07.06.2018

Brief aus Puebla

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Brief aus Puebla

von Sandra Weiss

Der Vulkan Popocatépetl ist Pueblas Wahrzeichen SANDRA WEISS
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Es gibt kein Entkommen. Was ich früher spannend fand – von wegen Fest der Demokratie, Wettstreit der Ideen –, kommt mir nach diesem mittlerweile fünf Monate andauernden mexikanischen Wahlkampf wie eine unerträgliche Farce vor. Unterlegt von schmissiger Salsamusik und Reggae, geht es schon im Morgenradio mit den Werbespots der Kandidaten los, ab und zu unterbrochen von einer Warnung des Wahlgerichts, ja nicht seine Stimme zu verkaufen oder sich seinen Personalausweis im Tausch für einen Sack Zement abschwatzen zu lassen. Vielen Dank auch für den Hinweis!

Unterwegs zur Arbeit werde ich alle hundert Meter von riesigen Plakatwänden traktiert. Da wirbt ein Enrique Doger für #CambioSeguro – sicheren Wandel –, was man sich nicht so recht vorstellen kann, gehört er doch der regierenden Partei der Institutionellen Revolution (PRI) an, unter der die Kriminalitätsrate in Mexiko Rekordhöhen erreicht hat. Von einem anderen Plakat lächelt die Pro-Forma-Gattin des schwulen Exgouverneurs, der selber nicht mehr kandidieren darf, und bittet um meine Stimme „von Frau zu Frau“. Und auf dem nächsten verkünden Miguel Barbosa, der in Puebla für das Wahlbündnis „Gemeinsam schreiben wir Geschichte“ („Juntos Hacemos Historia“) antritt, und der Mann, der endlich Präsident werden will, Andrés Manuel López-Obrador: „Gemeinsam besiegen wir die Korruption.“

Damit sprechen die beiden Ex-PRI-Politiker zwar vielen aus dem Herzen – bei genauerer Betrachtung aber schlägt dieses bizarre Bündnis aus Obradors linker Bewegung der Nationalen Erneuerung („Morena“), Evangelikalen und Überläufern anderer Parteien genau das Gegenteil vor, nämlich die von der Zivilgesellschaft hart erkämpfte Bürgerbeteiligung im Antikorruptionskampf abzuschaffen.

Meine Handynummer habe ich für Werbeanrufe sperren lassen, was mir aber nur die Versicherungsvertreter und Mobilfunkanbieter vom Leib hält. Die Wahlkampfhelfer und Anrufer aus den Umfrageinstituten erkenne ich sofort am auswendig gelernten Singsang, den ich mit einem Satz („Ich bin nicht wahlberechtigt!“) abwürge.

Manchmal überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Denn es ist ja nicht so, dass es egal ist, wer am 1. Juli gewinnt. Mexiko steckt in einem Schlamassel, wie zuletzt vor 25 Jahren, als der Peso in den Keller stürzte, das Land zahlungsunfähig war, ein Präsidentschaftskandidat ermordet wurde und die Zapatistenguerrilla den Aufstand gegen das Establishment probte. Heute versinkt das Land in Korruption und Straflosigkeit, die USA haben den Freihandelsvertrag Nafta infrage gestellt, auf dem Mexiko seine gesamte Wirtschaftsstrategie aufgebaut hat, und die Drogenmafia schickt sich an, das Land zu übernehmen.

Mehr als 90 Kandidaten wurden in diesem Wahlkampf schon ermordet – weil sie sich nicht erpressen ließen oder dem gegnerischen Kartell zugeordnet werden – und tausend haben ihre Kandidatur zurückgezogen. Es gibt Gegenden, die von der Mafia terrorisiert werden, und andere, wo statt der Mafia nun Bürgerwehren das Sagen haben. Beide sind im Prinzip No-vote-Areas.

Das entspricht ungefähr der Situation in Kolumbien in den 1990er Jahren, wo am Ende Narco-Paramilitärs ein Drittel des Kongresses, hunderte von Gemeinden sowie Richter, den Geheimdienst und Provinzgouverneure kontrolliert haben. Ihre Drähte reichten sogar bis in den Präsidentenpalast von Álvaro Uribe. Mexikaner hören den Vergleich mit Kolumbien nicht gern. Und ebenso wenig gefällt ihnen die Vorstellung, Korruption und Straflosigkeit mithilfe einer internationalen Ermittlerkommission zu bekämpfen, so wie es das Nachbarland Guatemala erfolgreich vorgemacht hat.

Was wären denn ihre Rezepte für mehr Sicherheit und sozialen Frieden? Um das herauszufinden, habe ich die erste Livedebatte der Präsidentschaftskandidaten verfolgt (siehe auch den Artikel auf Seite 17). Da schlug man etwa vor, Diebstahl und Korruption mit Handabhacken zu bestrafen oder, wie der US-Präsident, in den Schulen die Lehrer zu bewaffnen.

