08.03.2018

Letzte Chance für den ANC

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Letzte Chance für den ANC

Der Kampf gegen das Apartheidregime hat Afrikas älteste Partei 1994 an die Macht gebracht. Heute ist ihr moralisches Kapital verschlissen, nicht zuletzt durch den korrupten Präsidenten Zuma. Der Wechsel an der Spitze soll die alten Ideale wiederbeleben – und dem ANC die Macht sichern.

von Sabine Cessou

Witwen der Bergarbeiter, die 2012 von Polizisten erschossen wurden. Damals hatte Ramaphosa Härte gegen die Streikenden gefordert GULSHAN KHAN/afp
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Cyril Ramaphosa wurde am 18. Dezember 2017 zum Vorsitzenden des African National Congress (ANC) gewählt. Der erste schwarzer Milliardär Südafrikas war damit zum Nachfolger von Präsident Jacob Zuma nominiert. Nach dessen erzwungenem Rücktritt wählte die Nationalversammlung den 65-jährigen Ramaphosa am 15. Februar zum neuen Präsidenten, der aber nach der nächsten Parlamentswahl 2019 erneut für das Amt kandidieren muss. Die bewegte Karriere des alten Anti­apartheidkämpfers ist nur zu verstehen, wenn man den Apparat und die Kultur der ältesten politischen Partei Afrikas ins Auge fasst.

Der ANC ist Mitglied der sozialistischen Internationale, innerhalb derer er zum sozialdemokratischen Lager gehört. Wie andere Befreiungsbewegungen – etwa die Nationale Befreiungsfront (FLN) in Algerien oder die Afrikanische Nationalunion/Patriotische Front Simbabwes (Zanu-PF) – ist der ANC erst nach langem bewaffnetem Kampf an die Macht gekommen. Trotz aller internen Spannungen, trotz der Skandale der letzten Jahre, die seit 2014 viele Wähler vertrieben haben, bleibt dieser nach demokratischen Regeln funktionierende Parteiapparat die alles entscheidende Macht.

Der ANC wurde 1912 während der britischen Kolonialherrschaft gegründet, um dem Raub von Land, das der schwarzen Bevölkerungsmehrheit gehörte, entgegenzutreten. 1960 wurde die Organisation wie der Panafrikanische Kongress (PAC) und die Kommunistische Partei Südafrikas (SACP) verboten. Das war nach dem Massaker von Sharpeville, als 69 Menschen von der Polizei erschossen wurden, weil sie gegen das neue Passgesetz protestierten, das sie ihrer Freizügigkeit beraubte.

1961 ging der bis dahin legal operierende und pazifistisch orientierte ANC zum gewaltsamen Widerstand über. Das bedeutete für viele ein Leben im Untergrund oder im Exil. Unter der Führung von Oliver Tambo wich die Exilpartei nach Sambia aus, wo sie in Lusaka ihr neues Hauptquartier einrichtete. In Südafrika selbst agierten Leute wie Ramaphosa und die „verlorene Generation“, die den Kampf gegen die Apartheid – nach der blutigen Niederschlagung der Schülerrevolte von Soweto im Juni 1976 – unter dem Banner des ANC und seines bewaffneten Flügels fortsetzten.

1983 schlossen sich die Aktivisten aus Vereinen, Kirchen und nicht verbotenen Gewerkschaften in der United Democratic Front (UDF) zusammen, die zum legalen Arm des ANC in Südafrika wurde. Die Beziehungen zwischen UDF und Exil-ANC waren zwar eng und konstant, aber auch von einem gewissen Misstrauen geprägt. Die Exilführer bestanden auf ihrer obersten Befehlsgewalt. Manche von ihnen fragten sich sogar, ob Nelson Mandela nicht ein Verräter sei, als er 1986 aus dem Gefängnis heraus eigenmächtig Verhandlungen mit dem Regime der Buren aufnahm.

1994 wurde der ANC dank seines kämpferischen Rufs und des Ansehens von Mandela, dem ersten schwarzen Präsidenten des neuen Südafrika, die alles beherrschende politische Macht. Schon früh hatte Mandela, ohne es jemals öffentlich zu machen, engen Freunden anvertraut, dass er 1999, nach seiner ersten und einzigen Amtszeit, statt Thabo Mbeki lieber den damals 46-jährigen Ramaphosa als seinen Nachfolger sehen würde. Unter Führung des gelernten Juristen, der in Soweto als Sohn eines Polizisten aufgewachsen war, war die Nationale Bergarbeitergewerkschaft (NUM) zwischen 1982 und 1992 zu einer Massenorganisation mit mehr als 200 000 Mitgliedern geworden.

