09.11.2012

Statt Sparen

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Statt Sparen

New Deal für Europa von Stephan Schulmeister

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Geleitet von der Navigationskarte der Mainstream-Ökonomen, verordnet die Politik den Ländern in Südeuropa: Senkung von Löhnen, Pensionen und Staatsausgaben, am Ende womöglich die Einführung der 6-Tage-Woche. Je radikaler dieses Programm umgesetzt wird, desto stärker schrumpft die Wirtschaft, steigen die Arbeitslosenrate und die Staatsverschuldung.

Die angebliche Therapie bewirkt eine Verstopfung des binnenwirtschaftlichen Kreislaufs: Haushalte und Unternehmen kaufen sich wechselseitig immer weniger ab, ihre Einkommen und damit das BIP sinken, die Budgetziele werden systematisch verfehlt. Dennoch heißt es weiter: „More of the same“. Außer einer winzigen Minderheit von Spekulanten, die auf Staatsbankrotte setzen, verlieren alle. Auch das „gute“ Deutschland, denn die Exporte nach Südeuropa brechen ein.

Unbeirrt produziert die Politik in Europa eine Rezession. Sind Ökonomen hier dümmer als anderswo? Keinesfalls – ihre Irrtümer werden ja aus Modellen abgeleitet, deren Konstruktion hohe Abstraktionskunst erfordert. Mit Axiomen wie: Die Marktkonkurrenz bringt ein allgemeines Gleichgewicht und damit die beste aller Welten hervor; die Politik soll die Steuerung ökonomischer Prozesse „den Märkten“ überlassen (imaginiert als Subjekte); das einzig legitime Ziel ist die Stabilität von Geldwert und Staatsfinanzen, also das genuine Interesse der Besitzer großer Finanzvermögen; sozialstaatlich-solidarische Lösungen entmündigen den freien Bürger, Gesellschaft gibt es nicht (Margaret Thatcher).

Die Restaurierung der alten Laissez-faire-Theorie seit den 1960er Jahren legitimierte die Befreiung der Finanzmärkte und ermöglichte so die Ausbreitung des Finanzkapitalismus: Diese „Spielanordnung“ einer Marktwirtschaft fokussiert das Profitstreben auf Finanzveranlagung und -spekulation – im Gegensatz zum Realkapitalismus der 1950er und 1960er Jahre. Das Wechselspiel zwischen real- und finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen prägt die Abfolge von Prosperität und Krise, daher ein kurzer Rückblick auf den letzten „langen Zyklus“.

1929 kollabiert ein spektakulärer Aktienboom mit dem großen Börsenkrach. Auf eine Rezession folgt die Depression. Denn in finanzkapitalistischen Phasen dominiert immer eine marktliberale Theorie. Diese Navigationskarte empfiehlt, die Arbeitslosigkeit durch Senkung von Löhnen und Arbeitslosengeld zu bekämpfen, dazu eine staatliche Sparpolitik. Die „Schrumpfungsspirale“ wird durch den Protektionismus verstärkt, was auf einen Wirtschaftskrieg durch Sparen auf Kosten des Auslands hinausläuft.

Die Folgen dieser Politik sind so verheerend, dass auch das Lernen aus der Krise radikal ausfällt. Keynes entwickelt eine neue Theorie, die den systemischen Charakter des Wirtschaftens ins Zentrum stellt: Die Entwicklung der Gesamtwirtschaft ist nur aus der Interaktion ihrer Sektoren zu begreifen. Wenn also der Staatshaushalt ausgeglichen sein soll, muss der Unternehmenssektor den Überschuss der Privathaushalte, ihre Ersparnisse, in Form von Investitionskrediten übernehmen. Und Finanzmärkte müssen strikt reguliert werden, um das Gewinnstreben auf realwirtschaftliche Aktivitäten zu lenken.

Auf Basis dieser Theorie entwickelt sich nach dem Krieg die „realkapitalistische“ Wirtschaftsordnung: Der Staat spielt eine aktive Rolle in der Konjunktur-, Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, man erstrebt einen „Mix“ aus Markt und Staat („Soziale Marktwirtschaft“); Unternehmer(-vertreter) und Gewerkschaften arbeiten eng zusammen („Rheinischer Kapitalismus“), die Gütermärkte werden liberalisiert, die Finanzmärkte bleiben reguliert, der Zinssatz wird unter der Wachstumsrate gehalten, Wechselkurse und Rohstoffpreise sind stabil.

