Die Dame im blauen Mantel
von Marmar Kabir
Schon sehr lange hat kein Arm ihren noch festen Körper umschlungen, keine Hand ihre glatte, weiße Haut liebkost, kein Kuss ihre vollen Lippen berührt. Der leichte marineblaue Mantel, ein treuer Begleiter, hat ihre Formen angenommen. Er hüllt sie ein und umfängt sie. Das ebenso unverzichtbare wie störende weiße Tuch umschließt ihr rundes Gesicht, bedeckt ihr Haar und endet unter dem Kinn in einem festen Knoten.
Sie stammt aus Täbris, hat blaue Augen und dunkelblondes Haar, das jetzt grau wird, mit seinem orientalischen Strahlen aber kräftiger, fester und dichter wirkt als das der europäischen Frauen. Ihr Rücken ist leicht gebeugt, als trüge sie die Last der Jahre.
Sie betritt den Wartesaal von „Atieh sazan“ (Erbauer der Zukunft) in der ersten Etage eines Hauses im Norden Teherans. Hier hat die Rentenversicherung für das Bildungswesen eine Anlaufstelle eingerichtet, wo medizinische Dokumente für eine mögliche Kostenerstattung entgegengenommen werden. „Nummer 534, Ihre Unterlagen sind nicht vollständig, wir benötigen alle Originale, hier ist nur der Arztbericht des PET-Scan, wir brauchen die Überweisung und alle Befunde im Detail, wir brauchen auch die Originale der Laboruntersuchungen, mit Arztstempel.“
Sie erklärt mit schwacher Stimme, dass sie nichts anderes habe. Die junge Frau hinter dem Schalter antwortet laut, damit auch andere es hören und sich zu Herzen nehmen: „Lesen Sie gefälligst, was da an der Wand steht. Können Sie lesen? Wir brauchen alle Originale, wenn Sie die nicht haben, müssen Sie noch mal ins Krankenhaus ... Antworten Sie mir, können Sie lesen oder nicht?“
Sie hat keine Gelegenheit zu antworten, sammelt ihre Papiere ein, geht zur Treppe und zieht den Knoten von ihrem Kopftuch fest.
Sie war Lehrerin und hatte gerade ihre Lehrerlaubnis für Literatur erhalten, als die Universitäten wegen der Studentenunruhen nach der Revolution geschlossen wurden. An der Uni hatte sie ihren Mann kennengelernt, einen Dichter und linken Aktivisten.
Als sie heute, am Sonntag, dem 17. September 2017, auf den Bus wartet, um ins Khatam-Krankenhaus beim Mellat-Park zurückzufahren und die Originale der Befunde zu erbitten, die das Vorhandensein eines Tumors irgendwo in ihrem Körper bestätigen, liest sie die Überschriften der auf dem Boden herumliegenden Zeitungen: die Kritik eines iranischen Films, der beim Festival in Venedig einen Preis gewonnen hat; die Folgen des Hurrikans in Florida; eine Diskussion darüber, ob es möglich sein sollte, dass Frauen Führungspositionen einnehmen, und ob sich das Wort „rajol“ auf Politiker im Allgemeinen oder nur auf die männlichen bezieht; der Zehnmilliardenkredit Chinas an fünf iranische Banken und schließlich die ewige, stets wiederkehrende Drohung, das Damoklesschwert seit fast 40 Jahren: die Möglichkeit eines US-amerikanischen Angriffs ...
Der Daily Telegraph beschuldigt Iran, Nordkorea bei der atomaren Aufrüstung zu helfen. Unwahrscheinlich, sagt sie sich und hofft, dass der Vorwurf nicht zum Vorwand für einen Angriff wird, der ihr jedoch angesichts der Verbündeten Irans und seiner Stellung in der Region unwahrscheinlich erscheint.
Junge Männer gehen an ihr vorbei und diskutieren lautstark über den Sieg im Volleyballspiel gegen Frankreich, einer pfeift ein Lied, das sie leise mitsummt, die Jugendlichen schubsen sie beiseite, ohne sie zu sehen, sie wäre beinahe gestürzt, hält sich aber aufrecht und geht weiter ihren Gedanken nach.
Ein paar Monate nach ihrer Hochzeit im November 1980 musste ihr Mann in den Krieg gegen den Iran ziehen. Bei den ersten zwei, drei Fronturlauben spürte sie noch das Feuer ihrer Liebe, aber dann war es vorbei. Irgendetwas hatte die brennende Leidenschaft abgekühlt und schließlich zerstört, nicht nur bei ihm, auch bei ihr.
Sie war enttäuscht, fühlte sich ungeliebt und nach der aufrichtigen Freundschaft der Anfangszeit in die zweite Reihe verbannt. Er sprach nicht mehr mit ihr, hörte ihr nicht mehr zu, verbrachte die wenigen freien Tage mit seinen Genossen. Aber besonders traurig war sie nicht. Einmal redeten sie darüber und nahmen sich sogar vor, mit einer älteren Genossin zu sprechen und zu versuchen, das erloschene Feuer neu zu entfachen, aber ehe sie dazu kamen, wurde er verhaftet.
Der Bus hat Verspätung. Es ist ein warmer Herbsttag, aber plötzlich überfällt sie eine andere, erstickende Hitze, die sie kaum atmen lässt, und ihr bricht der Schweiß aus.
Sie trinkt ein paar Schluck aus ihrer Flasche mit lauwarmem Damavand-Mineralwasser. Ab und zu unterbricht eine SMS von Irancell ihre Grübelei, um ihr mitzuteilen, dass sie 1000 Gratisgesprächsminuten gewinnen könne, wenn sie bei einem kleinen Glücksspiel mitmacht.
