Brief vom Amazonas
von Sandra Weiss
Es ist jedes Mal dasselbe, wenn mich meine Recherchen in die Amazonasregion führen. Immer denke ich, ich weiß inzwischen, worauf ich mich einlasse. Doch der Geist ist das eine, der Körper das andere. Jedes Mal bin ich euphorisch, wenn sich der Zielort nähert und unter dem Flieger nichts zu sehen ist als dunkles Grün, durchzogen von mäandernden Flussläufen. „Wenn der Flieger jetzt abstürzt“, denke ich, und unweigerlich tauchen vor meinem inneren Auge Szenen aus „Fitzcarraldo“ auf, oder mir fällt der Absturz der deutschen Biologin Juliane Koepcke ein, deren Flugzeug Jahre später im peruanischen Regenwald gefunden wurde, völlig überwuchert, und die nur dank ihrer Kenntnisse von Flora und Fauna den Weg aus der „grünen Hölle“ fand.
Grün ist der Regenwald noch immer, auch wenn in den zwanzig Jahren, in denen ich die Region bereise, das zusammenhängende Bäumemeer arg geschrumpft ist. Je nach Landstrich sehen die Narben anders aus. In Kolumbien und Peru sind es wüstenartige Dünen, die die Goldgräber entlang der Flussbetten hinterlassen haben, in Brasilien Sojamonokulturen und Rinderweiden, die sich an Schlammpisten entlang immer weiter in die Natur fressen. Wann ist die Zerstörung so groß, dass sie unwiderruflich wird? Wird das Klima in Brasilien oder gar weltweit kippen, wenn die „fliegenden Flüsse“, wie der brasilianische Klimaforscher Antonio Donato Nobre den Wasserkreislauf der Amazonaswälder genannt hat, versiegen?
Doch mittendrin lässt die wuchtige, unmittelbare Dschungelerfahrung solche Fragen in den Hintergrund rücken. Der majestätische Amazonas gebietet immer noch Ehrfurcht. Wie winzig wir Menschen doch sind, wie vermessen manche unserer Vorhaben.
Neulich schipperte ich auf dem Tapajós von Itaituba nach Santarém, eine Reise zu den Ruinen unseres Fortschrittswahns. Itaituba war in den 1980er Jahren der Flughafen mit dem drittgrößten Verkehrsaufkommen der Welt. Täglich starteten und landeten bis zu 400 Kleinflugzeuge auf der Dschungelpiste der Siedlung. Das Gedränge war so groß, dass sich manchmal Flieger ineinander verkeilten. Der Grund für den Boom: Gold. Davon lag so viel in den Sanden des Tapajós, dass Brasiliens Vorzeigeunternehmer Eike Batista damit seine erste Million scheffelte – in einem Monat, wohlgemerkt.
Weder von Batistas Millionen noch vom Goldfieber ist viel übrig. Von der goldenen Zeit zeugen noch die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos im winzigen Terminal des Flughafens, auf dem heute nur noch zwei Flieger am Tag landen und die Koffer durch eine Luke in den Gepäckraum gereicht werden. Itaituba, der einst von Jesuiten gegründete Dschungelvorposten, ist zurückgefallen in seinen Dämmerschlaf.
Noch eindringlicher ist Fordlândia, ein paar Stunden Bootsfahrt flussabwärts. Dort wollte Henry Ford in den 1930er Jahren die größte Kautschukfabrik der Welt betreiben, um Reifen für seine Autos herzustellen. Doch die Kautschukbäume, die in der Natur nur einzeln vorkommen, wurden auf den Plantagen von Pilzen und Parasiten zerstört. Der Tapajós überflutete zu Regenzeiten die Lagerhalle; zu Trockenzeiten war er wegen des niedrigen Wasserstands nicht schiffbar. Die brasilianischen Arbeiter waren von Stechuhren wenig begeistert und meuterten. Auch die protestantische Moral des Fabrikbesitzers stieß an ihre Grenzen. Die Löhne wurden gleich in den neu entstandenen Bars und Bordellen durchgebracht. 1945 erklärte die Geschäftsleitung in Detroit das Dschungelabenteuer für beendet. Der Amazonas hatte die Moderne besiegt.
Kurz nach Ankunft meines Flugzeugs stehe ich in der schlecht klimatisierten Wartehalle eines Provinzflughafens schweißnass am Band und warte auf den Koffer. Wie es dem Papst wohl ergehen wird, wenn er nächstes Jahr Puerto Maldonado besucht? Ich jedenfalls fühle mich immer wie in einem Backofen, in den jemand feinen Nebel sprüht. Es ist egal, ob ich Spaghettiträger-Shirt und Dschungelshorts trage oder wegen der Malariamücken ein langärmeliges, leichtes Hemd und eine Hightech-Klima-was-weiß-ich-Hose. Ich stehe in der Flughafenhalle und schwitze. Im Taxi funktioniert die Klimaanlage dann meist auf Kühlschranktemperatur, ideale Voraussetzungen für eine Erkältung – das Allerletzte, was man sich auf Recherche im Regenwald wünscht.