Das Gewinnstreben kann sich nur in der Realwirtschaft entfalten. „Wirtschaftswunder“ findet statt: Schon Ende der 1950er Jahre ist die Vollbeschäftigung erreicht, die Preise sind stabil, der Sozialstaat wird ausgebaut, die Staatsschuldenquote sinkt, die Defizite der Unternehmen sind so hoch, dass der Staatshaushalt ausgeglichen bleibt.

Mit bewundernswerter Ausdauer bereiten in dieser Phase die (damaligen) „Außenseiter“ Friedman und Hayek die neoliberale Gegenoffensive vor. Hauptangriffspunkte sind die Regulierung der Finanzmärkte, insbesondere das System fester Wechselkurse, die Schädlichkeit von Vollbeschäftigungspolitik sowie der Sozialstaat und der Einfluss der Gewerkschaften.

In den 1960er Jahren setzt eine Gegenbewegung ein und damit der Weg in die Krise, paradoxerweise gefördert durch den Erfolg des „Realkapitalismus“: Bei Vollbeschäftigung nehmen die Streiks zu, die Lohnquote steigt massiv, die Gewerkschaften fordern (noch) mehr Mitbestimmung, „links“ wird schick unter Intellektuellen (1968), der Zeitgeist bläst die Sozialdemokratie an die Macht. 1970 beginnt die Umweltbewegung den Kapitalismus aus ökologischer Sicht infrage zu stellen („Club of Rome“).

All dies verstört die Unternehmer. Die Parolen von Friedman, Hayek und Co. gegen Sozialstaat und Gewerkschaften werden wieder attraktiv. Mit der Umsetzung ihrer Forderung nach Befreiung der Finanzmärkte beginnt der Wechsel von real- zu finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen. Damit werden Probleme produziert, die 20 Jahre später den Abbau des Sozialstaats als Sachzwang erscheinen lassen.

Die Aufgabe des Systems fester Wechselkurse (1971), die beiden massiven Abwertungen des Dollars (1971/73 und 1977/79) sowie die dadurch mitverursachten „Ölpreisschocks“ sind die wichtigsten Gründe für die beiden Rezessionen 1974/75 und 1980/82. Auf die damit einhergehende beschleunigte Inflation reagieren die Notenbanken Ende der 1970er Jahre mit einer Hochzinspolitik. Seither liegt der Realzins nahezu permanent über der Wachstumsrate, bis 1980 hatte er immer darunter gelegen.

Hohe Zinsen sowie schwankende Wechselkurse und Rohstoffpreise dämpfen die Realinvestitionen und fördern die Finanzspekulation, die durch die Schaffung von Derivate zusätzlich erleichtert wird. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung nehmen zu. Darauf reagieren die EU-Länder in den 1990er Jahren mit einer Sparpolitik, einschließlich Rentenkürzungen. Die Lücke soll die Förderung der kapital-„gedeckten“ Altersvorsorge füllen, was wiederum den Aktienboom verstärkt. Der endet dann abrupt im Crash 2000/2003 – das „Vorbeben“ der großen Krise.

Zwischen 2003 und 2007 treibt ein finaler Spekulationsboom den Wert von Aktien, Immobilien und Rohstoffen in die Höhe. Doch auf den Bullenmarkt folgt ein Bärenmarkt. Die gleichzeitige Entwertung der drei Vermögensarten führt zum Einbruch der Wirtschaft. Die manisch-depressiven Schwankungen der („freiesten“) Finanzmärkte sind durch die „neoliberale Brille“ nicht als systemische Hauptursache der Krise auszumachen. Also beschränkt man sich auf Symptombekämpfung durch Banken- und Konjunkturpakete. Die „Spielanlage“ bleibt unangetastet. Wirtschaftseinbruch und Rettungsmaßnahmen treiben die Staatsverschuldung in die Höhe. Das wiederum ermöglicht ein neues Spiel, die Spekulation auf den Staatsbankrott. Die Zinsen von Anleihen der „schlechten“ Länder – von Griechenland bis Italien – steigen stetig an. Davon profitieren die „guten“ Länder, allen voran Deutschland.

