Die Jahre danach
Die Linke jenseits von Schröder, Fischer und Lafontaine von Mathias Greffrath
Egal welche Koalition die Wahl am 18. September hervorbringen wird – ob Schwarz-Gelb oder Rot-Grün (eher unwahrscheinlich); ob große Koalition (wahrscheinlicher) oder eine Minderheitsregierung aus CDU/CSU und FDP (ungewohnt, aber interessant) – die SPD muss gründlich und folgenreich nachdenken, wenn sie ihren nachgodesbergischen Geist nicht gänzlich aufgeben will. Der ist einerseits an die – wie auch immer instrumentierte – Vorstellung von egalitärer Gerechtigkeit gebunden, an einen starken Sozialstaat und eine Gesellschaft, die nicht nur parlamentarisch korrekt verwaltet wird, sondern in all ihren Korporationen und Institutionen demokratisch ist. Andererseits aber auch an den Anspruch, die Partei des deutschen Konsenses links von der Mitte zu sein. In der Tat ist es schwieriger geworden, rechts von der SPD Mehrheiten zu bilden, aber leichter haben es die Sozialdemokraten dadurch nicht – erst recht nicht, seit es auf der Linken drei Parteien gibt.
Als Willy Brandt l987 den Vorsitz der SPD aufgab, zweifelte er, ob die Sozialdemokratie in zwanzig Jahren noch als Volkspartei existieren würde. Damals gab es gut zwei Millionen Arbeitslose, mit steigender Tendenz. Wenige Jahre später schrieb Clintons Arbeitsminister Robert Reich, es mache zunehmend weniger Sinn, von Volkswirtschaften zu reden. Unter den Bedingungen transnationaler Produktion, ökonomischer Konzentration und unregulierter Weltmärkte seien die Industriedemokratien in Gefahr, in drei Gesellschaften zu zerbrechen: einen hochkompetitiven internationalen Sektor mit reichen Eliten; eine Neue Mitte, die dieser globalen Wirtschaft zuarbeitet, staatliche und lokale Dienstleistungen erbringt und doch zunehmend unter Druck gerät; und schließlich: die Unterwelt der Überflüssigen und Prekären. Es werde die Aufgabe demokratischer – und patriotischer – Politik sein, unter diesen Bedingungen zu definieren, was fortan unter Nation, Gesellschaft, Solidarität verstanden werden soll.
18 Jahre nach Willy Brandts Zukunftszweifeln drückt sich der Gesellschaftszerfall der alten Integrationspartei SPD schon in organisatorischer Form aus. Ihre drei Klientelblöcke waren nicht länger unter einer Programmatik zu vereinen: die fest angestellten und sozialversicherten Angestellten des „Standorts Deutschland“; die liberalbürgerlichen, kulturell versierten, gut konsumierenden „Symbolproduzenten“; und schließlich die Arbeitslosen und Modernisierungsverlierer.
Mit beeindruckender Folgerichtigkeit vollzog sich dieser Zerfall der ökonomischen Schwerkraft im Gefolge der „Globalisierung“ – was auch für die Politik der Bundesrepublik insgesamt und die der meisten großen OECD-Staaten gilt. Seit l982 orientiert sich die deutsche Wirtschaftspolitik im Großen und Ganzen an den Vorgaben, mit denen Otto Graf Lambsdorff und Hans Tietmeyer die sozialliberale Koalition sprengten. Das „Lambsdorff-Papier“ reagierte früh und radikal auf die „Globalisierung“ der 1970er-Jahre: auf die Ölkrise, den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, die technologisch induzierte Arbeitslosigkeit, den verschärften Kampf um die Weltmärkte. Lambsdorffs Spiegelstriche zielten detailliert auf den Abbau des Sozialstaats und Lohnsenkungen, auf Deregulierung, Schwächung der Gewerkschaften und Verschiebung der Steuerlast auf die Arbeitnehmer. Dahinter stand die Hoffnung, durch eine Expansion des Exports neues Wachstum zu erzielen.
