essen war beim Lieferservice bestellt, teilte ich meinen eintreffenden Freunden mit, dass es die angekündigte Speise nach Art des Hauses leider nicht geben werde. Dafür würden wir, das sei doch auch nicht schlecht, zu unmittelbaren Zeugen einer dieser Veränderungen, wie Wörter sie im Lauf der Zeit erfahren, etwas, was wir sonst nur durch die Lektüre etymologischer Wörterbücher erfahren.
Und ich erklärte, dass hierzulande seit dem Jahr 2001 alle topfartigen Gegenstände, die wir zum Kochen aus der Speisekammer holen, Kasserolle genannt werden und dass dieses Wort außerdem eine zusätzliche Bedeutung angenommen habe: In dem Begriff schwängen seither auch der Überdruss an veralteten Formen von Politik und die Möglichkeit radikaler Veränderungen mit.
Ich sagte das als – wenngleich nicht ganz unernst gemeinten – Witz. Normalerweise wendet man sich dann bald einem anderen Thema zu. Aber diesmal war es anders, diesmal entwickelte sich das, was als leichtes Essen an einem Freitagabend gedacht war, zu einem Runden Tisch über die Kasserolle als lexikalischen Begriff und die Cacerolazos als Wendepunkt in der jüngeren argentinischen Geschichte.
Das Gespräch fügte sich zu einem großen gemeinsamen Text, zu dem alle in schnellem Rhythmus und unvorhersehbar etwas beisteuerten: einen Kommentar, einen Satz, eine ironische Bemerkung, eine Provokation. Wenn die Krise von 2001 etwas bewirkt hatte, dann dass auch im intimsten, privatesten Bereich wieder über Politik diskutiert wurde, ein Element der argentinischen Alltagskultur, das während der Jahre der letzten Militärdiktatur (1976 bis 1983) nahezu ausgelöscht gewesen war. Nach kurzem Wiederaufleben während der Rückkehr zur Demokratie verschwand es dann in den 90er Jahren wieder, als eine neoliberale Variante des Peronismus herrschte, die das Land in eine Art Betäubungszustand versetzte. In Wirklichkeit lag es aber nicht nur an der Betäubung. Es herrschte damals vielmehr so etwas wie ein stillschweigendes Einverständnis, dass wir im Grunde doch alle mehr oder weniger derselben Meinung seien. Dagegen erhoben die Cacerolazos lautstark Einspruch, und seither hieß es Farbe bekennen, und mit dem stillschweigendem Einverständnis war es vorbei.
Entsprechend gingen an dem Abend, an dem ich das Essen verpatzt hatte, die Ansichten über die Cacerolazos weit auseinander. Einer der Gäste – es hatte sich im Wesentlichen dieselbe Runde eingefunden, die schon vor zehn Jahren regelmäßig zusammengekommen war – äußerte die Meinung, auch zehn Jahre später sei für ihn von den sich damals ankündigenden Veränderungen bis heute nichts zu bemerken. Letztlich seien die Cacerolazos ein bloßes Strohfeuer gewesen, das die Mittelschicht aus Zorn darüber entfacht habe, dass man sich an ihren Ersparnissen vergriffen hatte. Diese Leute hätten niemals die Absicht gehabt, einen Schritt vorwärts zu tun, sie hätten vielmehr zu einem Zustand zurückkehren wollen, bei dem ihr Geld noch unantastbar war.
Ein anderer unterstützte ihn mit einem Zitat des Soziologen Horacio González, der behauptet, auch wenn damals alle Welt auf die Straße gegangen sei, könne man die Kasserolle als Symbol für den Wunsch betrachten, sich möglichst bald wieder in die häusliche Umgebung zurückzuziehen. Ein Dritter hielt dagegen, es hätten sich außer den Besitzern von Sparguthaben doch auch ganz andere Bevölkerungsteile an den Protesten beteiligt, so etwa Arbeitslose, Piqueteros und Studenten, und viele von ihnen seien bis heute im Widerstand aktiv.
Jemand versuchte das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen und sagte, das Einzige, was für ihn bei dem Begriff „Kasserolle“ mit anklinge, sei die Bedeutung, mit der er seit jeher im Fußballstadion verwendet werde: als ein anderes Wort für Vagina. Und die ganze Verwirrung rühre bloß daher, dass Intellektuelle und Künstler nie ins Stadion gingen. Um zum Thema zurückzukehren, äußerte ein anderer die Meinung, die Intellektuellen und Künstler hätten damals, im Jahr 2001, nicht begriffen, worum es bei den Cacerolazos und den Räten, die sich seinerzeit in den Stadtteilen gebildet hätten, eigentlich gegangen sei, und sie begriffen es bis heute nicht.