Die neoliberale Karte lässt nur eine Diagnose zu: Schuld sind „die Griechen“ und die anderen Südländer, sie müssen also von „den Märkten“ durch hohe Zinsen diszipliniert werden. Der Staat, sprich der Sozialstaat muss sparen, der Fiskalpakt verstärkt den Druck. Je radikaler in Griechenland, Portugal, Spanien und Italien Arbeitslosengelder, Renten und Löhne gekürzt werden, desto stärker schrumpft die Wirtschaft. Damit schlittert die gesamte EU in eine „hausgemachte“ Rezession.

Ziehen wir das Fazit: Die große Krise ist nichts anderes als der Implosionsprozess der finanzkapitalistischen „Spielanordnung“, wie nach den Crashs von 1873 und 1929. Dieses System gehorcht der Losung „Lassen wir unser Geld arbeiten“ und zerstört sich selbst. Denn Geld arbeitet nicht. Deshalb bleiben gigantische Finanzvermögen ohne realwirtschaftliche Deckung. Die höchste Form des „fiktiven Kapitals“ besteht in der Staatsschuld (Karl Marx).

Die Eliten in der EU – Politiker, Journalisten, Wissenschaftler – werden die Geister nicht los, die sie vor 40 Jahren riefen, und führen Europa immer tiefer in die Krise. Anders in den USA. Hier verfolgt man schon seit 20 Jahren einen primitiv-keynesianischen Kurs: In den Sonntagsreden wird Sparen gepredigt, in der Praxis wird das finanzkapitalistische Gewinnstreben auf die Aktienmärkte fokussiert, Zinssatz und Wechselkurs werden hingegen niedrig gehalten. Wenn es zum (unvermeidlichen) Crash kommt, wie 2001 und 2007, werden die Folgen durch Geldexpansion teilweise exportiert. Der pragmatische Kurs erlaubt zur Not sogar Verstaatlichungen.

Wer mit falscher Karte navigiert, verliert nicht nur die Orientierung, sondern auch seine politische Identität: Der Marktfundamentalismus entfremdet Christ- wie Sozialdemokraten sich selbst und ihren Wählern. Halt bietet nur noch die hilflose Formel „More of the same“. Wenn sich die Politik jedoch von der falschen Karte befreien will, müsste sie mit den Kartografen brechen, den Mainstream-Ökonomen. Doch Orientierungslosigkeit und Angst vor dem Machtverlust verhindern den emanzipatorischen Schritt.

Lernwiderstände bei den Ökonomen

Das erklärt, warum Ökonomen nie größeren Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung hatten als heute – zum Zeitpunkt ihres offensichtlichen Versagens. Sie halten die wichtigsten Positionen in nationalen und internationalen Bürokratien, in den Noten- und Geschäftsbanken, in Regierungen und Parlamenten; und natürlich in den Medien. Sie alle haben in den letzten 30 Jahren die gleiche Schule durchlaufen. Im Brustton des Common Sense verkünden sie ihre neoliberalen Grundpositionen als Wahrheiten, mit denen sie „alternativlose“ Sachzwänge begründen.

Am größten ist der Lernwiderstand der Professoren. Würden sie endlich zur Kenntnis nehmen, dass die „freiesten“, also die Finanzmärkte manisch-depressive Schwankungen hervorbringen und damit systematisch falsche Preise generieren, wäre ihr gesamtes Weltbild nicht zu halten – und 40 Jahre Restaurationsarbeit für die Katz. Solche kognitive Dissonanz kann man Professoren, die diese Weltanschauung produziert und ihr Leben lang gelehrt haben, nicht zumuten. Ähnliches gilt für viele Journalisten, die über Nacht alle zu Wirtschaftsexperten geworden sind.