Als geschickter Verhandlungsführer bewährte Ramaphosa sich auch in den schwierigen Gesprächen mit der Nationalen Partei von Frederik de Klerk über die Ablösung des Apartheidstaates. Für Mandela hatte Ramaphosa einen weiteren Vorzug: Er gehört zum Volk der Venda, einer Minderheit aus dem Norden des Landes. Seine Wahl hätte also die Frage nach der politischen Balance zwischen Zulus und Xhosa, den beiden mit je 20 Prozent der Bevölkerung größten ethnischen Gruppen, elegant umgangen. Das war für den ANC eine heikle Frage, weil man bewusst nicht auf die lokalen Nationalismen setzen wollte. Im Gegensatz zum Apartheid­regime, dessen Führer während der gesamten Übergangsphase von 1990 bis 1994 die gewalttätigen Konflikte zwischen Zulu-Nationalisten der Inkatha Freedom Party (IFP) und den ANC-Aktivisten angeheizt hatten.

Mandela hatte stets auf autokratische Methoden verzichtet und den Wettkampf um seine Nachfolge nur von der Tribüne aus beobachtet. 1994 sicherte sich Mbeki, ein geschickter und mit den Parteiinterna vertrauter Stratege, die Vizepräsidentschaft des ANC – und damit des Landes. Ramaphosa zog sich daraufhin aus der Politik zurück und nutzte seine unternehmerischen Fähigkeiten. Er blieb jedoch Mitglied des Nationalen Exekutivausschusses, des höchsten Entscheidungsgremiums des ANC mit 86 Mitgliedern, von denen laut Satzung die Hälfte Frauen sein müssen.

Beim Kampf um die Macht traf Mbeki 1997 eine folgenschwere Entscheidung. Er machte Jacob Zuma, der den Geheimdienst des bewaffneten Flügels des ANC geleitet hatte, zum Vizepräsidenten, um angesehenere Präsidentschaftsanwärter aus dem Weg zu räumen. Nach seiner Wiederwahl im Jahr 2004 rückte Mbeki von Zuma ab, 2005 schasste er ihn als Vizepräsident. Im selben Jahr wurde Zuma wegen Korruption angeklagt, weil er 1998 bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen saftige Bestechungsgelder kassiert haben soll. Ein weiterer Prozess – aufgrund der 2006 von einer jungen Frau eingereichten Klage –, bei dem es um den Vorwurf der Vergewaltigung ging, wurde von Zuma als politische Machenschaft abgetan.

Auf dem ANC-Parteitag im Dezember 2007 herrschte eine äußerst angespannte Atmosphäre. In der politischen und zugleich persönlichen Auseinandersetzung zwischen Zuma- und Mbeki-Anhängern flogen die Fetzen. Zuma spielte mit Antiapartheidgesängen erfolgreich auf der populistischen Klaviatur, während Mbeki als zu distinguiert und abgehoben galt. Dabei bediente Zuma auch die Wut des linken Parteiflügels auf eine neue schwarze Bourgeoisie, die sich die Nähe zur Macht und eine neoliberale Wirtschaftspolitik zunutze machte, während ringsum trotz des ökonomischen Wachstums eine anhaltend hohe Arbeitslosigkeit von 27 Prozent herrschte und 42 Prozent der Bevölkerung nach wie vor in Armut lebten.

Die Kraftprobe endete mit dem Sieg Zumas, der von einer Bewegung namens „Freunde von JZ“ unterstützt wurde. Diese war ein Sammelbecken für die von der „Thabokratie“ Enttäuschten, für den linken Flügel des ANC, der dem sozialistischen Ideal der Umverteilung anhing, und auch für Wähler, die dem Versprechen, eine halbe Million Arbeitsplätze zu schaffen, Glauben schenkten.

Das versprochene Jobwunder blieb aus, und zwar nicht nur in Folge der globalen Finanzkrise 2008/2009, sondern auch wegen Zumas unsteter Politik und der allgegenwärtigen Korrup­tion. Das einzige Schwellenland auf dem afrikanischen Kontinent sah 2015 seine Kreditwürdigkeit von den internationalen Ratingagenturen herabgestuft, mit „negativem“ Ausblick. Die Landeswährung musste immer wieder abgewertet werden; und dann schlitterte das Land 2017 in die Rezession.

Die verlorenen Zuma-Jahre

Im Dezember 2017 wurde die Zukunft Südafrikas wieder einmal auf einem ANC-Parteitag entschieden. In dem Gremium von 4708 Delegierten gewann Ramaphosa mit einem Vorsprung von nur 179 Stimmen gegen Zumas frühere Ehefrau, die ehemalige Außenministerin und Kommissionspräsidentin der Afrikanischen Union Nkosazana Dlamini-Zuma. Die Wahl Ramaphosas dämmte die verbreitete Befürchtung ein, Zuma könnte nach seinem Ausscheiden aus dem Präsidentenamt straflos davonkommen.

