09.05.2018

Der Sojakönig und sein Präsident

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Der Sojakönig und sein Präsident

von Anne Vigna

Mahnwache eines Lula-Fans vor dem obersten Gerichtshof ERALDO PERES/ap
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Das große Treffen findet immer dienstags in einer prächtigen Villa in einem Reichenviertel von Brasília statt. „Es handelt sich dabei um ein Mittagessen, die Karte variiert von Woche zu Woche“, erklärt der Kommunikationsbeauftragte der „Ruralisten-Fraktion“. Auf der „Karte“ stehen jedoch keine Speisen, sondern Themen, über die die Großgrundbesitzerlobby des brasilianischen Parlaments zunächst im kleinen Kreis diskutiert, bevor sie im Kongress oder im Planalto, dem Präsidentenpalast, vorgetragen werden.

„Genau darum geht es: Sie diskutieren darüber, zu welcher Soße die Rechte der indigenen Bevölkerung oder die Agrarreform vertilgt werden sollen“, spottet Alceu Castilho, Verantwortlicher der Beobachtungsstelle „Ein waches Auge auf die Ruralisten“.

Seit dem Amtsantritt von Michel Te­mer 2016 hat die Parlamentsfraktion der Ruralisten ihren Einfluss enorm verstärkt. Ihr Trumpf? Sie hat die Hälfte der Stimmen geliefert, die im Kongress die Amtsenthebung Dilma Rousseffs besiegelten. Ohne diese Unterstützung könnte sich Temer, der in der Bevölkerung so gut wie keinen Rückhalt besitzt (weniger als 5 Prozent der Brasilianer sind mit ihm zufrieden), nicht an der Macht halten. Es überrascht daher nicht, dass der Präsident schon mehrfach zu besagtem Mittagstisch eingeladen war.

In den letzten zwei Jahren sei man durchaus zufrieden gewesen mit dem Präsidenten, sagt João Henrique Hummel, Geschäftsführer des Instituto Pensar Agro (IPA) und Gastgeber der wöchentlichen Mittagessen: „Aber es gibt nach wie vor einige Blockaden, die wir aufbrechen müssen.“ Das IPA sei ein „nichtkommerzieller Thinktank“, in dem die 40 größten Landwirtschaftsorganisationen Brasiliens versammelt sind, die ebenfalls „keine kommer­ziel­len Interessen“ verfolgten, wie Hummel betont. Das Institut finanziert die Aktivitäten der Ruralisten-Fraktion, erarbeitet Vorschläge und analysiert Gesetzesvorhaben. Hinsichtlich der erwähnten „Blockaden“ erinnert Hummel an „zwei Rückzieher“, die Temer gemacht hat.

Zum einen hatte Temer im Oktober 2017 zunächst per Dekret und in Übereinstimmung mit den Interessen der Ruralisten das Gesetz aufgeweicht, das „sklavenartige Arbeitsverhältnisse“ verbietet und auf dessen Grundlage Beamte des Arbeitsministeriums insgesamt 2264 Arbeiter aus 165 Unternehmen, insbesondere aus Fazendas (landwirtschaftliche Großbetriebe), befreit hatten. Zum anderen wollte er einen der größten Nationalparks der Amazonasregion, die Reserva Nacional do Cobre e Associados (Renca), für den Bergbau freigeben. In beiden Fällen hagelte es internationale Proteste – und Temer musste zurückrudern.

Die beiden Initiativen gehörten zu dem Maßnahmenpaket, mit dem Temer die Ruralisten-Fraktion für die Aufhebung der Korruptionsermittlungen gegen ihn belohnen wollte. Hummels Freunde können sich aber immerhin damit trösten, dass der Präsident ihre Erwartungen bei 13 von 17 „Schwerpunktthemen“ erfüllt hat.

Die Ruralisten beklagen in erster Linie Hemmnisse, die die territoriale Expansion der Lebensmittelindustrie im Amazonasgebiet erschweren. Das Wort Flexibilisierung ist dabei ein Schlüsselbegriff für die Agrarlobby. Flexibilisiert werden sollen zum Beispiel die Vor­analysen für die Erteilung von Ab- und Anbaugenehmigungen (im Bergbau- und im Agrarsektor) ebenso wie die bislang obligatorischen Umweltverträglichkeitsprüfungen.

Bereits durchgesetzt haben die Ruralisten ein Gesetz, das ausländischen Firmen gestattet, in Brasilien unbegrenzt Land zu erwerben. Außerdem forderten sie eine Beseitigung „historischer Handelshemmnisse“ – gemeint waren damit die Rechte der Indigenen und der Quilombolas (Nachkommen afrobrasilianischer Sklaven) sowie die Verpflichtung des brasilianischen Staats, eine Bodenreform durchzuführen, um die Ungleichverteilung von Grundbesitz zu verringern.