Um sich der Mühsal des Verlernens auszusetzen, ist die Krise noch nicht schwer genug. Zudem wirkt der Problemdruck, der ein Nach-Denken befördert, am schmerzhaftesten bei anderen, nicht bei jenen, deren Umdenken eine Wende zum Besseren einleiten könnte. Also suchen die Mainstream-Ökonomen nach Krisenursachen, die sie dem Staat zuschreiben können, von der Niedrigzinspolitik in den USA unter Greenspan bis zu den griechischen Verhältnissen (ideal, weil Staat und Südländer). Auch von der reinigenden Kraft der Krise ist die Rede und dass es bald wieder aufwärts gehen werde.

All dies erinnert an das Legitimationsgefasel der Ökonomen zu Beginn der Weltwirtschaftskrise. In keinem anderen Land ist der marktreligiöse Dogmatismus der Ökonomen so ausgeprägt wie in Deutschland. Hier war schon in den 1950er Jahren der „Ordoliberalismus“ von Eucken und Co. attraktiver als die Theorie von Keynes. Nach dieser Theorie braucht es nur einen staatlich gesetzten „Ordnungsrahmen“ (abgeleitet aus der Theologie des Thomas von Aquin), den Rest besorgt der Wettbewerb. Zur Wahrung des Weltbilds wird die (relativ) gute Lage der deutschen Wirtschaft mit neoliberalen „Strukturreformen“ wie Hartz IV erklärt, während sie in Wirklichkeit der Nachfrage von Ländern wie China, Indien und Brasilien zu danken ist. Und die organisieren ihre Wirtschaft gerade nicht neoliberal-finanzkapitalistisch, sondern realkapitalistisch, steuern also Zinssatz und Wechselkurs politisch und nicht durch den Markt.

Das seit der Wiedervereinigung wachsende Nationalgefühl, die Denunziation der „faulen“ Griechen, die stammtischtaugliche Schlichtheit von Analogien wie jener der „schwäbischen Hausfrau“, all dies ergibt einen Meinungsstrom, von dem sich deutsche Politiker treiben lassen. Dagegen Leadership zu zeigen, hat (derzeit) keine Chance. Im Gegenteil: Mit der Durchsetzung des Fiskalpakts hat Deutschland die neoliberale Führerschaft in Europa übernommen. Die neue Zielgröße des Regelwerks ist das „strukturelle Defizit“, das mithilfe der „natürlichen Arbeitslosenquote“ geschätzt wird (ein Konzept, das Friedman in 1960er Jahren zum Kampf gegen die Vollbeschäftigungspolitik erfunden hat). Steigen in einer Rezession – etwa als Folge der Sparpolitik – Arbeitslosigkeit und Budgetdefizit und bleiben danach hoch, so gelten sie als „strukturell“. Dies erzwingt nach der Fiskalpaktlogik weiteres Sparen – der Schrumpfungskreislauf ist geschlossen.

Die finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen und die verstärkte Sparpolitik werden die aktuelle Rezession in der EU in eine Depression gleiten lassen. Die wird jedoch, weil der Sozialstaat – wenn auch geschwächt – noch existiert, milder ausfallen als in der 1930er Jahren. Der Begriff „Depression“ trifft dennoch zu: Die Interaktion der Märkte erzeugt aus sich heraus keinen „selbsttragenden“ Aufschwung; das System ist auf nachhaltige Impulse/Hilfe von außen angewiesen (wie bei einer individuellen Depression). Genau diese Impulse werden aber durch den Fiskalpakt unmöglich gemacht. Wie in jeder Depression werden die Spannungen zwischen den Ländern zunehmen, insbesondere zwischen dem „Lehrmeister Deutschland“ und der Mehrzahl der EU-Länder. Und die werden, je länger die Krise dauert, umso mehr das „deutsche Spardiktat“ für ihr Elend verantwortlich machen.

Erst eine solche Entwicklung könnte eine Abkehr der politischen Eliten in Deutschland von der neoliberalen Navigationskarte und den ökonomischen Geistesgrößen möglich machen. Bevor die Spannungen zum Wirtschaftskrieg zwischen EU-Ländern führen, der mit der Währungsunion auch das europäische Friedenswerk bedroht, wird den Deutschen (hoffentlich) aufgehen, dass dieser Krieg nur Verlierer kennt.