Ramaphosas Programm lautet kurz und knapp: „Rückkehr zu den ursprünglichen Werten der ANC-Gründer“, also Schluss mit der Korruption, der Bedienung von Clan-Interessen und dem Populismus des Zuma-Re­gimes. Entsprechende Prinzipien enthält bereits die Freiheitscharta, die 1955 der Volkskongress aller Opposi­tio­nellen im Land – 3000 Delegierte, darunter 300 Inder, 200 Farbige und rund 100 Weiße – verabschiedet hatte.

Der ANC war damals nur einer der Unterzeichner, aber die Charta ging in sein Parteiprogramm ein, mit klaren Grundsätzen wie: allgemeines Wahlrecht, Chancengleichheit und „multiracial democracy“. Für diese Ziele haben Generationen von Südafrikanern so große Opfer gebracht, dass man sie nicht so schnell aufgeben wird.

Der ANC war nach seiner Legalisierung im Februar 1990 zu einer Massenpartei geworden, die heute 700 000 Mitglieder hat. Er garantiert – aufgrund seiner historischen Legitimität – die Stabilität der jungen Demokratie, aber seine Vormachtstellung ist zugleich seine größte Schwäche. Die Parteifunktionäre kontrollieren, da sie häufig Minister und Provinzgouverneure zugleich sind, die Besetzung aller wichtigen Positionen, auch im Privatsektor, und sie befinden über die Vergabe öffentlicher Aufträge. Unter Verfehlungen des ANC hat deshalb das ganze Land zu leiden.

Die knappe Wahl Ramaphosas zum Parteivorsitzenden interpretiert der südafrikanische Politologe William Gumede als „Aufstand der Basis, um zu retten, was noch zu retten ist“. Das bedeutet, dass die Partei nach der langen Ära von Mbeki und Zuma politisch angeschlagen ist. Zumas Rücktritt waren neun Misstrauensanträge vorausgegangen. Im Lauf seiner Amtszeit sank die Zustimmung für den ANC kontinuierlich, von 65,9 Prozent bei der Wahl 2009 über 62,15 Prozent 2014 auf weniger als 54 Prozent bei den Kommunalwahlen im August 2016.

Diese Wahlen waren ein letztes Warnsignal, denn dem ANC gingen mit Johannesburg, Pretoria und Port Elizabeth drei Großstädte verloren. Die Konkurrenz durch die Opposition wird härter. Zwar ist die Democratic Alliance – die ihren Stimmenanteil von 2014 bis 2016 von 22,2 auf 26,9 Prozent steigern konnte – eine bislang überwiegend weiße Mitte-rechts-Partei, doch die Hautfarbe verliert für die Wahlpräferenz zunehmend an Bedeutung.

Seit 2014 steht an der Spitze der DA mit Mmusi Maimane ein junger Schwarzer. Die Partei verspricht den Wählern, das zu tun, was der ANC versäumt hat, etwa „die Bekämpfung der Ungleichheit und die Umverteilung des Reichtums“ in einem Land, in dem schwarze Haushalte laut amtlicher Statistik mit umgerechnet 6600 Euro über weniger als ein Fünftel des Einkommens weißer Haushalte (36 500 Euro) verfügen.

Von links wird der ANC von den Fighters for Economic Freedom (EFF) bedrängt. Die Partei wurde 2013 von dem ANC-Dissidenten Julius Malema gegründet. 2014 kamen die EFF auf 6,35 Prozent, 2016 bereits auf 8,19 Prozent der Wählerstimmen. Malema fordert die Verstaatlichung des Bergbausektors und die Enteignung von rund 50 000 weißen Bauern nach dem Vorbild Simbabwes.

Es ist kein Zufall, dass Ramaphosa diese zweite Forderung bereits übernommen hat: Am 28. Februar stimmte die ANC-Fraktion im Parlament einem Antrag der EFF zu, der entschädigungslose Landenteignungen ermöglichen soll. Im Übrigen setzt der neue Präsident auf den etwas hohlen Slogan „Ein besseres Leben für alle“.

Konkret verspricht der ehemalige Gewerkschaftsführer und heutige Hauptaktionär von McDonald’s SA zum Beispiel den kostenlosen Schulbesuch für alle Kinder aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen unter 22 800 Euro, die Einsetzung eines Kor­rup­tions­ermittlungsausschusses, aber auch eine liberale Wirtschaftspolitik, die Investoren anziehen und Südafrikas Ökonomie wieder auf Wachstumskurs bringen soll.

Dennoch markiert der Wechsel an der ANC-Spitze noch keinen klaren Bruch mit der Zuma-Ära. Denn zum Parteivize wurde der höchst umstrittene David Mabuza gewählt, den Zuma 2009 zur Belohnung für seine Unterstützung zum Gouverneur der Provinz Mpumalanga ernannt hatte. Der zweite Mann im ANC wird nicht nur der Korruption beschuldigt, sondern auch der Beteiligung an politischen Morden verdächtigt.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Sabine Cessou ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 08.03.2018, von Sabine Cessou