Dieses angebotsökonomische, nationalkapitalistische Programm wurde in den nächsten Jahrzehnten abgearbeitet. Zunächst, wenn auch in gedämpfter Form, von Kohls CDU, in der noch Fremdkörper wie Geißler und Blüm kreisten. Als die die Sozialdemokraten 1998 das Steuer übernahmen, war der Anteil Deutschlands am Weltexport von 9 auf 12 Prozent gestiegen, die Export-AGs zahlten kaum noch Steuern, die Vermögensteuer war abgeschafft, die Steuerlast von den Kapital- und Vermögensteuern auf die Arbeitseinkommen umgeschichtet – vor allem aber waren die Kosten der deutschen Einheit über Schulden und Sozialbeiträge finanziert. Den WTO-Vertrag hatte das Parlament ungelesen verabschiedet, und auch den Wirtschaftsliberalismus der EU-Kommission durchgewinkt. Unterdessen war die Zahl der Arbeitslosen auf vier Millionen gestiegen.
„Soziale Gerechtigkeit“ und ein ökologischer Umbau der Gesellschaft waren jetzt nur noch denkbar, wenn man die internationale Handels- und Finanzordnung herausforderte, was Oskar Lafontaine wollte, aber ungeduldig verpatzte; oder wenn man imstande war, die „Mittelschichten bluten“ zu lassen, wie Joschka Fischer vor der Wahl verkündet hatte. An ein solches Programm freilich war unter einem Kanzler Schröder und nach der Enthauptung der parlamentarischen Linken nicht mehr zu denken.
Das „rot-grüne Projekt“ – ohnehin eher Lafontaines, nie Schröders Ziel – wurde halbiert: Dem Atomausstieg folgte kein entschiedener Einstieg in erneuerbare Energien, der zugleich konjunkturbelebend und zukunftsträchtig gewesen wäre. Die Linken in der SPD schrieben Papiere über „Megabotschaften“ und „New Deals“, trafen sich konspirativ mit der neuen Attac-Linken – und verstummten.
Es folgten das „größte Steuersenkungsprogramm“ der Nachkriegsgeschichte und zweistellige Milliardengeschenke an Großunternehmen und Banken. Und dann via Hartz IV die radikale Senkung der Alimentierungskosten überflüssigen „Humankapitals“. Die SPD verlor unter Schröder 125 000 Mitglieder, in den Kernregionen bis zu 50 Prozent, tausende von Mandaten in Städten und Ländern und allein in den Wahlen von 2002 8 Prozent ihrer Arbeiterwähler. Eine Programmdiskussion fand nicht mehr statt.
Deutschland heute – das ist ein Exportweltmeister mit einer schwächelnden Konsumheimatfront. Zwischen Exportgewinnen und Binnenmarkteinbrüchen tut sich eine Schere auf, und der Staat schrumpft immer weiter. Von 2001 bis 2004 sind die Exporte um 20 Indexpunkte gestiegen, die Ausrüstungsinvestitionen sind im selben Maß geschrumpft, desgleichen die staatlichen Investitionen um 20 Prozent. Die Profite werden investiert, aber nicht auf deutschen Märkten. An Infrastrukturimpulse, an eine Bildungsinvestition, die man als lebensnotwendig ausruft, damit „wir“ vorne bleiben, ist nicht zu denken. Die Schrumpfkur des Umverteilungsstaats, die Lohnzurückhaltung kamen nicht einer Modernisierung der Volkswirtschaft zugute, sondern der Rentabilität der international operierenden Unternehmen.
Daran ändern auch die späten Heuschreckenreden nichts oder Schröders fernsehperfekte Wahlperformance („Oh Menschlichkeit, oh Sozialstaat, oh Solarenergie!“), die noch ein paar Prozentpunkte schinden mag. Der Voodoo-Satz, wonach Steuer- und Lohnsenkungen heute die Gewinne von morgen, die Investitionen von übermorgen und die Arbeitsplätze von überübermorgen bedeuten, ist durch die Globalisierungsmechanik und die zunehmende Arbeitslosigkeit längst widerlegt. Doch er strahlt in zeitlosem Irrsinn weiter: im Wahlprogramm der SPD, in den Reden Wolfgang Clements, im sozialdemokratischen Regierungsdenken, in der pensée unique der Wirtschaftskommentare.