In dieser Situation benötigt die Politik in Europa einerseits ein Konzept zur Transformation der „Spielanlage“ von finanzpolitischen hin zu realkapitalistischen Rahmenbedingungen; andererseits eine expansive Gesamtstrategie, die Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit, Armut und Umweltverschlechterung „im Ganzen“ bekämpft. Eine durch eine neue Theorie fundierte Navigationskarte ist allerdings erst noch zu erarbeiten, die Rückkehr zu Keynes wird nicht reichen.

Ein „New Deal für Europa“ besteht daher aus vielen Einzelmaßnahmen, die durch zwei Leitlinien aufeinander abgestimmt sind. Erstens: Unternehmerisches Handeln wird auf allen Ebenen besser gestellt als Finanzakrobatik. Zweitens: Es wird eine Balance geschaffen zwischen Ökonomie und Politik, Konkurrenz und Kooperation, ökonomischer Effizienz und sozialem wie auch europäischem Zusammenhalt. Historisches Vorbild für solches Navigieren – noch ohne (theoretisch fundierte) Karte – ist der „New Deal“ von Roosevelt.

Für einen solchen europäischen „New Deal“ gibt es eine wichtige Voraussetzung: Die zwischen der Real- und Finanzwirtschaft vermittelnden „Fundamentalpreise“ – im Raum der Wechselkurs, in der Zeit der Zinssatz – müssen durch das System Politik stabilisiert werden. Als Richtgröße dienen dabei die Gleichgewichtswerte der (neoliberalen!) Wirtschaftstheorie: Zinssatz = Wachstumsrate, Wechselkurs = Kaufkraftparität. Ähnliches gilt für die Preise endlicher Ressourcen, insbesondere von Erdöl, zumal dieser Faktor ja eine Hauptursache des Klimawandels ist.

Welche Maßnahmen könnten die wirtschaftliche Spaltung Europas überwinden und das Gewinnstreben von der „Finanzalchemie“ auf unternehmerische Aktivitäten in der Realwirtschaft umlenken? Die erste Maßnahme wäre der Ausbau des Rettungsfonds (ESM) zu einem „Europäischen Währungsfonds“ (EWF). Diese gemeinsame Finanzierungsagentur würde den Eurostaaten Mittel in Form von Eurobonds zur Verfügung stellen, die eine unbeschränkte Garantie aller Eurostaaten und die „Rückendeckung“ der EZB genießen. Damit könnte der EWF das Zinsniveau festlegen – und zwar etwas unter der nominellen Wachstumsrate. Das wären derzeit maximal 2 Prozent.

Die Kreditvergabe an die einzelnen Euroländer wäre an strikte Bedingungen geknüpft („Konditionalität“), womit die Gefahr einer neuerlichen Schuldenpolitik vermieden wäre. Weltweit gäbe es nur mehr zwei Arten von Staatsanleihen mit großem Volumen: US-Bonds und Eurobonds. Da Letztere von allen 17 Mitgliedsländern garantiert wären, dürfte es an Nachfrage nicht mangeln. Großanleger wie die Zentralbanken Chinas und Japans halten die Realwirtschaft der EU für leistungsfähiger als die der USA; doch solange die Politik „den Märkten“ erlaubt, die Eurostaaten gegeneinander auszuspielen, ziehen sie US-Anleihen vor.

Eurobonds wären wie die deutschen „Schatzbriefe“ konstruiert: Sie werden nicht auf Märkten gehandelt, allerdings bleibt der Anleger liquide. Damit wäre die „Schaukel“ zwischen Anleihekurs und Sekundärmarktzins für Staatspapiere außer Kraft gesetzt, Spekulation gegen Staaten wäre unmöglich. Zu Recht, denn Staaten sind keine Firmen, sondern unsere Gemeinwesen. Dies zu verwechseln, ist Teil der neoliberalen Umnachtung.

Zweite Maßnahme: Die wichtigsten Notenbanken kommen überein, die Wechselkurse innerhalb enger Bandbreiten zu stabilisieren. Dies hat in Europa zwischen 1986 und 1992 gut funktioniert. Der Devisenmarkt ist dezentral organisiert, gegen die offen deklarierten Wechselkursziele der Notenbanken können einzelne Händler nichts ausrichten. Wie das geht, demonstriert seit einiger Zeit die Schweizer Notenbank.