Wieder ein anderer Gast fand diese Haltung populistisch und begann, um ihr konkrete Beispiele entgegenzusetzen, mit der Aufzählung von Romanen, die das Thema sehr wohl und auf überzeugende Weise aufgriffen. So lege etwa Gabriela Massuhs Roman „La intemperie“ Zeugnis davon ab, wie ein Künstlerkollektiv seinerzeit versucht habe, andere Formen politischer Repräsentation zu erproben, wie sie der Schlachtruf der Cacerolazos eingefordert habe: „Sie sollen alle verschwinden!“ Jemand fügte hinzu, einzig die Peronisten hätten sich diesen Schlachtruf tatsächlich zu eigen gemacht und ihn – obwohl er eigentlich an die gesamte politische Klasse, wie man sie bis dahin kannte, gerichtet gewesen sei – mit gewohntem Geschick in die Forderung übersetzt: „Verschwinden sollen alle außer uns!“
Heute muss ich wieder an dieses Essen und diese Diskussion vor ein paar Wochen denken, denn Mitte September hat es tatsächlich zum ersten Mal seit Jahren wieder einen richtig großen Cacerolazo in Argentinien gegeben; für den 8. November ist schon der nächste geplant. Die Diskussion am Esstisch ist offensichtlich in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Anders als vereinzelte Cacerolazos während der letzten zwei Jahre, bei denen diverse reaktionäre Interessengruppen den Versuch unternahmen, sich eine Protestform anzueignen, die 2001 von der Mehrheit praktiziert wurde und damals durchaus revolutionäres Potenzial besaß, wurde der Cacerolazo im September durch soziale Netzwerke organisiert und brachte teilweise sehr unterschiedliche Gruppierungen zusammen; und das nicht nur in Buenos Aires, sondern auch in vielen anderen argentinischen Städten.
Manche Teilnehmer gingen auf die Straße, um ihre Ablehnung der Regierung zum Ausdruck zu bringen, andere, um Forderungen an eben diese Regierung zu stellen, zwei völlig verschiedene Dinge, die der Kirchnerismus trotzdem zu verwechseln beschloss. Das kann er machen, aber er sollte nicht weghören wie gewöhnlich. Der Kirchnerismus in seiner aktuellen Form hat sich angewöhnt, alle zu ignorieren, die sich nicht bei ihm einreihen, er ignoriert die Statistiken, die ihm nicht in den Kram passen, die Entscheidungen des obersten Gerichtshofs und die parlamentarische Opposition, die, nebenbei bemerkt, auch nichts übermäßig Überzeugendes beizusteuern hat. Weshalb die Leute jetzt also wieder die Stimme erheben – beziehungsweise die Kasserolle, was aufs Gleiche hinausläuft – und eine der interessantesten Erfahrungen aus dem Jahr 2001 wiederholen: dass Macht etwas ist, das jeder Bürger besitzt und das er ausüben kann.
Und jetzt, während sich eine Alternative zu den großmäuligen Behauptungen der Regierung auf der einen und dem Gestammel der parlamentarischen Opposition auf der anderen Seite zu formulieren scheint, denke ich, dass es zutreffend ist, wenn die Soziologin Maristella Svampa die Botschaft der Cacerolazos mit zivilem Ungehorsam in Verbindung bringt. Dabei bezieht sie sich auf ein Kasserollendenkmal, das sie in einem kleinen Dorf im Norden Argentiniens entdeckt hat. Es wurde anlässlich der Absetzung des örtlichen Bürgermeisters errichtet und trägt die Inschrift: „Staatsbeamter, die Kasserolle hat dich im Auge!“
Während ich ein Foto dieses Denkmals betrachte, wird mir klar, dass dieses sogenannte Denkmal mehr dem Einfallsreichtum des Volks entsprungen ist als der ein oder anderen ästhetischen Schule; ein Einfall, der – um noch einmal auf den lexikalischen Faktor der Proteste zurückzukommen – von keiner Regierung mit Einfalt in einen Topf geworfen werden sollte.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen María Sonia Cristoff ist Schriftstellerin und Reporterin in Buenos Aires. Auf Deutsch erschienen: „Patagonische Gespenster“, 2010, und „Unbehaust“, Berlin (Berenberg) 2012. © Le Monde diplomatique, Berlin