Wieder einmal gehen wir wählen – und haben doch nicht die Wahl, wie Niklas Luhmann bereits 1998 richtig sah. Sicher, nur in der Nacht sind alle Kühe schwarz. Und 3 Prozent Spitzensteuersatz, 2 Prozent Umsatzsteuer, zwei Jahre Renteneintrittsalter rauf oder runter, Bürgerversicherung oder Kopfprämie, karge Milliarden für Ganztagsschulen oder Exzellenzuniversitäten – all das sind handfeste Unterschiede, die man vor allem weiter unten spürt. Aber es sind quantitative Differenzen – wenn auch auf einer schiefen Ebene. Einzig die Visionen Paul Kirchhofs – der den Weg vom Steuer- zum Marktstaat radikal zu Ende denkt – ermöglichen eine trennscharfe Abgrenzung von der CDU. Aber angesichts deren innerer Interessenpluralität wird es Schwarz-Gelb nicht wagen, den Aufstand von Eigenheimbauern, Pendlern, Windradbetreibern, von Binnenschiffern, Fluggesellschaften, Kulturschaffenden und 412 anderen Gruppen zu entfachen. Die große Koalition der Weitermacher mit den auf Wachstum Hoffenden steht auch diesmal nicht zur Abwahl.
Rechte wie linke Regierungen – so das Credo der „Ernüchterten“ – vermögen wenig mehr, als die Rentabilitätsbedingungen des Kapitals zu erhöhen und die Absenkung der Lebensniveaus gleitend und weniger spürbar zu betreiben. Dafür werden sie, ganz unideologisch, regelmäßig „von den Wählern“ bestraft. Die Demontage öffentlicher Einrichtungen, medizinischer Versorgungsniveaus und solidarischer Versicherungssysteme treibt die (noch) zahlungsfähigen Mittelschichten immer stärker in individuelle Lösungen für sich und ihre Kinder. Das höhlt den Sozialstaat weiter aus. Zusammen mit dem Streit über die Anspruchsberechtigung der Überflüssigen wird so der Boden für Populismus von oben wie von unten bereitet.
Gleichwohl könnte ein solcher Zustand noch zwanzig, dreißig Jahre halten, solange die Position deutschstämmiger Unternehmen auf dem Weltmarkt nicht gefährdet ist und die deutschen Sozialhilfesätze klar über dem Lohnniveau konkurrierender Länder liegen. Der Aufstieg Chinas und Indiens als Exportnationen, die Rohstoff- und Energieengpässe, die in den nächsten Jahrzehnten drohen, dürften aber auch diese gesellschaftlichen Schrumpfstrategien ins Trudeln bringen.
In einem Parlament auf der Höhe des 21. Jahrhunderts, meinte Luhmann, als Rot-Grün sich zu regieren anschickte, müssten zwei Großinteressen miteinander streiten: eine Fraktion der nationalkapitalistischen Mobilmachung für die Weltmarktschlachten (die Ruck-Partei), und eine, die für die langfristigen Interessen der Menschen an Umwelt, sozialer Sicherheit und Frieden eintritt. Das ist zwar eine abstrakte Polarisierung – sie liefe auf Merz/Clement gegen Lafontaine/Geißler hinaus –, aber sie formuliert das Dilemma der SPD, egal ob im Rahmen einer Agenda-Koalition oder in der Opposition: Ist überhaupt noch eine andere Politik möglich als die der Herstellung von günstigen Markt-„Fundamentals“ mit notdürftiger Kompensation der Kollateralschäden?
Nach den Wahlen wird die Linke also etwas weiter ausholen müssen, wenn sie ihre Spaltung überwinden will. Es ist inzwischen ein folgenlose Binsenwahrheit, dass Politik (als Gestaltungsfähigkeit) und Demokratie (als die Balance der Macht der wenigen durch die Zahl der vielen), dass, anders gesagt, das europäische Gesellschaftsmodell nur noch eine Zukunft hat, wenn das WTO-IWF-Washington-Konsens-System gründlich revidiert wird.