Das eindeutig Beste an dieser Debatte waren die zahlreichen Memes, die sofort auf Twitter und Face­book zirkulierten, und die Momente, wenn die Veranstalter den Kandidaten das Mi­kro abdrehten, sobald sie ihre Redezeit überschritten hatten.

Politik als inhaltsfreies Spektakel: Das hielten meine Kommilitoninnen und ich während des Politikstudiums Mitte der 1990er Jahre in Paris noch für ausgeschlossen. Der Neoliberalismus hatte zwar schon damals die wirtschaftswissenschaftliche Dozentenschar am Institut d’etudes politiques infiziert. Aber als in Soziologie die Sprache auf „Politik als Marke und Ware“ kam, waren wir – unter dem Eindruck der Habermas’schen Theorie vom kommunikativen Handeln emanzipierter Bürger im öffentlichen Raum – fast alle davon überzeugt, dass dies eine Übertreibung war und sich ökonomische Konzepte nur bedingt auf die Politik übertragen lassen. Wir irrten, und Niklas Luhmann mit seiner vernichtenden Kritik an Habermas’ idealistischen Prämissen behielt recht.

Aber nicht überall herrscht finstere Nacht, nicht einmal in Mexiko. Als vor sechs Jahren die mit millionenschweren Werbeetats auf Linie gebrachten Medien das Land in den politischen Dornröschenschlaf versetzten, erhoben sich die Studentinnen und Studenten und buhten bei einer Wahlveranstaltung den Präsidentschaftskandidaten Enrique Peña Nieto (PRI) aus. Aus dem spontanen Uni-Protest entstand die Bewegung #Yosoy132, die später wichtige Reformen anstieß, wie etwa die Zulassung unabhängiger Kandidaten oder die Einschränkung von staatlicher Werbung. Bis vor Kurzem konnte nämlich jeder Gouverneur, Bürgermeister sowie der Präsident unbegrenzt in eigener Sache Imageanzeigen schalten. Die Bürgerbewegung hätte diese Unsitte gern ganz verbieten lassen, nun gibt es immerhin ein Gesetz, das die aus Steuermitteln finanzierte Eigenwerbung der Politiker einschränkt.

In den beiden größten Kommunen, Mexiko-Stadt und Guadalajara, ist die Bewegung besonders aktiv. Einer ihrer bekanntesten Vertreter ist Pedro Kumamoto, der 2015 im Alter von 25 Jahren für seinen Bundesstaat Jalisco als erster unabhängiger Kandidat in den Kongress einzog. Inzwischen hat Kumamoto, der sich selbst als Sozialdemokrat bezeichnet, eine eigene Bewegung gegründet: Wikipolitíca ist jung, links, überparteilich und vor allem kreativ. Sie finanziert sich über Crowdfunding und private Spender, deren Namen in selbstverpflichtender Transparenz offengelegt werden. Kumamoto hat gezeigt, dass man auch mit wenig Geld in die Politik gehen kann, und das hat viele beeindruckt.

In diesem Wahljahr treten 15 Kandidaten für Wikipolitíca an, um im Parlament, im Senat und in den Re­gionalparlamenten von Jalisco, Mexiko-Stadt, Nuevo León und Yucatán Politik zu machen. Kumamoto selbst will in den Senat einziehen und hat laut Umfragen gute Chancen. Seine Themen – das Recht auf kostenlose Bildung, Gesundheit und Infrastruktur – liegen besonders den Angehörigen der mittleren Einkommensklasse am Herzen, zu der in Mexiko inzwischen die Bevölkerungsmehrheit gehört (den Reichen ist das egal, die regeln das alles privat, und die Armen kämpfen ums Überleben).

„Wenn wir verhindern wollen, dass andere für uns entscheiden, müssen wir selber in die Politik“, lautet Kumamotos Motto. Auf seine Initiative hin, und das war bislang sein größter politischer Erfolg, wurde 2017 in Jalisco die staatliche Parteienfinanzierung gesenkt. Wer Kumamoto interviewt, muss damit rechnen, dass das Gespräch ein paarmal unterbrochen wird, von Bürgern, die ihn umarmen, ihn beglückwünschen oder ihn als „Inspiration“ bezeichnen. Etwas, wovon die meisten Politiker in Mexiko heute nur träumen können.

Noch ist der junge Mann, der seinen Jeans treu geblieben und viel auf dem Fahrrad unterwegs ist, ein Einzelkämpfer ohne Einfluss, Geld und Posten. 70 Jahre lang herrschte in Mexiko die PRI mit ihrer Kultur der Eliten einbindenden Kooptation und Vetternwirtschaft. „Uns wurde eingebläut, dass man so und nicht anders Politik macht“, sagt Kumamoto, der genau das verändern will.

Sandra Weiss ist freie Journalistin in Puebla.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.06.2018, von Sandra Weiss