16.09.2005

Entwurf für eine neue UNO

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Entwurf für eine neue UNO

Die Vereinten Nationen müssen von Grund auf reformiert werden – falls dies noch möglich ist. Der Apparat der UNO hat sich im Laufe der Jahre immer weiter aufgebläht und muss sich Ineffizienz vorwerfen lassen. Der Weltsicherheitsrat, der den Frieden bewahren sollte, ist seinem Auftrag nicht gerecht geworden. Der von US-Präsident George W. Bush unilateral beschlossene Einmarsch im Irak bestätigte die Ohnmacht der Weltorganisation.

UNO-Generalsekretär Kofi Annan hat im März 2005 einen Entwurf für die Reform der Vereinten Nationen vorgelegt („In größerer Freiheit“, www.runic europe.org/german/reform/a-59-2005-ger.pdf). Darin liefert er eine Analyse der „Herausforderungen einer sich wandelnden Welt“. Zu ihnen gehören neben militärischen Konflikten auch Gewalt innerhalb von Staaten, sodann Armut, Krankheiten, Umweltbelastungen, Terrorismus oder die organisierte Kriminalität.

Annan schlägt eine schärfere Rüstungskontrolle vor und fasst eine „zwischenstaatliche Kommission für Friedenskonsolidierung“ ins Auge. Er fordert, dass die Mitgliedstaaten die vorliegenden internationalen Abkommen zum Schutz von Zivilpersonen, über Abrüstung und vor allem zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnen und ratifizieren.

Seine Vorschläge zur institutionellen Reform der UNO bleiben begrenzt. Den Status der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat und deren Vetorecht stellt Annan nicht in Frage, obwohl von der Legitimität der fünf Siegermächte des Zweiten Weltkriegs nicht mehr viel übrig ist. Deutschland, Japan, Brasilien und Indien bewerben sich nun neben weiteren Staaten selbst um diesen privilegierten Status. Annan brachte zwei Vorschläge ins Spiel: Modell A sieht die Schaffung von sechs neuen ständigen Sitzen vor, die allerdings kein Vetorecht erhalten sollen; nach Modell B soll eine neue Kategorie von acht Sitzen für eine erneuerbare vierjährige Amtszeit entstehen. In beiden Fällen bleibt Macht weiterhin Kriterium für die Ernennung der Verantwortlichen.

Die Vorschläge zur Reform der Generalversammlung sind äußerst schwach. An die Stelle der derzeitigen Menschenrechtskommission soll ein Menschenrechtsrat treten, dessen Auftrag und Befugnisse nicht näher bestimmt werden.

Die Gründer der UNO hatten 1945 in erster Linie zwischenstaatliche Konflikte im Blick. Heute haben wir es mit verschiedensten Bedrohungen und Formen der Gewalt zu tun, die an Staatsgrenzen nicht Halt machen: Hunger, Ungleichheit, Klima- und Naturkatastrophen, Rüstungsexporte der Großmächte, Ideologien, die Rassismus und Diskriminierung Vorschub leisten.

Die Antwort der UNO wird der Komplexität der Weltgesellschaft nicht gerecht. Die UNO managt (kaum) die zwischenstaatlichen Beziehungen; die dringende Notwendigkeit, lebenswichtige Ressourcen wie Wasser, Energie, Wissen und Medikamente unter ein Schutzstatut zu stellen und gerecht zu teilen, erscheint der UNO augenscheinlich als utopisch, obwohl das UNO-Entwicklungsprogramm hierzu eindeutig Stellung bezog.

Wenn sich die Organisation der Vereinten Nationen also als reformresistent erweist, weil die Großmächte von ihrer Macht nicht lassen wollen und den Löwenanteil der weltweiten Ressourcen für sich beanspruchen, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als eine „Organisation der Weltgemeinschaft“ zu erfinden. Die Staaten, die infolge der Globalisierung auf der Strecke bleiben, wären gut beraten, einen Austritt aus der UNO zu erwägen und eine eigene Organisation zu gründen. Sie verstünde sich als Ergänzung der nationalen Gemeinwesen, als Antwort auf die Komplexität einer Gesellschaft, in der sich zwischenstaatliche und zwischenmenschliche Beziehungen auf vielfältige Weise kreuzen. Zentrales Anliegen wäre die Ausformulierung und Verteidigung des Gemeinwohls der Völker.

Die neue Weltorganisation könnte sich institutionell in vier politische Organe gliedern. In der Generalversammlung säßen die Vertreter der Mitgliedstaaten. Eine zweite Versammlung müsste die unterschiedlich großen Bevölkerungen dieser Staaten repräsentieren. Denkbar wäre, sie mit Vertretern aus den nationalen Parlamenten zu beschicken.

Die beiden Versammlungen würden alle politischen, wirtschaftlichen, sozialen, militärischen, kulturellen und internationalen Probleme gemeinsam oder in gemeinsamen Ausschüssen bearbeiten. Alle verabschiedeten Resolutionen hätten zwingenden Charakter.

Als Pendant zu den beiden Versammlungen wären zwei Räte zu gründen, einer für (nichtmilitärische) friedenserhaltende Maßnahmen, der andere für Interventionen bei Bruch des Friedens. Der erste, mit 25 Mitgliedern würde nach dem Gleichheitsgrundsatz von und unter den Mitgliedern der zweiten Versammlung für eine für alle gleiche Amtszeit gewählt.

Der zweite, für Sicherheitsfragen zuständige Rat würde sich aus Vertretern von 25 Staaten zusammensetzen und wäre von beiden Versammlungen gemeinsam zu wählen. Die Abgeordneten hätten ausnahmslos dieselben Entscheidungsbefugnisse und dieselbe Amtszeit. Für Staaten, die sich im Vergleich zu ihrem Sozialbudget exorbitante Rüstungsausgaben leisten oder sich in den zwei Jahren vor der Wahl Angriffshandlungen haben zuschulden kommen lassen, wäre eine Nichtwählbarkeitsklausel vorzusehen.

Als weiteres Hauptorgan wäre der Generalsekretär gegenüber beiden Versammlungen rechenschaftspflichtig. Das Statut des Internationalen Gerichtshofs wäre dahin gehend abzuändern, dass er mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammengelegt würde und die Zuständigkeit dieser doppelten Gerichtsbarkeit zwingenden Charakter erhielte. Ein internationaler Gerichtshof für Menschenrechte würde die Weltgerichtsbarkeit vervollständigen.

Die obigen Vorschläge bedürfen gewiss der weiteren Diskussion. Doch die drei Imperative, die wir formulierten – mehr Demokratie (durch Abschaffung der Vorrechte für bestimmte Staaten), Stärkung des Rechts (durch vermehrte Kompetenzen der Generalversammlungen) und mehr Gerechtigkeit (durch die zwingende Zuständigkeit der internationalen Gerichtshöfe) – können und dürfen nicht länger ignoriert werden.

Monique Chemillier-Gendreau

Aus dem Französischen von Bodo Schulze

Monique Chemillier-Gendreau ist Professorin für Internationales Recht an der Universität Paris-VII (Denis-Diderot)

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Monique Chemillier-Gendreau