Die europäische Linke muss langfristig eine solche Revision anstreben – oder ihr abendländisches Erbe privatisieren. Aussichtslos ist das nicht. Das ruinöse race to the fiscal bottom in Europa, aber auch die chinesische Billigkonkurrenz dekonstruieren den totalitären Liberalismus; die Benzinpreise befördern die grüne Programmatik; eine Politik des Wachstums um jeden Preis ist erneut diskreditiert – wenn nicht aus ökologischen Erwägungen, dann aufgrund der wiederholten Erfahrung, dass Wachstum und „Reichtum der Nationen“ sich entkoppelt haben. In den USA steigt, nicht ohne Mitwirkung der Naturgewalten, die Stimmung gegen die „Verunglimpfung des öffentlichen Sektors“ (Paul Krugman), und die Idee, dass der „Staat eine Kraft des Guten“ sei (Thomas Friedman), gewinnt an Boden.
Die beste Zukunftssicherung im Strudel der nächsten Jahrzehnte wären einige große Schritte, die auf eine wirkliche Europäische Verfassung zielen: mit transnationalen Sozialsystemen, Mindestlöhnen, Renten- und Arbeitsverfassung, und mit der politischen Induktion eines neuen, binneneuropäischen „Kondratieff’schen“ Aufschwungs – mittels großer, transnationaler Programme für erneuerbare Energien oder transnationale Verkehrsnetze. Hier läge die große Aufgabe einer wiedergeborenen europäischen Sozialdemokratie – die überdies als Einzige den Arbeitnehmern und der „Neuen Mitte“ die wirtschaftlichen und politischen „Opfer“ interpretieren könnte, die dafür zu erbringen sind: ein Verzicht auf gesteigerten Konsum zugunsten von Zukunftssicherheit, Lebensqualität und einer dynamisch-konservativen Bewahrung des „European Way of Life“.
Die Chancen für diese Vision eines „Grand European Left Designs“ sind derzeit noch sehr ungewiss. Zunächst geht es deshalb darum, regierungstaugliche „linke“ Koalitionen im nationalen Rahmen zu schmieden, die eine solche Perspektive nicht ausschließen. In Deutschland hat der „Wirtschaftsweise“ Peter Bofinger ein 10-Punkte-Programm entworfen („Wir sind besser, als wir glauben“, 2005), das keine hochfliegende Megabotschaft enthält, sondern eine Art ideale sozialdemokratische Regierungserklärung. Ihre wesentlichen Bausteine sind: vorrangige und schnelle Koordinierung der EU-Steuerpolitik; Senkung der Lohnnebenkosten bei gleichzeitiger Erhebung neuer Körperschaftsteuern und Steuern auf Einkommen und Vermögen; Einbeziehung aller Beschäftigten in die Sicherungssysteme; große staatliche Investitionen in Bildung, Infrastrukturen und die entsprechenden Produktionsstätten (alternative Energien, Verkehrssysteme und elektronische Netze) statt globaler Konjunkturprogramme; die Umwidmung der Ausgaben für die Alimentierung von Arbeitslosen, sinnlose „Fortbildungen“ und für die steuerliche Begünstigung von Stundenjobs zugunsten einer Subventionierung von sozialversicherten Vollzeitjobs mit geringem Einkommen.
Ergänzen wir das Ganze durch eine Wiederbelebung der Arbeitszeitverkürzung, die die geschwächten Gewerkschaften wider besseres Wissen aufgaben. Denn sie ist die einzige wirksame Strategie zur Erhaltung einer Vollbeschäftigung mit decent jobs; alles andere bleibt Sozialpolitik – unwürdig, menschliche Potenziale zerstörend und immer schwerer zu finanzieren.
Eine derartige Wirtschaftspolitik aus einem Guss, die allen wirtschaftlichen Akteuren (der Exportindustrie, dem Mittelstand, den Arbeitnehmern) Einschränkungen abverlangt, würde Deutschland durch die Verbreiterung des „Sockels der Spitzenleistungen“ zukunftstauglicher machen, die Arbeitslosigkeit abbauen und eine verschlankte Version des europäischen Sozialstaats im globalen Umfeld bewahren. Sie könnte die Abwanderung von Kapitel nicht verhindern, aber durch eine aktive (materiell keynesianische) Industriepolitik den anstehenden Übergang zur postfossilen Welt beschleunigen – und so neue Märkte besetzen, wie Hermann Scheer es in seinem Buch „Energieautonomie“ beschreibt.
