16.09.2005

Die Reform findet nicht statt

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Die Reform findet nicht statt

Aus der „Jahrhundertreform“ der UNO, von der im Vorfeld des New Yorker Gipfels die Rede war, ist nichts geworden. In fast erpresserischen Vorverhandlungen wurde der Entwurf von Generalsekretär Kofi Annan erheblich verwässert, vor allem auf Betreiben der Bush-Administration. Und auch eine Erweiterung des Sicherheitsrats um neue ständige Mitglieder wird es so schnell nicht geben von Andreas Zumach

Kein Versuch zur Reform der UNO wurde so lange und so gründlich vorbereitet wie dieser. Seit ihrer Gründung im Jahre 1945 erlebte die Weltorganisation etwa alle 8 bis 10 Jahre eine Reformdebatte. Wegen der Blockade der Weltorganisation durch die Ost-West-Konfrontation blieben diese Debatten zumeist ohne konkrete Ergebnisse. Mit Ende des Kalten Krieges änderten sich die Rahmenbedingungen. Auf sieben großen Weltkonferenzen (u. a. zu den Themen Umwelt und Entwicklung, Menschenrechte, Bevölkerungs- und Sozialfragen, Frauen und Rassismus) konnten sich die Mitgliedstaaten auf die Definition der wichtigsten Probleme und Herausforderungen in einer zunehmend globalisierten Welt verständigen.

Das gelang zwar nicht immer im Konsens aller Mitgliedstaaten, aber immer mit mindestens 90-prozentiger Mehrheit. Bei einigen dieser Weltkonferenzen wurden über die Problemanalyse hinaus konkrete Maßnahmen beschlossen oder es gelang die Vereinbarung mehr oder weniger verbindlicher Aktionspläne. Auf der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Jahre 1992 wurde der Grundstein gelegt für das zehn Jahre später verabschiedete Kioto-Protokoll zum Klimaschutz.

Doch nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem völkerrechtswidrigen Präventivkrieg der USA und Großbritanniens vom Frühjahr 2003 gingen die Wahrnehmungen über die wichtigsten globalen Probleme und die daraus abgeleiteten Handlungsprioritäten zwischen Nord und Süd wieder deutlich auseinander. Vor diesem Hintergrund beauftragte Generalsekretär Annan im September 2003 einen 16-köpfigen Expertenausschuss („High Panel“), eine Analyse der wichtigsten globalen Herausforderungen vorzunehmen und Vorschläge zu entwickeln, die darauf zielten, die UNO bei der Bewältigung dieser Herausforderungen handlungsfähiger zu machen.

Den im Dezember 2004 vorgelegten Bericht des „High Panel“ machte Annan zur Grundlage seines umfassenden Reformvorschlages „In größerer Freiheit – Entwicklung, Sicherheit und Frieden für alle“, den er der Generalversammlung im März dieses Jahres präsentierte. Annans Reformpaket bestand aus drei Elementen:

– institutionelle Reformen: Dazu gehören die Aufwertung des Wirtschafts-und Sozialrats (Ecosoc), die Gründung einer UNO-Institution für „nachhaltige Friedensmaßnahmen“ nach kriegerischen Konflikten, die Umwandlung der Menschenrechtskommission in einen Menschenrechtsrat, Managementreformen und Verbesserung des Aufsichtswesen in der New Yorker Zentrale.

– politische Selbstverpflichtungen: So sollen die Mitgliedstaaten per Resolution in der Generalversammlung ausdrücklich ihre „Verantwortung zum Schutz“ ihrer Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen anerkennen. Ist eine Regierung „nicht in der Lage oder nicht willens“, diese Verantwortung wahrzunehmen, soll der Sicherheitsrat das Recht erhalten, sich in die „inneren Angelegenheiten“ eines Staates einzumischen – vorrangig mit politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Instrumenten, notfalls aber auch mit militärischen Mitteln. Der Sicherheitsrat soll per Resolution einen Katalog von Kriterien verabschieden, der künftig als Basis für die Entscheidung über militärische Maßnahmen dienen soll. Schließlich soll die Generalversammlung eine Terrorismusdefinition verabschieden, wozu Annan einen Entwurf vorlegte. Auch mahnte der Generalsekretär die Mitgliedstaaten zur Erfüllung bestehender vertraglicher Verpflichtungen, explizit auch hinsichtlich der atomaren Abrüstung.

– fristgemäße Umsetzung der Millenniumsziele: Annan forderte die Mitgliedstaaten auf, die von einem UNO-Gipfel 2000 beschlossenen „Millenniumsziele“ zur Halbierung der weltweiten Armut bis spätestens zum Jahr 2015 zu erfüllen. Hierzu machte der Generalsekretär sowohl den Ländern des Nordens wie des Südens konkrete, mit Zeitplänen versehene Vorschläge. Die Staaten des Nordens sollen u. a. den Anteil ihrer öffentlichen Entwicklungshilfeleistungen am Bruttosozialprodukt bis 2015 auf 0,7 Prozent steigern, Agrarsubventionen abbauen, ihre Märkte für Produkte aus den 48 ärmsten Ländern dieser Erde öffnen sowie mehr Mittel zur Bekämpfung von Aids bereitstellen.

