12.04.2018

Ungeheuer amerikanisch

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Ungeheuer amerikanisch

von Thomas Meaney und Stephen Wertheim

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Schlechte Zeiten sind oft interessante Zeiten. Das gilt auch für die Präsidentschaft von Donald Trump. Dessen Beleidigungen und Verbalattacken bringen seine Kritiker zum Nachdenken darüber, was sie eigentlich über ihr Land wissen. Die Herausforderung namens Trump hat unter den Intellektuellen in den USA ganz neue Diskussionen ausgelöst, über Rasse, Klasse, Geschlecht und über die Demokratie als solche. Ob sich das auch bei den nächsten Wahlen zeigen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin setzen sich Trumps Gegner heute mit den Gründen für dessen Aufstieg auseinander – und sehen ein, dass man etwas gegen die soziale Kluft tun muss.

Doch auf einem Gebiet tut sich auffällig wenig. Was die Außenpolitik angeht, trauern die Trump-Kritiker immer nur einem angeblich Goldenen Zeitalter nach, das mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten zu Ende sei. Das außenpolitische Establishment – von den Experten in Medien und Thinktanks bis zu Vertretern früherer Regierungen – ist heute fast einhellig der Meinung, Trump vollziehe einen radikalen Bruch mit der seit 1945 betriebenen US-Außenpolitik.

Weil sie es mit der Darstellung von Trumps Abnormität übertreiben, hat er leichtes Spiel, ihre düsteren Untergangsprognosen zu widerlegen. Dieses Denken hat nichts Besseres zu bieten als das Lob des Status quo der Vor-Trump-Ära, den die meisten langweilig bis abstoßend fanden.

Wie hat es Trump geschafft, die Koryphäen der US-Außenpolitik so zu verwirren? Es begann schon im Wahlkampf, als der Kandidat ständig die Vereinigten Staaten gegen den Rest der Welt in Stellung brachte. In gewisser Weise verkündete er damit nichts anderes als alle Kandidaten vor ihm: Kriege muss man klar gewinnen – oder gar nicht erst anfangen. Und man muss für das Land immer mehr herausholen und dabei die Belastung möglichst gering halten.

Als Trump jedoch sein „America first“ anstimmte, meinten viele Experten, damit habe er den „Isolationismus der 1930er Jahre“ zu neuem Leben erweckt. Dabei konnte man ihm durchaus abnehmen, was er behauptete: dass er nur auf der Suche nach einem guten Slogan war. Aber warum nicht dick auftragen? Der Grobian hatte es schließlich verdient, vom Weißen Haus ferngehalten zu werden. Ihn als Isolationisten abzustempeln, würde ihn doch wohl für das Amt disqualifizieren.

Diese von Vertretern beider Parteien vorgebrachte Warnung verfing bei den Wählern nicht. Aber die Experten warnten stur weiter und entdeckten ständig und überall das isolationistische Motiv: von Trumps Antrittsrede am 20. Januar 2017 bis zu seiner Aufkündigung der Transpazifischen Partnerschaft (TPP), die selbst Hillary Clinton hatte aufgeben wollen.

Diese Fehldiagnose gab Trump die Möglichkeit, seine Kritiker auszumanövrieren. Als er einen syrischen Flugplatz bombardieren ließ, mutmaßte Jeffrey Goldberg in der außenpolitischen Zeitschrift The Atlantic vom 7. April 2017, der Präsident sei „ein isolationistischer Interventionist“ und damit „etwas völlig Einmaliges in der Geschichte der US-Präsidenten“.

Nach gut einem Jahr im Amt hat Präsident Trump die Militäropera­tio­nen der USA auf allen Schauplätzen eskaliert. Er hat sich zur Nato bekannt und die Unterstützung für die traditionellen Bündnispartner der USA – von Japan bis Saudi-Arabien – verdoppelt. Er hat mit John Bolton ein schießwütiges Überbleibsel der Bush-Jahre zu seinem neuen Sicherheitsberater gemacht. Als Isolationisten kann man so jemanden kaum bezeichnen.

Dennoch halten die Trump-Kritiker an ihrer Behauptung fest, der Präsident fahre die Macht der USA zurück. Ben Rhodes, einer der wichtigsten Berater Barack Obamas, lästert über die Trump-Doktrin, sie müsse eher „America last“ heißen. Richard Haass, der dem einflussreichen Council on ­Foreign Relations vorsitzt, wirft dem Präsidenten vor, er verzichte auf eine „Führungsrolle bei der Entwicklung von Regeln und Vereinbarungen als Herzstück jeder Art von Weltordnung“.

Inzwischen haben die Kritiker erkannt, dass sich Trump wohl doch nicht in die Isolation zurückzieht. Und so erklären sie neuerdings, er zerstöre die von den USA angeführte „liberale internationale Ordnung“.

Vergessen wir kurz die Frage, warum Donald Trump mit dieser „liberalen Ordnung“ nichts am Hut haben soll – wohl aber George W. Bush, dem die völkerrechtswidrige Irak-Invasion den Ruf eingebracht hat, diese Ordnung wiederbelebt zu haben. Vergessen sollen wir offenbar auch, dass die USA unter Ronald Reagan schon einmal aus der Unesco ausgeschieden sind, also 34 Jahre, bevor Trump es tat. Oder dass Präsident Bush 2002 eine Variante der von Trump verhängten Zölle auf Stahlimporte eingeführt hat. Oder dass Präsident Eisenhower 1955 gedroht hat, die winzigen, zu Taiwan gehörenden Inseln Quemoy und Matsu zur Not mit Atomwaffen zu verteidigen.