Auch nach der Verhaftung ihres Mannes Ende 1982 loderte die Flamme, der letzte Funke, nicht wieder auf. Trotzdem besuchte sie ihn regelmäßig und ohne Angst im großen Evin-Gefängnis. Sie ging auch zu den Treffen der Angehörigen von politischen Gefangenen, war sogar eine der Mutigsten. Bei den Besuchen saß er hinter einer Glasscheibe, und sie redeten übers Telefon miteinander, deshalb konnte sie den Körper, den sie einst zu lieben geglaubt hatte und der nun sehr geschwächt war, nie wieder berühren.
Als sie endlich hinten im Bus sitzt, grübelt sie immer noch über ihre Geschichte und fragt sich zum x-ten Mal, ob sie am Anfang ihn geliebt hat oder schon damals ein Bild, das sie in ihrem Kopf erschaffen hatte.
Dabei erinnert sie sich an die Einzelheiten ihrer Anfangszeit, an die große Leidenschaft, die sie wie ein Blitzschlag getroffen hatte, an zufällige Begegnungen in den leeren Fluren der Teheraner Universität im Winter 79, wo sie sich heimlich küssten, bevor sie zusammen demonstrieren gingen.
„Mein ganzes Leben schwebt, wenn ich dich sehe ...“ Das Gedicht von Forugh Farrochzād hatte er für sie abgeschrieben, das Blatt hat sie noch, ein Beweis, dass es diese fernen und flüchtigen Augenblicke wahrhaftig gegeben hatte. Zwei junge Mädchen neben ihr im Bus unterhalten sich laut und zeigen einander Nachrichten, die sie über die Telegram-App auf ihren Smartphones erhalten. Die eine bittet die andere um Rat, um blitzschnell auf die gewagten Avancen eines offenbar ziemlich lustigen Jungen zu antworten.
Mühsam geht sie die steile Straße zum Krankenhaus hinauf, setzt sich neben dem Eingang auf eine Bank, um Atem zu holen, und summt ein Lied, während sie den Knoten ihres Tuchs unter dem Kinn festzieht.
Eine Frau in schwarzem Tschador verteilt mit Nüssen gefüllte Datteln zum Gedenken an ihren verstorbenen Mann. Die wartenden Patienten bedienen sich und murmeln Gebete. Ein weißes, funkelndes Auto fährt an den Schranken vorbei zum Haupteingang, eine stark geschminkte Frau steigt aus und drückt dem Wagenmeister die Schlüssel und einen Geldschein in die Hand.
Vor 38 Jahren, als sie ein Stück weiter, hinter dem Mellat-Park, mit ihrem Mann vor dem nationalen Radio- und Fernsehsender demonstriert hatte, war sie stolz und voller Hoffnung gewesen. Der Iran schüttelte die Militärdiktatur des Schahs ab. Sie hatte fest daran geglaubt und das Gefühl gehabt, ihren Beitrag zu leisten.
Das Archiv mit den Befunden ist im Keller des Krankenhauses, am Ende eines leeren Gangs. Nach langem Warten, bis die Mittagspause und die anschließende Gebetszeit vorbei ist, wird ihr endlich das Bild des wuchernden Tumors ausgehändigt.
Vor dem Ausgang steht wieder das weiße Auto. Die geschminkte Frau lädt sie ein, bis zum Vanak-Platz mitzufahren. Sie genießt den kühlen Luftstrom aus der Klimaanlage, auf einem Bildschirm laufen Musikvideos, die junge Leute illegal produziert haben.
Die junge Frau erklärt ihr, dass das ein Dienstwagen sei, sie besuche Ärzte, um ihnen Medikamente einer französischen Firma vorzustellen, aber ihr Posten sei gefährdet, weil der Barjam, die Öffnung, auf die die westlichen Länder nach dem „historischen“ Abkommen über das iranische Atomprogramm sehnsüchtig warten, zu langsam vorangehe.
Die Frau riecht gut, das Auto auch, nach süßem Jasmin, wie die Blüten, die sie als junges Mädchen im Garten ihrer Großmutter in ihren Büstenhalter gesteckt hat.
„Europa muss schneller handeln, darf keine Angst vor den Amerikanern haben, muss investieren. Der Iran ist ein großer Markt, die Chinesen sind schlauer, wissen Sie, die investieren wenigstens. Bald muss ich noch ihre Sprache lernen, dann werden mir meine Französischkurse nichts mehr nützen“, erklärt die Frau.
Sie hat lauter verschiedene Ideen, versucht sie schnell im Kopf zu sortieren und setzt zu einer Erklärung an über das Paradox der „Öffnung des Irans“ und die Gefahr der Ausplünderung, die absolute Notwendigkeit des Friedens und normaler Beziehungen, die Absichten der Multis und den globalisierten Markt.
Sie weiß nicht, wo sie anfangen soll, um klare Worte zu finden und nicht mit alten Phrasen zu langweilen. Die junge Frau spricht in ihr Mobiltelefon: „Ich bring eine charmante, wunderschöne Frau zur Bushaltestelle Vanak, sie sieht aus wie Mama! Dann komm ich zu dir, stell schon mal die Flaschen kalt.“ Dabei blickt sie sie lächelnd an. Sie zwinkert ihr zu und steigt aus.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Marmar Kabir ist Mitarbeiterin von Le Monde diplomatique auf Farsi.
© Le Monde diplomatique, Berlin