Keine Verpflichtungen mehr zur Armutsbekämpfung

Hinter der Verknüpfung der UNO-Reform mit den Millenniumszielen steht Annans Überzeugung, dass ohne eine Umsetzung wenigstens dieser bescheidenen Ziele (nach Joschka Fischer „das soziale Minimum in einer globalisierten Welt“) die durch Armut bedingten und verschärften Konflikte dieser Welt derart eskalieren werden, dass selbst eine institutionell reformierte UNO sie nicht mehr bewältigen kann.

Der Präsident der UNO-Generalversammlung, Gabuns Außenminister Jean Ping, übernahm sämtliche Vorschläge Annans in seinen Anfang Juni präsentierten ersten Entwurf für eine Abschlusserklärung des New Yorker Gipfels. Und auch der dritte Entwurf, den Ping nach intensiven Konsultationen mit fast sämtlichen Mitgliedstaaten Anfang August vorlegte, enthielt noch alle Vorschläge des Generalsekretärs (wenn auch mit leichten Korrekturen) sowie alle konkreten Handlungsempfehlungen des Generalsekretärs. Doch Ende August legte der neue UNO-Botschafter der USA, John Bolton, 750 Korrekturforderungen zu Pings Entwurf vor. Er forderte die Streichung sämtlicher Verpflichtungen zu Armutsbekämpfung, Rüstungskontrolle, Stärkung der UNO, Klimaschutz usw. Verbindliche Formulierungen sollte die Gipfelerklärung nach Vorstellung Washingtons lediglich zu den Themen Terrorismusbekämpfung und Managementreform in der UNO-Zentrale enthalten. Die Millenniumsziele zur Halbierung der Armut sollen in der Erklärung überhaupt nicht mehr erwähnt werden.

Aufgeschreckt durch diesen Frontalangriff der Bush-Administration auf Annans Reformansatz legten andere Regierungen ihre alten Einwände gegen Pings Entwurf wieder auf den Tisch. Zahlreiche Länder haben Bedenken, dass der Generalsekretär im Zuge der insbesondere von Washington geforderten Managementreform zu viel Macht und Kompetenzen erhalten soll und künftig nicht mehr der Kontrolle durch die Generalversammlung unterliegt. In den intensiven Verhandlungen der letzten Tagen vor dem Gipfel dienten derartige Bedenken auch als Faustpfand, um die Zustimmung der USA zu verbindlichen Verpflichtungen zur Armutsbekämpfung abzuringen. Der letzte, zwei Tage vor Gipfelbeginn vorliegende 45-seitige Entwurf für die Abschlusserklärung enthielt immer noch 250 Klammern, die Dissens markieren.

Nicht mehr auf der Tagesordnung steht die Erweiterung des Sicherheitsrats, die vor allem die rot-grüne Koalition in Berlin zum „wichtigsten Ziel“ einer UNO-Reform erklärt hatte. Der im Juni gemeinsam von Deutschland, Indien, Brasilien und Japan in die Generalversammlung eingebrachte Antrag, der auf ständige Ratssitze für diese vier Staaten sowie für zwei afrikanische Länder abzielte, war bereits Anfang August endgültig gescheitert. Nachdem die Afrikanische Union mit ihren 53 Mitgliedern auf einem Gipfeltreffen die Unterstützung des G-4-Antrages mit 90er-Mehrheit abgelehnt hatte, mussten die G-4-Regierungen ihre Hoffnung auf die für eine Annahme erforderliche Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung (128 von 191 Staaten) endgültig begraben.

Doch der Antrag der G 4 hatte ohnehin nicht den Hauch einer Chance auf Realisierung. Denn selbst wenn er die erste Hürde in der Generalversammlung genommen und diese dann in einem zweiten Schritt sechs neue ständige Mitglieder für den Sicherheitsrat gewählt hätte. Da die Erweiterung eine Veränderung der UNO-Charta erfordert hätte, hätte diese die Zustimmung der fünf derzeitigen ständigen Ratsmitglieder erfordert. Doch China und die USA hatten in den letzten Monaten wiederholt sehr deutlich gemacht, dass sie dazu nicht bereit sind. Und auch die drei anderen ständigen Mitglieder Russland, Frankreich und Großbritannien sind trotz aller Sympathieerklärungen für den Antrag der G  nicht sehr unglücklich darüber, dass sie ihre Privilegien Veto und ständiger Sitz nicht mit anderen Staaten teilen müssen und dass im Rat auf absehbare Zeit alles beim Alten bleibt. In Berlin versucht man die Hoffnung nicht aufzugeben. Der G-4-Antrag sei „keinesfalls tot, sondern nur vorrübergehend im Gefrierfach“ erklärte ein für die UNO-Reformfragen zuständiger hoher Beamter von Außenminister Fischer Anfang September. Die Frage, wie lange die Gefrierphase dauern solle, wollte der Beamte nicht beantworten.

© Le Monde diplomatique, Berlin Andreas Zumach ist UNO-Korrespondent für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Rundfunkanstalten. Sein neuestes Buch „Die kommenden Kriege – Ressourcen, Menschenrechte, Machtgewinn – Präventivkrieg als Dauerzustand?“ erscheint Ende September bei Kiepenheuer & Witsch.

Le Monde diplomatique vom 16.09.2005, von Andreas Zumach