Dritte Maßnahme: Man vereinbart einen Pfad für die langfristige Entwicklung des Preises für Erdöl (und sonstige fossile Brennstoffe), und zwar durch Einführung einer EU-weiten Umwelt- und Energiesteuer, mit der die Differenz zum jeweiligen Weltmarktpreis abgeschöpft wird. Laut (neoliberaler) Wirtschaftstheorie sollte nämlich der Preis einer erschöpfbaren Ressource, zumal wenn sie Hauptursache des Klimawandels ist, stärker steigen als das allgemeine Preisniveau. Die grotesken Schwankungen des Ölpreises zeigen, dass die Marktkräfte keine effiziente Preisbildung schaffen, womit die Erträge notwendiger Investitionen in die Energieeffizienz unkalkulierbar werden. Maßnahmen zur Energieeinsparung, die bei einem Ölpreis von 120 Dollar hoch rentabel sind, werden bei einen Preis von 50 Dollar zum Flop. Könnten Unternehmer und Haushalt sicher sein, wie viel sie künftig sparen, wenn sie heute in Energieeffizienz investieren oder effektivere Produkte entwickeln (etwa neue Mobilitätssysteme), wäre ein nachhaltiger Investitionsboom garantiert.

Für den Geltungsbereich der EU müsste die Kommission einen solchen Preispfad festlegen, der den Verbrauch der endlichen und umweltschädlichen Ressource Erdöl nachhaltig drosselt. Grundlage dafür wäre eine realistische Schätzung, wie hoch die Kosten von CO2-Emissionen steigen müssen, damit der Anstieg des globalen Temperaturniveaus auf 2 Grad beschränkt wird. Laut einer Studie der EU-Kommission wäre man „auf der sicheren Seite“, wenn der Verbrauch einer Tonne CO2 um 370 Euro teurer würde. Bei einem Ölpreis von 100 Dollar bedeutet das einen Preisanstieg auf 248 Dollar je Barrel. Soll dieses Ziel bis 2020 erreicht werden, müsste sich Erdöl bis dahin jährlich um 12 Prozent verteuern.

Die Differenz zwischen dem Weltmarktpreis und dem in der EU geltenden Ölpreis würde durch eine (flexible) Differenzensteuer abgeschöpft. Die reduzierte Nachfrage nach Erdöl in der EU – als Folge der stetigen Verteuerung – wird auch die Entwicklung des Weltmarktpreises dämpfen. Damit würden auch die oft enormen Zusatzgewinne („Renten“) der Erdölexporteure und der Ölgesellschaften zurückgehen, während die EU und ihre Mitgliedländer erhebliche Steuereinnahmen erzielen könnten.

Vierte Maßnahme: Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer (FTS), um die Spekulation zu dämpfen. Der von der EU-Kommission im Herbst 2011 vorgestellte Entwurf sieht vor, dass die Steuer in dem Land anfällt, von dem die Transaktionsorder ausgeht. Wenn also nur 11 „Befürworter-Länder“ unter der Führung Deutschlands und Frankreichs im Rahmen einer „verstärkten Zusammenarbeit“ die Einführung der FTS beschließen, würden Transaktionen in Großbritannien, deren Order aus Frankfurt stammen, zu Steuererträgen in Deutschland führen (Tochterfirmen werden dem Land der Muttergesellschaft zugerechnet). Damit könnte man die Verlagerung von Transaktionen in steuerfreie Länder in Grenzen halten.

Fünfte Maßnahme: Gründung einer europäischen Ratingagentur. Diese müsste als öffentliche, unabhängige Institution (nach Art eines Rechnungshofs) konstruiert sein, denn die Leistungen einer solchen Agentur sind ein öffentliches Gut, ihre Erstellung durch private Unternehmen führt zu Interessenkonflikten.

Die Erneuerung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells wäre die praktische Umsetzung einer Strategie, mit der wir die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ der Politik überwinden könnten, die aus deren Unterwerfung unter „den Markt“ und die vom Markt diktierten Sachzwänge resultiert. Um die gängige Parole „There is no alternative“ zu widerlegen, muss das Normative (wieder) ins Zentrum der Politik gerückt werden. Also Fragen wie: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir dahin gelangen? Wie sollen die ersten Schritte aussehen?

