10.08.2017

Mythos Europa

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Mythos Europa

von Régis Debray

Pulse of Europe auf dem Berliner Bebelplatz CHRISTIAN MANG
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Am Anfang war es eine große Verheißung: Thomas von Aquin und Viktor Hugo, eine glückliche Mischung aus christlicher Inspiration und dem Vorgriff auf humanitäre Werte. Im Sinne des unaufhaltsamen Fortschreitens zur Einheit der Nationen mit gemeinsamer politischer Verantwortung. Hinzu kam, für mich persönlich, der prägende Einfluss des großen Europäers Paul Valéry.

Was Valéry als „l’Europe possible“ beschwor, war gewiss nicht die spätere Europäische Union. War nicht die Wiedererweckung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, sondern das Europa von Albert Camus, geprägt von mediterranem Licht und katholischer Patina, im ehrwürdigen Alter noch humanistisch geworden, gleichwohl Rom näher als Frankfurt. Dieses Europa erstreckte sich im Süden von Algier über Alexandria bis Beirut, hielt inne in Athen, schob einen Ausleger in Richtung Istanbul und wandte sich dann – über den italienischen Stiefel und die Iberische Halbinsel – nach Norden. Für dieses Europa hatten die Sprache, die Geometrie und die Schöpfungen der Fantasie die elementare Bedeutung, die heute der Dow Jones und die Unternehmensteuern haben.

Die List der Geschichte wollte es anders. Es waren die USA, die uns darauf gebracht haben, als Gegenüber, ja sogar als Konkurrent aufzutreten – als Vereinigte Staaten von Europa. Eine Hegemonialmacht verfügt über das Zaubermittel, die alte durch eine neue Agenda zu ersetzen. Es ist zugleich der Zauber der Liebe. Nach 1945 ist es dem jungen Amerika im Gegensatz zu seinem so­wje­ti­schen Rivalen gelungen, die Liebe der Europäer zu gewinnen. Und wer liebt, ahmt nach. So gesehen war es völlig normal, dass sich das zukünftige föderale Europa am Vorbild der Neuen Welt orientierte. Derart hingebungsvoll auf die Auslöschung der eigenen Persönlichkeit hinzuarbeiten, ist Stoff für einen Dramatiker. Die Europäische Union ist eine antipolitische Maschine, deren Existenz geradezu darauf beruht, jedem Gedanken an Macht abzuschwören. Wie konnte es dazu kommen?

Die Geschichte geht so: Sozialdemokraten und Christdemokraten, die beiden Hauptdarsteller des Dramas, hatten sich am Ende des Krieges ein großartiges Projekt vorgenommen. Um das erneute Aufflammen von Konflikten zu verhindern, sollten die gemeinsamen Interessen Vorrang haben gegenüber den partikularen. Das Rezept lautete: föderale Erlösung von den nationalen Sünden.

So weit kein Einwand. Aber dann machten sich die Sozialisten überall daran, die sozialen Sicherungssysteme abzubauen, den Staat zu schwächen und mit ihm die letzte und einzige Schutzinstanz der Schutzlosen, die öffentlichen Leistungen zu kürzen und das Gewinnstreben zum obersten Prinzip zu erheben. Zugleich errichteten die geistigen Baumeister Europas ein durch und durch materialistisches Gebilde ohne Herz und Seele, in dem die Lobbyisten und die Rechenmaschine das Regiment führen und die Flüchtlinge zum Feind erklärt werden.

Die Europäische Union hat sich nur deshalb nicht aus der Geschichte verabschiedet, weil sie nie in ihr angekommen ist. Nie und nirgendwo wurde eine Armee unter der blauen Europaflagge eingesetzt, nie hat ein Herold aus Brüssel sein Veto gegen irgendetwas eingelegt, nie eine Friedenskonferenz einberufen, nie einen Krieg erklärt oder beendet. Das ist nicht die Art des Hauses.

Die großen europäischen Erfolge, Airbus und Arianespace, beruhen auf Regierungsvereinbarungen, auf klassischer, kluger Kooperation zwischen souveränen Staaten. Beide Projekte dienen eher einem konkreten Zweck und weniger dem institutionellen Gebilde EU, das wie die Filiale eines globalisierten Finanzkapitalismus funktioniert, der dem rheinischen Kapitalismus so fremd ist wie dem französischen Merkantilismus.

Wobei dieses Europa immerhin das großartige akademische Austauschprogramm Erasmus etabliert hat, das jedes Jahr hunderttausende von Stipendien vergibt, an dem auch Nicht-EU-Länder wie die Türkei teilnehmen und andere, wie die Schweiz, gern wieder mitmachen würden (die Schweiz wurde 2014 aus dem Programm ausgeschlossen, nachdem die Eidgenossen in einer Volksabstimmung die Personenfreizügigkeit abgeschafft hatten).

