07.09.2017

Das imperialistische Alphabet

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Das imperialistische Alphabet

von Philippe Descamps und Xavier Monthéard

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Gemessen an der Menschheitsgeschichte, die vor etwa zwei Millionen Jahren begann, ist die Schrift noch sehr jung: Die Keilschrift auf den sumerischen Tafeln von Uruk – dem ältesten bekannten Zeugnis einer Schrift – wurde vor 5300 Jahren in Ton geritzt. Das Aufgeschriebene umfasst indes nur einen winzigen Teil der gesprochenen Worte. Von den vermutlich tausenden Sprachen, Dialekten und Mundarten, die es schon lange vorher gab, werden wir wohl nie etwas erfahren.

An der Verbreitung der Schriften auf dem Globus lässt sich in erster Linie ablesen, wie und wo sich insbesondere die großen Religionen ausgebreitet haben: Die Gebiete der indischen Schriften zeichnen bis heute Buddhas Weg nach; die Romanisierung der ersten Jahrhunderte nach Christus folgte in konzentrischen Kreisen der vom Mittelmeer ausgehenden Christianisierung; die Arabisierung galoppierte den Predigern des Islam hinterher, die in Mekka aufgebrochen waren; und mit dem Schisma der katholischen Kirche trennten sich die Wege der europäischen Schriften, weil sich unter der Ostkirche fortan das Kyrillische verbreitete.

Später stabilisierten die Kolonialherren ihre Herrschaft mit der Behauptung, sie würden Völkern, die lediglich die Weisheit der mündlichen Überlieferung, aber kein Alphabet besaßen, die Zivilisation bringen. In ihrem Bekehrungseifer entwickelten die Missio­nare Silbenalphabete, um in der Sprache der Sünder predigen zu können. Dabei wäre das nicht unbedingt nötig gewesen, denn bei all ihren Unterschieden lassen sich alle Sprachen in jeder beliebigen Schrift darstellen: Weißrussisch und Chinesisch lassen sich dem arabischen Alphabet anpassen; das Koreanische kann man ebenso gut durch Sinogramme wie durch das Hangul-Alphabet wiedergeben; das Maltesische ist zwar arabischen Ursprungs, kennt aber nur lateinische Buchstaben.

Nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete sich die Idee der Universalisierung der lateinischen Buchstaben, die sich von der Türkei über Iran und China bis nach Japan durchsetzen sollten. Auch die Sowjets, die sich den Internationalismus auf die Fahnen geschrieben hatten, beschlossen 1926 auf einem Kongress in Baku die Übernahme der lateinischen Schrift für Dutzende Völker zwischen Aserbaidschan und der Arktis.

Anatoli Lunatscharski, von 1917 bis 1929 Volkskommissar für das Bildungswesen, erwog sogar, die slawischen Sprachen auf die lateinische Schreibweise umzustellen – in der Hoffnung, innerhalb von fünf Jahren den Analphabetismus zu besiegen. Mit dem „Oktoberalphabet“ wollte man auch die Muslime dem arabisch-islamischen Einfluss entziehen und den zahlreichen indigenen Völkern die Planwirtschaft verständlich machen – unter Verwendung eines einzigen Schreibmaschinenmodells.

Ab 1934 erzwang jedoch Josef Stalin die Rückbesinnung auf das kyrillische Alphabet und die zaristische Sprachenpolitik, die die Regionalsprachen unterdrückt hatte, um die Verbreitung des Russischen im gesamten Reich zu befördern. Diese Verdrängung der Nationalsprachen durch das Russische erschwert heute in Usbekistan und in Kasachstan die Rückkehr zum lateinischen Alphabet, die nach dem Zusammenbruch der UdSSR von den lokalen Eliten angestrebt wird.

Heute ist die lateinische Schrift zu einer Art Widerhall der neoliberalen Zwänge geworden. Sie hat sich – ebenso wie das Primat der möglichst niedrigen Produktionskosten – in vielen Weltregionen durchgesetzt, wenngleich mit ein paar kleinen Zugeständnissen an die „grafischen Dialekte“ (wie die französische Cédille, die spanische Tilde oder die slawischen Akzente).

1991 wurde in Kalifornien das Unicode-Konsortium gegründet. Es hat eine Industrienorm entwickelt, die Schriften einheitlich verschlüsselt und den digitalen Austausch zwischen den Sprachen ermöglicht. Die Version von 2016 enthält 128 172 Zeichen, zwei Drittel davon sind chinesisch. Es ist paradox: Während jede einzelne Schrift noch nie so umfangreich dokumentiert und vor dem Vergessen bewahrt wurde wie heute, haben in der Praxis noch nie so viele Menschen dieselbe Schrift benutzt. Um einfacher auf seinem Telefon oder Tablet zu tippen, jongliert auch der chinesische Konsument mit den berühmten 26 lateinischen Buchstaben.

Hat also das Alphabet aus dem alten Rom den Kampf gewonnen? Die nebenstehende Weltkarte zeigt das relative Gewicht der offiziellen Schriften. Trotz erkennbarem Trend zur Vereinheitlichung steht keineswegs fest, dass im 21. Jahrhundert der Gegensatz zwischen dem zunehmend universellen lateinischen Alphabet und ein paar rebellischen Einzelsprachen bestimmend bleibt. Im Netz gibt es längst eine Dynamik der Vermischung, wie die Erfindung des Arabizi, in dem Zahlen zur Darstellung von Lauten dienen, um die phonetischen Unzulänglichkeiten der lateinischen Schrift zu beheben. Die Verbreitung der automatischen Transkription und anderer technologischer Neuerungen könnte dazu beitragen, dass alternative Schriften und Mischformen an Bedeutung gewinnen.

⇥Philippe Descamps und Xavier Monthéard

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Amerika. Abgesehen von den Schriftzeichen der Maya und der Azteken, deren Kulturen zum großen Teil von den spanischen Missionaren zerstört wurden, kannten die ersten Völker Amerikas keine Schrift. Unter den Silbenschriften (Cherokee, Cri und andere), die im 19. Jahrhundert erfunden wurden, ist nur das Inuktitut (Schriftzeichen siehe Original) seit 1976 als offizielle Schrift anerkannt und in den auto­no­men Inuit­re­gio­nen Nunavut und Nunavik vorherrschend.

Moldau. In Mittel- und Osteuropa schreiben die orthodox geprägten Länder seit dem 13. Jahrhundert Varianten des Kyrillischen. Die Ausnahme ist Rumänien, wo nach dem Austritt aus dem Osmanischen Reich 1881 das lateinische Alphabet eingeführt wurde. In der Republik Moldau erfolgte 1991 die Anerkennung des ­Rumänischen (genannt Moldauisch) als offi­ziel­le Sprache und damit die Rückkehr zur ­lateinischen Schrift, die auch zwischen 1918 und 1940 benutzt wurde. Das lieferte den russischsprachigen Einwohnern östlich des ­Dnjestr ein Argument, um die einseitige Sezession Transnistriens zu rechtfertigten, wo man weiter Kyrillisch schreibt.

Nord- und Südkorea. Das Hangul-Alphabet ist eine für die koreanische Sprache entwickelte Buchstabenschrift, deren Verkündung durch König Sejong auf das Jahr 1446 datiert wird. Doch erst in den letzten hundert Jahren hat sich die Schrift auf der Koreanischen Halbinsel verbreitet. Nordkorea begeht am 15. Januar den Hangul-Tag als nationalen Gedenktag, während Südkorea die Schrift am 9. Oktober feiert, seit 2013 sogar mit einem offiziellen Feier­tag. Während Nordkorea schon 1949 die chinesischen Schriftzeichen abgeschafft hat, lernt man in den Schulen Südkoreas noch ­heute 1800 Zeichen, obwohl diese nur noch gelegentlich an Universitäten und in konservativen Zeitungen verwendet werden.

Europa. Seit dem EU-Beitritt Bulgariens 2007 ist das kyrillische Alphabet nach dem lateinischen und dem griechischen (1981) das dritte offizielle Alphabet der Europäischen Union. Obwohl Arabisch vor allem auf dem Balkan seit Jahrhunderten gesprochen wird, ist es nirgends anerkannt. Alle Sprachen (außer Englisch), die das lateinische Alphabet verwenden, ergänzen es mit diakritischen Zeichen wie Umlautpunkten, Akzenten oder dem Háček.

Exjugoslawien. In Jugoslawien waren für die gemeinsame Sprache der Kroaten, Bosnier, Serben und Montenegriner das kyrillische und das lateinische Alphabet als gleichberechtigt anerkannt. Seit den Kriegen in den 1990er Jahren lehnen die Muslime in Bosnien und die kroatischen Katholiken die kyrillische Schrift ab, die für sie mit dem serbischen Nationalismus verbunden ist. Nach dem Beschluss der kroatischen Regierung, diese in Regionen mit starker serbischer Minderheit anzuerkennen, kam es 2013 in Vukovar zu massiven Protesten.

Mazedonien. Das 1945 vereinheitlichte mazedonische kyrillische Alphabet wurde den Minderheiten der Republik vom kommunistischen Regime Jugoslawiens aufgezwungen. Nach der Unabhängigkeit erklärte die Verfassung von 1991 das Mazedonische und sein Alphabet zur einzigen offiziellen Sprache. Das anfangs stark eingeschränkte, lateinisch geschriebene Albanisch ist seit dem Vertrag von Ohrid (2001) überall dort als Zweitsprache anerkannt, wo die albanische Minderheit mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht.

Maghreb. Im gesamten Maghreb spielt der Kampf um die Anerkennung der Berber­sprache Tamazight schon seit der Unabhängigkeit eine wichtige Rolle. Sie ist in Marokko seit 2011 und in Algerien seit 2016 anerkannt. Mehr als 2000 Jahre haben die Tuareg ihre libysch-­berberische Schrift, das Tifinagh, ­praktiziert. Der einzige Grafikzeichensatz, den Algeriens National­druckerei besaß, wurde 1962 auf Befehl von Ahmed Ben Bella zerstört. Heute wird Tamazight meist in latei­ni­schen Buchstaben geschrieben.

Afrika. Südlich der Sahara geht es weniger um den Erhalt der seltenen Schriften, die im 19. und 20. Jahrhundert erfunden wurden. Viel entscheidender ist die Entwicklung eines einfachen Systems, um die Regionalsprachen zu verschriftlichen. Das 1980 von der Unesco geschaffene „afrikanische Referenzalphabet“ dient allerdings eher wissenschaftlichen als praktischen Erfordernissen. Die Vielsprachigkeit ist im Mündlichen lebendig, im Schriftlichen herrschen Französisch, Englisch und Portugiesisch.

Äthiopien und Eritrea. Die alte äthiopische Schrift ist eine Silbenschrift, die mit der Ausbreitung des Christentums in Afrika verbunden war. Sie wurde im 20. Jahrhundert durch den Negus (Kaiser von Äthiopien) und dann durch das marxistische Militärregime wiederbelebt. Sie gilt als Symbol der kulturellen ­Besonderheit, die Minderheitensprachen in den beiden Ländern verwenden heute jedoch auch das lateinische Alphabet.

Japan. Die japanische Schrift ist aus mehreren Schriften zusammengesetzt. Sie verbindet die chinesischen Zeichen mit zwei nationalen Silbenschriften und lateinischen Buchstaben, die alle in einem einzigen Satz verwendet werden können. Diese Komplexität schadet weder der Verbreitung der Presse noch der kulturellen Ausstrahlung Japans – wie der internationale Erfolg der Mangas zeigt –, sondern macht das Land eher zu einer kulturellen Festung.

China. Die Regierung in Peking hatte zeitweise er­wogen, die chinesischen Schriftzeichen mit ihren zirka 87 000 Zeichen – von denen ein Großteil jedoch nur ­selten verwendet wird – zu latinisieren. Aber sie entschied sich dann doch dagegen. Schließlich stiftet das logografische System nationale Einheit, weil man die Sino­gramme in den zahlreichen Sprachen und Dialekten unabhängig von ihrer Aussprache versteht. Ab 1956 setzten die Behörden eine vereinfachende Darstellung von mehr als 2000 Schriftzeichen durch. Diese Reform sowie die Einführung des Pinyin (eine phonetische Umschrift auf Basis des lateinischen Alphabets für die Zwecke der Informatik) haben eine Kluft zu Hongkong, Macao und Taiwan geschaffen, wo die vereinfachte Schreibweise nicht oder nur zum Teil übernommen wurde.

Xinjiang. Die Uiguren im autonomen Gebiet Xinjiang nutzen ihr Alphabet, um sich der Sini­sierung und der kulturellen Dominanz des Chinesischen zu widersetzen. Ihre mittelalterliche Schrift, in der ein Nachfahre von Dschingis Khan mit Philipp IV. korrespondierte, wurde nach und nach durch das Arabische ersetzt. 1956 setzte Peking unter dem Einfluss der ­sowjetischen Nationalitätenpolitik kurzzeitig das Kyrillische durch, ab 1960 folgte eine ­Phase, in der das lateinische Alphabet gebräuchlich wurde, bevor 1982 das arabische Alphabet offiziell anerkannt wurde.

Vietnam. Mit dem Vordringen der christlichen Missionare machte eine kodifizierte lateinische Umschrift des Vietnamesischen schon im 17. Jahrhundert der alten, vom Chinesischen abgeleiteten Schrift Konkurrenz. Die französischen Kolonisatoren setzten sie in der Verwaltung durch, zum Leidwesen der konservativen Gelehrten, nicht aber der modernen Patrioten. Nach der Revolution 1945 bestätigte Ho Chi Minh die Entscheidung für das Lateinische, um die Alphabetisierung zu erleichtern und sich vom großen chinesischen Bruder abzugrenzen.

Südostasien. Die Alphasyllabare (bei denen die Buchstaben nicht streng nach der gesprochenen Reihenfolge angeordnet, sondern segmental nach Silben gruppiert werden) haben sich aus den indischen Sprachen entwickelt und in Indochina über den Buddhismus verbreitet. Während sich auf den Inseln Südostasiens die lateinischen Buchstaben durchsetzten, haben diese Schriften der Kolonisation widerstanden. Vor allem in Thailand und Myanmar dienen sie auch dem Ausdruck nationalistischer Tendenzen. Im kosmopolitischen Singapur existieren chinesische, tamilische und lateinische Schriften nebeneinander.

Kaukasus. In den Bergen gibt es eine große Vielfalt an Sprachen, von denen vor der russischen Eroberung im 19. Jahrhundert nur wenige eine Schrift besaßen. Das im 5. Jahrhundert entstandene armenische Alphabet ist in Armenien nach wie vor die einzige offizielle Schrift. Auch das georgische Alphabet ist ein Symbol nationaler Identität. 1978 verzichteten die sowjetischen Behörden nach massiven Protesten darauf, ihm den offiziellen Status zu entziehen.

Kurden. Die kurdischen Sprachen wurden tradi­tio­nell mit dem arabischen Alphabet geschrieben, in der Türkei jedoch mit lateinischen Buchstaben. Erst 2013 wurden die Buchstaben q, w und x – die es im Türkischen nicht gibt – in das offizielle Alphabet aufgenommen. Daran erkennt man kurdische Namen und Begriffe.

Türkei. Mustafa Kemal Atatürk setzte sich persönlich für die Reform von 1928 ein, indem er mit einer ­Tafel und Kreide durchs Land zog, um das lateinische Alphabet zu verbreiten. Hinter der Einführung der lateinischen Schrift stand der Wille zur Modernisierung und Türkisierung, die den Kampf gegen An­alpha­betis­mus erleichtern sollten. Präsident ­Recep Tayyip Erdoğan will, dass an den Gymnasien auch wieder das alte ­Osmanisch als Unterrichtsfach gelehrt wird.

Israel. Fast zwei Jahrtausende lang war das hebräische Alphabet nur dazu da, in der jüdischen Diaspora die literarischen und liturgischen Traditionen fortleben zu lassen. Dann wurde es zur Grundlage für die Wiederbelebung einer Sprache, die einem politischen Projekt diente: der Gründung des Staates ­Israel. Das moderne Hebräisch wurde zur Regionalsprache und begleitete die Ansiedlung von ­Zionisten in Palästina.

Unter der sowjetischen Sprachen­politik litten auch die altaischen Sprachen der Völker Zentralasiens und die tadschikische Sprache (Persisch), die in einem knappen Jahrhundert gleich mehrfach die Schrift wechseln mussten. Nach dem Zerfall der UdSSR schlug die Türkei ein gemeinsames (lateinisches) Alphabet vor. Doch nach der Unabhängigkeit schlug jedes Land einen eigenen Weg ein, um seine Identität und Souveränität zu bekunden. Im April 2017 kündigte der kasachische Präsident den Übergang zum lateinischen Alphabet bis 2025 an.

Auf Bundes­ebene sind in Indien die lateinische und die Nagari-Schrift offiziell anerkannt, weitere zwölf in den 36 Bundesstaaten und Territorien. Das ist ­eine weltweit einzigartige Situation. Das „Anglo-­Indisch“, das im Vergleich zum Hindi als neutraler gilt, hat sich zur gemeinsamen Sprache der Eliten entwickelt. Die Nagari-Schrift, die zuweilen aggressiv von Hindu-Nationalisten gefördert wird, behält jedoch eine zentrale und identitätsstiftende Funktion. Schrift und Religion stimmen nicht immer überein: Während die Tamilen (überwiegend Hindus) in Sri Lanka ihre Unterschiedlichkeit gegenüber den buddhistischen Singhalesen auch durch die Verwendung einer indischen Schrift betonen, benutzen das hinduistische Westbengalen und das muslimische Bangladesch dasselbe bengalische Alphabet. Der Versuch Westpakistans, das arabische Alphabet durchzusetzen, war 1971 sogar einer der Gründe für die Abspaltung Bangladeschs.

Le Monde diplomatique vom 07.09.2017, von Philippe Descamps und Xavier Monthéard