Die „liberale internationale Ordnung“ ist ein historischer Mythos. Wer weiß, ob ein Aufruf zur Verteidigung dieser „Ordnung“ auf die US-Wähler Eindruck machen wird. Bei der Frage verlassen sich die Außenpolitikexperten auf Fantasien, wie sie sonst nur die Ostküsten-Intelligenzler im Acela-Express hegen, der zwischen Washington, New York und Boston fährt. Mit ihren Kolumnen, Interviews und Tweets werden sie ihrer Aufgabe, die Meinungsbildung zu fördern, allenfalls halbwegs gerecht. Für den Präsidenten ist das ein großes Glück. Denn seine Kritiker werden nur recht behalten, wenn die ganz große Katastrophe passiert. Sie haben die Latte sehr niedrig gehängt; Trump wird drüberkommen, es sei denn, er macht etwas noch Scheußlicheres, als wir es von ihm kennen.

Noch wichtiger ist jedoch, dass die derzeitigen Debatten überhaupt nichts beitragen zu einer künftigen Außenpolitik, die als Fortschritt gegenüber den Vor-Trump-Zeiten zu bezeichnen wäre. Statt über politische Alternativen nachzudenken, setzen unsere Experten die Interessen der USA mit denen einer abstrakten „Ordnung“ gleich – und ähneln damit jenen „Globalisten“, über die Trump im Wahlkampf hergezogen ist.

Der Gipfel der Ironie ist jedoch, dass Trump falsch lag. Schließlich standen für die Entscheidungsträger die Interessen der USA schon immer an erster Stelle – die Regeln haben sie entsprechend angepasst oder aber verletzt. 1945 setzte sich Harry Truman im kriegszerstörten Potsdam mit Winston Churchill und Josef Stalin zusammen. Wenn damals – wie manche heute behaupten – die „liberale internationale Ordnung“ geschaffen wurde, hat Truman davon jedenfalls nichts gewusst. Weder er noch seine Berater haben den Begriff benutzt, und der frustrierte Präsident schrieb an seine Frau Bess: „Ich muss ihnen mindestens einmal am Tag klarmachen, dass für diesen Präsidenten der Nikolaus ein toter Mann ist und dass mein oberstes Interesse die USA ist.“

Truman hatte begriffen, was die Trump-Kritiker implizit bestreiten: dass Amerikas Macht zulasten anderer Länder gehen kann. Unser außenpolitisches Establishment klammert sich an die Fiktion, dass alles, was gut für die USA ist, automatisch auch gut für die Welt ist. Sie behaupten, Trump werde mit seinem Versprechen, der Welt mehr abzuverlangen, die Macht Amerikas schwächen – tatsächlich aber will er sie gerade ausbauen.

Trumps Aktionen haben vielleicht nicht die beabsichtigte Wirkung, aber der plausibelste und stärkste Einwand lautet nicht, dass er die USA schwächt, sondern dass er unser Land auf eine Weise zu stärken versucht, die wir uns nicht wünschen sollten. Seine militaristischen und chauvinistischen Sprüche mögen den Einfluss der USA mindern oder auch nicht. Was sie aber bestimmt verstärken, ist die Gefahr, dass die einzige Supermacht der Welt künftig völlig ungehemmt auf Gewalt und Ausbeutung setzt.

Sprechen wir also aus, was Trumps Vision in Wahrheit ist: radikaler US-Imperialismus. Dieser Präsident bricht weniger mit den Traditionen, als dass er einige ihrer reaktionärsten und zählebigsten Elemente wieder zum Vorschein bringt. Dies zu erkennen, ist der Ausgangspunkt für jede ehrliche Diskussion über die Trump-Regierung und die Rolle der USA in einer sich wandelnden Welt.

Das hat die Rechte im Lande viel eher kapiert als die Linke oder die Mitte. Für Trump und seine Anhänger gibt es einen fast endlosen Interessenkonflikt zwischen den USA und der übrigen Welt.

Der rechte Radiostar Rush Limbaugh hat es kürzlich auf den Punkt gebracht: Trump will die „Vormachtstellung der USA“ zurückgewinnen, während seine Kritiker meinen, „die US-Führung sollte bei der Schwächung Amerikas auch noch den Vorsitz führen“. Trump ist eine Herausforderung, aber die kann man ja auch annehmen. Die neuen Zeiten produzieren nicht nur innenpolitisch, sondern auch außenpolitisch neue Verteilungskonflikte.

Wer das übersieht, hat gegen die Leute, die diese Konflikte anheizen, keine Chance. Es geht jetzt darum, die US-Bürger, die sich eine bessere Außenpolitik wünschen, einzubeziehen. Ob unsere Experten das hinbekommen, steht allerdings in den Sternen.

Die Demokratie braucht Experten, aber sie müssen die öffentliche Debatte fördern und respektieren, dass die Wähler auch in der Außenpolitik etwas zu sagen haben. Wenn die Experten heute nur den kleinsten gemeinsamen Nenner propagieren („Alles, nur nicht Trump“), lassen sie die vielen Unzufriedenen im Stich und ziehen bis zu den nächsten Wahlen ihre Zugbrücken hoch. Insofern wären auch andere als Isolationisten zu bezeichnen.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Stephen Wertheim unterrichtet Geschichte an der Birkbeck-Universität London. Thomas Meaney ist Fellow am American Council on Germany.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 12.04.2018, von Thomas Meaney und Stephen Wertheim