Der Kult des europäischen Föderalismus ist die erste säkulare Religion, die an ihre Anhänger keine Ausweise verteilt. Und um das fehlende gemeinsame Narrativ zu kompensieren, hat man ihnen eine gemeinsame Währung geschenkt. Verbunden mit dem Hintergedanken einer ständigen Ausweitung der EU-Grenzen: Expansion statt Vertiefung, immer weiter statt immer besser. Go east, young man – dieses Motto passt vielleicht zu einem Kontinent mit minimaler Vielfalt und maximaler Ausdehnung, nicht aber zu unserem Kontinent mit seiner maximalen Vielfalt und minimalen Ausdehnung.

Ein Gefühl von Zugehörigkeit zu zerstören, ohne es durch ein anderes zu ersetzen, ist stets gefährlich. Der Rückfall in Stammesidentitäten, der somit droht, ist ein falsches Heilmittel, ja pures Gift.

Die politischen Religionen – und die Europaideologie ist eine besonders schiefe und blässliche Version – verdorren sehr rasch, wenn sie keine Substanz, kein Rückgrat und keine überzeugenden Fürsprecher haben. Der Mythos Europa reduziert sich auf einen Verfassungstext und auf den freien Warenaustausch. Was fehlt, ist der Austausch von Ideen, die gemeinsame Sprache, geteilte Erinnerungen und Legenden. Unser Europa hüllt sich in ein blaues Tuch aus Supermärkten. Aber wie europäisch ist das noch, verglichen mit dem Zeitalter der Klöster, als ein irischer Wandermönch auf dem ganzen Kontinent Abteien gründete? Oder als die Aufklärer Voltaire in Sanssouci mit Friedrich II. und Diderot in Sankt Petersburg mit Katharina II. disputierten. Oder als Ende des 19. Jahrhunderts Clara Zetkin vor französischen Arbeitern und später Jean Jaurès vor deutschen Sozialisten sprach. 1950 lernten die französischen Gymnasiasten noch selbstverständlich Russisch und Deutsch, und Frankreich und Italien waren sich sowieso nahe.

Heute wird eine Episode im US-Wahlkampf zur Topmeldung in den Nachrichten, während wichtige Ereignisse in Rumänien oder der Tschechischen Republik in zehn Sekunden abgehandelt werden. Dank Satelliten und unserer geistigen Trägheit liegt New York vor unserer Haustür, Warschau dagegen in der Steppe und Moskau auf der Halbinsel Kamtschatka.

Und wenn EU-Präsident Donald Tusk mit Gesprächspartnern auf Globalesisch parliert, kommt er mir weniger europäisch vor als Kaiser Karl V. Der sprach mit Gott Spanisch, mit Frauen Italienisch, mit Männern Französisch und mit seinem Pferd Deutsch. Von rund 30 EU-Behörden präsentieren 21 ihre Website nur auf Englisch; das ita­lie­nische Arbeitsgesetz kommt als „Jobs Act“ daher. Es entbehrt nicht der Komik, dass die Brüsseler Beamten vorwiegend in einer Sprache kommunizieren, die seit dem Brexit nur noch durch Irland vertreten ist. Wer beklagt, dass dieses schnatternde Karthago zu einer großen Schweiz wird, soll sich die helvetische Konföderation lieber als Beispiel nehmen: Dort beherrschen die meisten Einwohner drei bis vier Sprachen.

Zu Beginn der verfehlten Erweite­rungs­odyssee war natürlich nicht vor­aus­zusehen, dass Mittel- und Osteuropa zu einem kleinen Ost­amerika werden würden, mit Sexshops in ehemaligen Buchhandlungen und McDonald’s-Filialen statt der volkstümlichen Milchbars, mit Pentagon-Beratern und geheimen Gefängnissen der CIA. Die Geschichte eines Vogels endet immer mit einer Katze, aber ein gesunder Abwehrreflex gegen politischen Despotismus muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass 30 Jahre später ein ökonomischer Despotismus herrscht, der freilich zugegebenermaßen erträglicher ist. Ein Nein zu Josef Stalin bedingt nicht unbedingt ein Ja zu Milton Friedman.

Thomas Barnett, der am Naval War College Militärstrategie gelehrt und dann im Pentagon gearbeitet hat, hat seine Landsleute neulich aufgefordert, trotz des verlorenen Irakkriegs nicht den Mut zu verlieren. Es gelte nach wie vor, in aller Welt die DNA der USA zu verbreiten, „den Quellcode der modernen Globalisierung“, der per „Dominoeffekt“ von einer Mittelschicht zur nächsten wandern werde. „Künftig geht es nicht darum, dass Amerika die Welt lenkt, sondern dass die Welt zu Amerika wird.“ Was die Alte Welt anbetrifft, kann Barnett beruhigt sein: Das Ziel ist greifbar nahe.

Aus dem Französischen von Ursel Schäfer

Der vorliegende Text ist ein leicht gekürzter Auszug aus Régis Debrays jüngstem Buch „Civilisation. Comment nous sommes devenus américains“, Paris (Gallimard) 2017.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Régis Debray