Eine kalte Dusche? Wäre wunderbar. Doch das Wasser in den einfachen Unterkünften stammt in der Regel aus Plastiktanks und hat Umgebungstemperatur – also 30 Grad plus. Wenn es überhaupt Duschen gibt. Zudem sind diese oft von allerlei Krabbeltieren bevölkert – von handtellergroßen Taranteln bis hin zu Grillen in Handygröße und seltsamen Käfern.
Die Bevölkerung springt einfach in den Fluss, um sich abzukühlen. Der wirkt zwar nicht besonders einladend, weil am Ufer Geschirr und Wäsche gespült werden und weil man in den oft schlammigen Fluten Piranhas und sonstiges Getier nicht erkennen kann. Aber irgendwann taucht man einfach unter, und – aaahhh, wie herrlich erfrischend! Und übrigens: Im Regenwald kann es verdammt kalt werden. Oft bin ich vor Sonnenaufgang fröstelnd in meiner Hängematte erwacht.
Die ersten Tage bin ich im Arbeitsmodus, muss unbedingt dieses Interview machen und jenes Fotomotiv suchen. Damit kommt man hier aber nicht weit. Am Amazonas gehen die Uhren nicht einfach langsamer, sie sind außerhalb der Städte irrelevant. „Wenn ich Verwandte besuchen will, bin ich oft tagelang mit dem Boot unterwegs, ohne Computer, ohne Fernsehen, ohne Handysignal. Da verbringt man die Zeit damit, die Landschaft zu beobachten, den Mitreisenden Geschichten zu erzählen und nachzudenken“, sagt Ricardo Gonçalves Castro, ein Jesuitenpater aus Manaus. „Wie lange braucht das Boot von Belém nach Breves?“, will ich von ihm wissen. Und bekomme die typische Antwort. „Das kommt drauf an.“ Ob Regenzeit ist oder Trockenzeit. Wie viele Menschen unterwegs ein- und aussteigen. Wie viel Ware ein- und ausgeladen werden muss.
Das Leben der Anwohner wird vom Wasser bestimmt. Es bestimmt, was es zu essen gibt, denn die Fische haben bestimmte Laichplätze und Wanderrouten. Gefangen werden sie mit „Barbasco“, einer giftigen Liane, die zermahlen auf die Wasseroberfläche gestreut wird, wenn gerade ein Schwarm vorbeizieht. Die Fische kommen orientierungslos an die Oberfläche und werden in Weidenkörben eingesammelt. Danach werden sie über dem offenen Feuer geräuchert, so hat die Familie einige Wochen zu essen. Ist die Speisekammer leer, gehen die Männer mit Blasrohr, Pfeil und Bogen, heute auch mit Gewehren auf Jagd. Bis sie etwas fangen, gibt es das zu essen, was die Frauen an Früchten sammeln und was die Maniokfelder hergeben.
„Der Regenwald ist unser Supermarkt und unsere Apotheke“, sagt Eriberto Gualinga aus dem Indigenen-Dorf Sarayaku in Ecuador. Die Einwohner hier versuchen Antworten zu finden auf die Frage, wie viel Moderne am Amazonas sinnvoll ist. Während der fünfstündigen Einbaumfahrt dorthin kommt man an einigen modernen Errungenschaften vorbei, wie der Anlegestelle aus Beton, errichtet von der Regierung. Eines der vielen Hochwasser hat den Steg unterspült und Pfeiler weggerissen. „Die ist unbrauchbar“, kommentiert Gualinga trocken. In Sarayaku legt man daher an wie eh und je – am schlammigen Ufer.
Dafür gibt es aber Satelliteninternet – der Zugang ist auf eine Stunde pro Person täglich begrenzt – und Strom aus Solarzellen. „Wir entscheiden gemeinsam, was für uns wichtig ist und was nicht“, sagt Franco Viteri, während er für seinen zweijährigen Sohn einen Holzkreisel schnitzt. Zeit für die Kinder, gemeinsam spielen, jagen, fischen und den Morgentee trinken, sauberes Wasser und interkulturelle Bildung gelten als wichtig. „Erdöl nicht“, meint der 43-Jährige, der drei Jahre lang Vorsitzender der Konföderation der Amazonasvölker war.
Als die Regierung vor zwanzig Jahren Probebohrungen erlaubte, wehrten sich die Einwohner und errangen einen Sieg vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof. 1,2 Millionen Dollar Entschädigung sprach er dem Dorf zu. Das Geld wurde investiert in eine Gemeinschaftsbank und eine Fluglinie. Seit gut einem Jahr gibt es AeroSarayaku, zwei Cessnas besitzt sie. „Manchmal fliegen wir Touristen ein oder Gesundheitsbrigaden, oder eine Delegation aus dem Dorf hat einen Termin in der Hauptstadt“, erzählt der Pilot. Straßen hingegen gibt es keine. „Auf denen kommen nur die Händler, die Holzfäller und die Erdölmultis.“
Sandra Weiss ist Politologin und Journalistin in Puebla, Mexiko.
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