Eine solche Politik wäre wirklich: ein Ruck und überdies anschlussfähig an die spezifischen Qualitäten der deutschen Industrie und die Grundüberzeugungen der Konsensgesellschaft. Mit einem Quäntchen Modernisierungspathos – und Arbeitsplätzen in den Zukunftsindustrien – könnte sie die jammernde Apathie aufhellen, in die das Land manchmal zu verfallen droht. Der große Strömungsspürer Schröder hat einiges davon in die letzten Wahlkampftage geworfen. Rot-grün wie nie zuvor, singt er das Lob der erneuerbaren Energien. Und soziale Kälte wie „Unmenschlichkeit“ lauern für ihn einen Prozentpunkt jenseits der Abstriche, die sozialdemokratische Politik an den Sozialleistungen machen würde.
Nach der Wahl ist also vor der Wahl. Wenn die SPD sich nicht in einer Merkel-Koalition weiter schlank modernisieren will, wird sie programmatisch auf eine neue „Einheit der Linken“ hinarbeiten müssen. Die Grünen brauchen eine Rückbesinnung auf die sozialen und kulturellen Implikationen des ökologischen Projekts und auf die postmateriellen Werte. Und die Linkspartei wird sich, über die populären Forderungen von Mindestlohn und Besteuerung der Reichen hinaus, Gedanken über Grundsicherung, Renten und Gesundheitssystem machen müssen – oder als Protestpartei untergehen.
Aber nur die SPD kann zur organisierenden Mitte eines solchen Erneuerungsprogramms werden, das auch die „Leistungsträger“ der Mitte, wenn nicht begeistern, so wenigstens überzeugen kann. Russisches Erdgas und ein solares Crashprogramm; ein schlankerer und zugleich effektivereröffentlicher Dienst; konkurrenzfähige Löhne und mehr Zeitwohlstand; höhere Vermögensteuern und weniger Staatsschulden – das alles wäre durchaus zu vermitteln. Und zugleich wäre es der Versuch einer Antwort auf Robert Reichs Frage, „ob unsere Bürgertugenden stark genug sein werden, den zentrifugalen Kräften der neuen globalen Wirtschaft zu widerstehen“. Schließlich sind wir „nicht nur ökonomische Akteure, sondern auch Bürger; wir mögen auf Märkten arbeiten, aber wir leben in Gesellschaften“.
Es ist fraglich, ob es gelingen kann, den Sozialstaat, ja Staatlichkeit überhaupt, gegen die Dynamik des globalen Marktstaates zu behaupten, und es sind viele Unbekannte im Spiel. Der Beginn eines neuen linken Projekts setzte vor allem und zunächst eine ganz neue öffentliche Debatte voraus, um die seit zwanzig Jahren herrschende Dominanz neoliberaler Ideologen zu durchbrechen. Die alten 68er, die Grünen, die in den 1989er-Jahren noch visionäre Ziele setzten, sind verschlissen und verstummt. Sie träumen schöne Träume von der Kraft der „europäischen Zivilgesellschaft“ (Ulrich Beck) oder, noch unrealistischer, von einer Allianz „derer, die nicht mehr können, mit denen, die nicht mehr wollen“ (Peter Glotz). Viele der unter Dreißigjährigen haben die Vorstellung einer „Welt als Markt“ schon verinnerlicht und sich in der neuen Unsicherheit eingerichtet. Sie mögen starke moralische Zweifel hegen, aber die münden bislang nicht in Politik, sondern eher in Humanitarismus, Gruppenrückzug, Pseudopolitik à la Negri, abgehobene „Werte“-Debatten oder Suche nach Autoritäten.
Würde die SPD begreifen, dass „der Staat eine Kraft des Guten“ ist und die Forderung nach ethischer Steuerung der Wirtschaft immer noch, oder schon wieder, ein sehr populärer Gedanke – dann könnte es demnächst zu einer Eintrittswelle kommen. Das neue Personal wird sich dann schon finden.
Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin