07.09.2017

Der wunderbare Geldschalter

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Der wunderbare Geldschalter

von Aaron Sahr

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Die Welt schwimmt in Geld. Deshalb sorgt beispielsweise Apple in den Wirtschaftskommentaren seit Monaten für Verwirrung: Das Flaggschiff der Digitalisierung sitzt auf etwa 250 Milliarden US-Dollar an Barmitteln und weiß offenbar nicht genau, was mit dem ganzen Geld geschehen soll.

Auch der angeblich Not leidende Finanzsektor, der sich über neue Regularien beschwert, prosperiert wieder wie vor der Krise: Kürzlich vermeldeten die zehn größten US-amerikanischen Banken, sie verdienten jetzt wieder so gut wie in den Jahren vor 2007 – zusammen etwa 30 Milliarden Dollar pro Vierteljahr.

Solche Gewinne sind kein Wunder, denn liegen die Geldsummen, die heute weltweit zirkulieren, um 35 Prozent höher als im Jahr vor der Lehman-Pleite. Jahr für Jahr werden auch neue Rekorde an privatem Vermögen verzeichnet. Laut Berechnungen der Credit Suisse lag der Wert des globalen Privateigentums 2016 bei sagenhaften 256 Billionen Dollar.

All das wäre kaum erwähnenswert, wenn alle oder zumindest die meisten mitschwimmen dürften. Doch davon kann nicht die Rede sein. Der Großteil der Aktien von Apple und den großen US-amerikanischen Banken, die erkleckliche Dividenden abwerfen, sind bekanntlich im Besitz von sehr wenigen, aber eben sehr reichen Leuten. Diese Konzentration von Besitz hat in den sogenannten entwickelten Volkswirtschaften seit den späten 1970er Jahren wieder deutlich zugenommen.

So ist das halt im Kapitalismus, sollte man meinen. In kapitalistischen Ökonomien können die Kapitaleigentümer, frei nach Marx, Ressourcen und Arbeitskraft erwerben, um sich die Verkaufsrenditen der entstehenden Produkte anzueignen. Kapitalismus ist eben der Einsatz von Kapitaleigentum zum Zwecke des Profits. Und Profit macht, wer sein Kapital erfolgreich zum Einsatz bringt. Deshalb nehmen die Vermögen der Kapitaleigner tendenziell viel schneller zu als die Einkommen und Ersparnisse der Nichteigentümer. So weit, so bekannt. Selbst ohne Marx wird der Kapitalismus als das Imperium des Habens und des Profits begriffen. Um dieses Reich und seine Gesetze zu verstehen, muss man die Eigentümer in den Blick nehmen.

Joseph Schumpeter (1883–1950) hat vorgeschlagen, den Kapitalismus unter einer anderen Perspektive zu betrachten. Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler erkannte im Kreditsystem das „Hauptquartier des Kapitalismus“. Für ihn waren die Banken nicht deshalb interessant, weil sie große Vermögen verwalten, sondern weil sie Kapital produzieren. Die spezielle Dynamik, welche die kapitalistische Ökonomien auszeichnet, wird von den geldschöpfenden Banken in Gang gesetzt und angeheizt. Schaut euch nicht die Kapitaleigentümer und ihre Entscheidungen an, sagte Schumpeter, schaut euch die an, die Geld erzeugen dürfen.

Heute ist diese Forderung noch viel ernster zu nehmen als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals war die Fähigkeit von Banken, neues Geld zu erzeugen, noch durch die Verfügbarkeit von Gold begrenzt. Heute hingegen erzeugen Banken das Geld, das sie mit einem Kredit verleihen oder für den Kauf von Aktien benötigen, durch einfache Buchhaltung. Und das in einem Umfang, den sie selbst bestimmen. Das benötigte Kapital erscheint dann einfach als Information auf einem Konto. Nach einem Ausdruck, der sich in Teilen der Wirtschaftswissenschaft inzwischen eingebürgert hat, entsteht dieses Geld per keystroke, auf Knopfdruck.

Einige Ökonomen sind bemüht, diesen bemerkenswerten Umstand herunterzuspielen und zu relativieren. Sie behaupten, Banken könnten nur so viel Geld auf Knopfdruck erzeugen, wie es ihnen die Notenbanken gestatten. Tatsächlich aber gibt es eine solche Kon­trol­le nicht mehr, und zwar spätestens mit der Abkoppelung der Geldschöpfung vom knappen Gut Gold. Und das war im Jahr 1973. Seither geben private Banken den Takt bei der Geldschöpfung vor. Und immer mehr Experten sind bereit, die Tragweite dieser Umstellung anzuerkennen.

Im April 2017 hat selbst die Bundesbank ihre Darstellung der Geldschöpfung korrigiert. In ihrem Monatsbericht heißt es: „Die Fähigkeit der Banken, Kredite zu vergeben und Geld zu schaffen, hängt nicht davon ab, ob sie bereits über freie Zentralbankguthaben oder Einlagen verfügen.“ Dieser unscheinbare Satz hat gravierende Folgen. Er besagt, dass Banken ihre Zahlungen, also ihre Investitionen, nicht vorfinanzieren müssen.

Das bedeutet in der Sprache der traditionellen Kapitalismustheorie: Die Banken müssen vor einer Kreditvergabe kein Kapitaleigentum akkumulieren. Ihre Zahlungen sind nicht von einem Haben abhängig. Dieses Privileg macht Banken einzigartig. Es macht sie zu einer bedenkenswerten Anomalie im Herzen der kapitalistischen Wirtschaft. Denn Banken können Profite erwirtschaften, ohne zuvor akkumuliertes Kapitaleigentum einzusetzen. Das ist Keystroke-Kapitalismus.

In den vergangenen 40 Jahren haben die Banken dieses Privileg intensiv genutzt, wie sich an einer einzigen Zahl ablesen lässt: 1970 zirkulierten in den OECD-Ländern nicht einmal 2 Prozent der heutigen Geldmenge. Offenbar haben die Banken auf Knopfdruck mehr und mehr Geld geschaffen, viel schneller, als die Wirtschaft nachgewachsen ist. Genau diese enorme Ausweitung hat zur Verschärfung der Ungleichheit beigetragen.

Den Mechanismus kann man sich etwa so vorstellen: Seit den 1970er Jahren haben die Regierungen der OECD-Welt ihre Bankensysteme systematisch gepäppelt. In fast allen entwickelten Volkswirtschaften wurde kräftig dereguliert, was die Flexibilität der Kreditproduktion erhöhte. Und verbindliche Rettungsprogramme für gefährdete Finanzunternehmen sorgten zugleich dafür, das System zu stabilisieren und die Gewinnspannen zu erhöhen. Das lief auf eine „implizite Subventionierung“ hinaus.

Die rundum abgesicherten Banken schufen vor allem Geld für diejenigen, die auf den Preisanstieg von Vermögenswerten spekulieren wollten. Die laufend mit frischem Geld unterstützte Nachfrage ließ den Wert dieser Investments steigen. Das Resultat war eine „Vermögenspreisinflation“. Die Renditen steigerten nicht nur den Wohlstand ihrer Besitzer, sondern lockten vor allem immer neue Investoren auf die Kapitalmärkte.

Mit der Zeit verdienten Unternehmen immer mehr Geld auf diesen Märkten und immer weniger durch den Verkauf ihrer eigentlichen Produkte. Daher stiegen die Löhne der Arbeiter, die diese Produkte herstellten, immer langsamer, wenn sie nicht gar stagnierten. Die so Benachteiligten finanzierten ihren Lebensunterhalt zunehmend durch Kredite, was ebenfalls den Banken zugutekam. Deshalb ist im OECD-Raum, was insbesondere in Deutschland kaum beachtet wird, die Verschuldung von Privatpersonen in den letzten Jahrzehnten schneller gewachsen als die Staatsverschuldung oder die Schulden von Unternehmen.

Die Banken schöpften also bereitwillig mehr und mehr Geld für Investoren, während viele Lohnempfänger an Einkommen einbüßten, aber ebenfalls mit Krediten überschüttet wurden. Die Banken konnten sich vor Kunden kaum retten. Im Prinzip können sie jede Nachfrage bedienen, die sie bedienen wollen.

Gewinner dieser Entwicklung sind die Investoren, die Vermögensbesitzer und die Banken. Damit steht eine Minderheit von Gläubigern einer wachsenden Mehrheit von Schuldnern gegenüber, die Zinsen und Gebühren zahlt – und zwar für Produkte ohne Pro­duk­tions­kosten. Die Kreditvergabe stellt damit ein reibungsloses und rastloses Transfersystem von unten nach oben dar. Damit hat die enorme Vermehrung der Vermögen mittels einer unbeschränkten und hochflexiblen privaten Geldschöpfung dafür gesorgt, dass die Renditen des Keystroke-Privilegs erneut und vor allem den Spitzenvermögen zugutekamen. Die Ungleichheit wurde also „auf Knopfdruck“ noch einmal erheblich verschärft.

Dieser Mechanismus wird allzu leicht übersehen, wenn man den Zusammenhang von kapitalistischem Wachstum und Ungleichheit unter der Annahme betrachtet, der Kapitalismus sei das Imperium des Eigentums. Auf genau dieser Annahme beruhen aber die Programme der großen Parteien zur Bundestagswahl.

Deshalb sind sie alle, wenn es um das Thema Ungleichheit geht, heillos überfordert. Konservative und Liberale, aber auch Grüne und Sozialdemokraten wollen entweder die Nachfrage nach Arbeitskraft steigern oder das Angebot – etwa durch Bildung – verbessern. Letzteres setzt voraus, dass sich höher qualifizierte Lohnempfänger ein größeres Stück vom Kuchen nehmen. Die Linke hingegen will vor allem Vermögen umverteilen.

All das sind die alten, klassischen Lösungsvorschläge, die keinesfalls ausreichen, um die enorme Vermögenskonzentration in globalem Maßstab ernsthaft zu bekämpfen. Sie verkennen die Verteilungseffekte des Key­stroke-­Kapitalismus und damit den Motor der Vermögenskonzentration. Eine gesellschaftliche Debatte, die der Realität ins Auge sieht, kann sich nicht auf Arbeitsmarktpolitiken und Umverteilungsmaßnahmen beschränken. Sie muss die private Geldschöpfung zur Disposition stellen.

Aaron Sahr ist Wissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung. Zuletzt erschien von ihm „Das Versprechen des Geldes. Eine Praxistheorie des Kredits“, Hamburg (Hamburger Edition) 2017. Sein neues Buch „Keystroke-Kapitalismus. Ungleichheit auf Knopfdruck“ erscheint ebenda im September 2017.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.09.2017, von Aaron Sahr