Mit Erfolg: Die Regierung Temer schlug eine Verfassungsreform vor, die darauf zielte, die Regeln für die Anerkennung von Indigenen- und Quilombola-Territorien zu ändern. Ferner kürzte der Präsident das Budget von zwei wichtigen öffentlichen Einrichtungen: der staatlichen Siedlungs- und Agrarreformbehörde Incra und der für den Schutz indigener Völker zuständigen Fundação Nacional do Índio (Funai).

In einer seiner ersten Amtshandlungen schaffte Temer das Ministe­rium für ländliche Entwicklung ab, das sich für die Interessen der Kleinbauern einsetzte. Ein vor Kurzem verabschiedetes Gesetz schränkt zudem den Umfang der Bodenreform ein. Außerdem ermöglicht es die Anerkennung unrechtmäßig und zu Spottpreisen erworbener Territorien – eine Praxis, die unter Fazendeiros (Großgrundbesitzer) schon seit Langem weit verbreitet ist.

„Dieses Gesetz ist eine sehr schmerzhafte Niederlage für die Demokratisierung der Grundbesitzstrukturen“, sagt Juliana Malerba, die an der Universität Rio de Janeiro Umweltrecht lehrt. „Die geänderten Vorschriften werden zu einer noch größeren Konzentration des Grundbesitzes führen. Dabei gibt es bereits zahlreiche Steuer­vergünstigungen und Schuldennachlässe für Großgrundbesitzer.“

Seit 2016 ist außerdem ein führender Ruralist Landwirtschaftsminister: Blairo Maggi, besser bekannt unter dem Spitznamen „Sojakönig“. Sein Unternehmen, die Amaggi Group, ist der größte private Sojaproduzent der Welt. Der Konzern tauchte Ende 2017 in den Paradise Papers auf, weil er zusammen mit der Louis Dreyfus Group ein profitables Joint Venture auf den Kaimaninseln gegründet hatte.

„Die aktuelle Regierung hat im Agrarbereich sämtliche Umweltvorschriften aufgehoben – von genetisch verändertem Saatgut bis hin zu Kunstdünger“, sagt Frederico Marés de Souza Filho, Professor für Agrarrecht an der Päpstlichen Katholischen Universität von Paraná. „Dabei gab es schon davor fast keinen gesetzlichen Rahmen. Das neue Gesetz erlaubt den Einsatz von Pestiziden, die sogar in den Ländern, in denen sie hergestellt werden, verboten sind.“

Die 235 (der insgesamt 513) Abgeordneten sowie die 27 (der 81) Senatoren aus dem Lager der Ruralisten sind voller Tatendrang. Sie haben bereits diverse Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht, die im Falle einer Zustimmung durch das Parlament wohl zu noch mehr Gewalt führen werden. Zu nennen wäre ein Gesetz, das Agrarproduzenten erlauben soll, Waffen zu tragen, oder der Vorschlag, die Landlosenbewegung und die Bewegung obdachloser Arbeiter auf die Liste terroristischer Vereinigungen zu setzen.

Darüber hinaus hat die Ruralisten-Fraktion zwei parlamentarische Untersuchungskommissionen gegen das In­cra und die Funai geleitet. Die Ausschüsse fordern juristische Nachforschungen zu 96 Personen (darunter Ethnologen, Verantwortliche nationaler und internationaler NGOs, Staatsanwälte und ehemalige Justizminister), denen die Agrarlobby „Betrug bei Grenzziehungen und Gebietsprüfungen“ vorwirft.

Obwohl die Ermittlungen bislang nichts ergeben haben, bleibt die Lage bedrohlich, zumal die Judikative, wie die brasilianische Menschenrechtsanwältin Layza Queiroz Santos erklärt, „in besonderem Maße für die Kriminalisierung sozialer Bewegungen mitverantwortlich ist. Wenn bei den Wahlen im Oktober kein Gleichgewicht zwischen progressiven und konservativen Kräften zustande kommt, sind weitere Angriffe zu befürchten.“

Während die Regierung Temer sich in den Dienst der Agrarindustrie stellt, gibt es in Brasilien weiterhin knapp 4 Millionen landlose Bauern und 66 000 ungenutzte Fazendas mit einer Gesamtfläche von 175 Millionen Hektar. „Und diese Schätzungen sind noch zu niedrig, weil die Kriterien zur Ermittlung der Produktivität aus den 1980er Jahren stammen“, sagt Marés de Souza Filho: „Wenn nichts gegen das Elend der Bauern getan wird, werden sich die Konflikte zuspitzen.“

Zwischen 2016 und 2017 hat sich die Zahl der Brasilianer, die in extremer Armut leben, von 13,34 Millionen auf 14,83 Millionen erhöht – ein Anstieg um 11,2 Prozent. Auf der Karte der Mittagessen der Ruralisten-Fraktion stand dieses Thema bislang übrigens noch nie.⇥Anne Vigna

Le Monde diplomatique vom 09.05.2018, von Anne Vigna