Eine solche Gesamtstrategie konzentriert sich auf jene Aufgaben, welche im neoliberalen Zeitalter systematisch vernachlässigt wurden. Ihre Bewältigung erfordert nämlich staatliches Handeln im Allgemeinen – weil es öffentliche Güter betrifft – und eine Stärkung der Sozialstaatlichkeit im Besonderen, die das Kernstück des europäischen Sozialmodells darstellt. Die langfristige Bewältigung dieser Aufgaben würde in Europa Millionen Arbeitsplätze schaffen, sodass sich Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung verringern ließen. Denn die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte haben einen enormen Nachholbedarf an sinnvollen Tätigkeiten entstehen lassen, insbesondere zur Verbesserung der Umwelt und des sozialen Zusammenhalts.

Stolz der EU-Bürger jenseits des Euro

Die Koordinierung einer solchen ökosozialen Gesamtstrategie durch die EU könnte auch die Entfremdung zwischen den Bürgern und „ihrer“ Union schrittweise überwinden. Diese Entfremdung oder gar Feindseligkeit hat sich in den letzten 20 Jahren nicht zuletzt durch die Sparpolitik vertieft. Denn die Einsparungen betrafen vor allem die fünf Hauptsäulen des europäischen Sozialmodells: Altersvorsorge, Gesundheitswesen, Arbeitslosenversicherung, Bildungswesen und Infrastrukturleistungen (also etwa Post und Bahn). Das hat gerade jene Elemente des europäischen Modells geschwächt, auf welche die Mehrheit der EU-Bevölkerung stolz ist (insbesondere in Abgrenzung zum US-Modell). Sie kann sich deshalb immer weniger mit der Politik ihrer Eliten identifizieren. Der gemeinsame Markt, der Euro und die „Ode an die Freude“ reichen als Fundament einer europäischen Identität nicht aus.

Die wichtigsten Komponenten einer ökosozialen Gesamtstrategie können hier nur knapp skizziert werden. Folgende Maßnahmen würden die Umwelt nachhaltig verbessern und vor allem das Tempo des Klimawandels verringern:

– Verbesserung der Infrastruktur im Bereich des öffentlichen Verkehrs: Die „transeuropäischen (Eisenbahn-)Netze“ sind ein markantes Beispiel, das seit 25 Jahren beredet, aber kaum realisiert wird. In dem Maß, in dem der öffentliche Nah- und Fernverkehr verbessert wird, muss der private Verkehr verteuert werden, um die Kosten der Umweltbelastung zu berücksichtigen (dies gilt speziell für den Flugverkehr).

– Investitionen in die Verbesserung der Energieeffizienz von „Großprojekten“: Das meint etwa die schrittweise thermische Sanierung des gesamten Gebäudebestands und Innovationen im Bereich des privaten Verkehrs (Fahrradmobilität, Elektromobilität, Carsharing und anderes mehr).

Zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts, vor allem zwischen den Generationen, könnten folgende Maßnahmen beitragen:

– Umfassende Investitionen ins Bildungssystem von der Vorschule bis zur Universität und Abbau der Bildungsbarrieren durch ganztägige Gesamtschulen;

– günstige Wohnmöglichkeiten für junge Menschen durch Förderung des sozialen Wohnbaus, sei es von Genossenschaften oder Kommunen;

– bessere Entfaltungschancen für die Jungen am Arbeitsmarkt, besonders durch schrittweise Rückführung der Formen atypischer Beschäftigung;

– Verbesserung der Lebenschancen von Menschen aus den niedrigen sozialen Schichten, insbesondere durch bessere Integration von Personen mit Migrationshintergrund;

– Milderung der Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung durch Ausbau einer Mindestsicherung und ihre Finanzierung aus Beiträgen der Besser- und Bestgestellten;

– Ausbau der Betreuungs- und Pflegesysteme für alte Menschen, die der unterschiedlichen Bedürfnislage entsprechen. Auf diesem Gebiet ist die derzeitige Lage unbefriedigend, weil die sozialstaatlichen Einrichtungen zu wenig flexibel sind und die privaten (Not-)Lösungen (etwa mithilfe von Frauen aus Osteuropa) meist nicht einmal die sozialen Mindeststandards erfüllen.

Das Ziel einer Stärkung des europäischen Zusammenhalts sollte besondere Priorität bekommen. Denn die sich vertiefende Krise erhöht die Spannungen zwischen den EU-Ländern und verstärkt die Ressentiments gegenüber der EU und ihren Institutionen. Beides wird von nationalistischen und populistischen Politikern innerhalb der Länder ausgenutzt und zugleich verstärkt.

Gerade weil das gemeinsame Fundament der EU vom Ökonomischen dominiert wird und die soziale Kompetenz der Union ein miserables Image hat, könnte die Einführung einer von der EU garantierten Mindestsicherung für alle das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken. Die EU müsste dabei finanziell in dem Maße einspringen, in dem die einzelnen Mitgliedsländer die Mindesteinkommen nicht finanzieren können. Damit würden erstmals viele Menschen spüren, dass die EU nicht nur für die Freiheit der Märkte steht, sondern für mehr. Wenn eine arme Familie in Rumänien oder Litauen auch nur 50 Euro im Monat aus einem EU-Fonds überwiesen bekommt, wird sie anders über das Projekt Europa denken.

Ein weiteres Projekt sollte angesichts der Krise höchste Priorität bekommen: Der rezessionsbedingte Rückgang des Arbeitsvolumens (Gesamtstunden) müsste so weit wie möglich durch Verkürzung der effektiven Arbeitszeit bewältigt werden statt durch eine Aufspaltung der Gesellschaft in Beschäftigte und Arbeitslose. Dafür spricht nicht nur der Erfolg der Kurzarbeitsmodelle in Deutschland im Krisenjahr 2009, sondern die generelle Erfahrung, dass steigende Arbeitslosigkeit als Krisenverstärker entscheidend zu den verheerenden „Schrumpfungsspiralen“ beiträgt. Aber mit dem Verlust der Arbeit geht nicht nur Kaufkraft verloren, sondern auch Selbstwertgefühl und Zuversicht der einzelnen Menschen. Und das vertieft die depressive Stimmungslage nicht nur der Individuen, sondern auch der gesamten Gesellschaft.

Umgekehrt stärken solidarische Lösungen den sozialen Zusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen. Beides sind wichtige Voraussetzungen für die Wende zum wirtschaftlichen Aufschwung, der so erfolgen muss, dass die private Nachfrage möglichst wenig gedämpft wird. Gleichzeitig sollen kurzfristig-spekulative Aktivitäten auf den Finanzmärkten belastet werden und mit den gewonnenen Mitteln langfristig-realwirtschaftliche Aktivitäten der Unternehmen gefördert werden.

Aus alledem folgt: Die Maßnahmen des „New Deal“ sind durch Beiträge der Bestverdiener und durch eine höhere Besteuerung von Finanztransaktionen und Finanzvermögen zu finanzieren. Dafür sind verschiedene Methoden denkbar:

– Einführung einer generellen Finanztransaktionssteuer;

– Erhöhung der Steuer auf Finanzkapitalerträge an der Quelle auf 35 Prozent;

– eine Abgabe auf die in Wertpapierdepots liegenden Finanzvermögen in Höhe von 1 Prozent;

– eine (temporäre) Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Jahreseinkommen über 100 000 Euro;

– Einführung oder Erhöhung einer allgemeinen Vermögensteuer sowie der Erbschaftsteuer für Nettovermögen über 300 000 Euro.

All das würde die Einnahmen „unseres Vereins“ erheblich verbessern. Und entsprechend die Möglichkeiten, die Hauptprobleme Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Armut und Klimawandel gemeinsam und nachhaltig zu bekämpfen.

Ohne einen europäischen „New Deal“ wird es – wie immer in Depressionen – zu massiven Vermögensentwertungen kommen, sei es durch den Einbruch der Aktienkurse, sei es aufgrund von Banken- und Staatspleiten. Folglich würden die Vermögenden mit ihren Beiträgen nicht nur der Gesellschaft nutzen, sondern auch sich selbst.

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher in Wien. Zuletzt schrieb er das Buch: „Mitten in der großen Krise – ein ‚New Deal‘ für Europa“, Wien (Picus) 2010.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2012, von Stephan Schulmeister