08.06.2017

Brief aus dem Zug Prag–Berlin

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Brief aus dem Zug Prag–Berlin

von Jaroslav Rudiš

PETR DAVID JOSEK/ap
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Und so sitze ich wieder mal im Zug von Prag nach Berlin und schwebe in jenem Zustand der Seele, der alle Tschechen trifft, zerstört, aufbaut und vor allem zusammenbringt, wie Max, ein guter und ewiger Freund vor mir, immer sagt, und meint damit den Kater.

Max hat recht. Ein wenig gereizt, wehleidig und müde beobachte ich meine beiden Sitznachbarn, die sich in mir fremder Sprache unterhalten. Ist es vielleicht Türkisch? Als der Eurocity die letzte Weiche vom Prager Hauptbahnhof leicht seufzen lässt, fängt der jüngere Mann, vielleicht Mitte dreißig, an, den Tisch zu decken. Er holt zwei weiße Tücher, Teller, Besteck, Buletten, Brathähnchen, mehrere Dosen Bier und eine Flasche Wodka aus seiner Tasche hervor und schneidet Tomaten und Gurken. Der Wagen ist voll, es ist Mitte Mai, die Touristensaison ist im vollen Gange. Es ist warm. Die Klimaanlage brummt und kämpft vergeblich gegen die Hitze.

Ich mache die Augen zu und versuche zu schlafen, doch das Fleisch duftet so schön und die Tomaten auch. Ich denke an Max, der jetzt Diät macht, weil er sich in eine junge hübsche Schauspielerin verliebt hat, traurig und vergeblich, wie nur er es kann. Ich denke an den Abend gestern in unserer Kneipe Zum Ausgeschossenen Auge.

„Der Katzenjammer hält uns zusammen, sonst würde dieses Land längst zerfallen. Der Kater ist die einzige Sicherheit in dieser Welt, die wir Tschechen haben. Egal ob du Kommunist, Liberaler, Patriot, Idiot, Christ, Satanist, Dichter oder Eishockeyspieler bist – morgen kommt die Alkoholintoxikation. Prost!“, sagte Max und hielt sein Bierglas hoch.

Die Schauspielerin stand auf und ging vor die Tür. Sie musste telefonieren. Max schaute ihr nach.

„Was denkst du, Járo?“

„Eine schöne Frau, Max.“

„Ich weiß, wie du es meinst! Ich versuche jetzt jeden Morgen zu laufen. Ich weiß, ich muss abnehmen.“

„Aber Max, das ...“

„Nein, nein, du hast schon recht“, sagte Max und versuchte seinen Bauch einzuziehen. „Nach sechs Uhr esse ich nichts. Da trinke ich nur Bier. Bier macht nicht dick, das ist gelogen.“

Max, ach, der Max. Gestern erzählte er, wie er mit der Schauspielerin vor zwei Tagen auf dem Wenzelsplatz war, um gegen unseren arroganten Finanzminister und intriganten Präsidenten, der ihn beschützt, zu protestieren. Es waren tausende Menschen da. Die Energie, diese Stimmung hat ihn an November 1989 erinnert, an die großen Demos gegen die kommunistische Parteiführung. Damals waren wir beide siebzehn und haben uns noch nicht gekannt. Ich lebte in der ost- und er in der westböhmischen Provinz. Später hat Max Mathematik und Philosophie studiert. In dieser Prager Kneipe haben wir uns dann getroffen.

Ich denke an Max, schlafe ein und werde geweckt. Der ältere Herr, vielleicht Mitte fünfzig, bietet mir Wodka an. Er spricht mich auf Russisch an. Ich antworte mit meinem tschechoslowakischen Russisch, das ich in der Schule gelernt habe. Was ich verstehe, die beiden Reisenden kommen aus Kasachstan, waren ein paar Tage ich Prag, fahren jetzt nach Berlin und fliegen dann zurück, und wenn ich keinen Wodka trinken will, muss ich Bier trinken. Und die Buletten probieren. Sie schmecken köstlich.

Lovosice. Die wilde böhmische Vulkanlandschaft und eine große Chemiefabrik.

„Krasotá“, sagt der ältere Mann und schaut in die Landschaft.

„Eine Pracht.“

Er erhebt sein Glas.

„Za zdorovje.“

„Zum Wohl.“

Die Schauspielerin telefonierte gestern ziemlich lange. Max erzählte mir, sie denkt, unsere Generation hat alles verbockt. Nicht die Politiker, wir seien an allem schuld. Nach der Wende hatten wir nur Spaß, kifften und wollten uns nicht in der Politik engagieren. Und das stimmt. Sich engagieren, wie das nur klingt für uns, die den realen Sozialismus erlebten. Unsere Generation wollte sich nach der Wende vor allem entengagieren. Engagieren war wie Agitieren, ein Schimpfwort, genauso wie links zu sein, da landete man sofort wieder bei den alten Kommunisten. Wir waren unpolitisch, wir hatten von der Politik die Schnauze voll, wir wollten doch endlich reisen und lieben und Musik hören.

„Und wir hatten auch ein Recht drauf“, sagte Max.

Die junge Schauspielerin kam zurück. „Trotzdem seid ihr schuld“, sagte sie.

Denn nur wegen solcher Leute wie uns konnten Schritt für Schritt Landstreicher wie unserer Finanzminister das Land erobern. Firma für Firma. Zeitung für Zeitung. Niemand interessierte sich dafür, woher das Geld kommt, wie er zum Milliardär wurde, niemand sagte, hey, so geht das nicht. Und so ist der Slowake Andrej Babiš, ein alter kommunistischer Kader, jetzt einer der reichsten Tschechen, und wenn er ausrastet, wenn Journalisten ihn ertappen und unangenehme Fragen zu seinen Machenschaften stellen, und das passiert ziemlich oft, mischt er die tschechische und slowakische Sprache in einem Wirbelsturm, den nur Max gut imitieren kann. Babiš führt heute eine Protestpartei gegen die etablierten Parteien an, obwohl seine Partei heute noch etablierter ist als die alten Par­teien. Er sagt, er möchte das Land wie eine Firma führen. Ja, wie seine Firma, wohl gemerkt.

Der Zug legt sich sanft in die langen Kurven des Elbtals. Es ist heiß. Der tschechische Schaffner sagt, die neue Technik sei schuld, die alte Klimaanlage war viel besser.

Der ältere Mann schaut in das Tal und sagt:

„Krasotá.“

Der jüngere gießt Wodka ein.

„Za zdorovje.“

Ústí nad Labem. Der ältere Kasache fragt, ob es stimmt, dass Ústí früher eine deutsche Stadt war. Ich bin überrascht und versuche zu erklären, dass Ústí deutschsprachig war, aber immer ein Teil von Böhmen. Doch wie sagt man auf Russisch deutschsprachig und Böhmen. Irgendwie versteht er nur Hitler und Nazis. Es ist kompliziert.

„Za zdorovje.“

Dresden. Lokwechsel. Die kantige tschechische Lok, die unter deutschen Eisenbahnern den schönen Spitznamen „Knödelpresse“ trägt, zieht langsam an uns vorbei. Die Klimaanlage ist für immer verstummt. Die deutsche Schaffnerin sagt, die alte tschechische Technik ist schuld.

Der junge Mann holt aus seiner Tasche eine neue Portion Buletten und Tomaten. Die magische Tasche hat keinen Boden, vielleicht ist sie ein Tor zu einer anderen Welt, vielleicht führt sie direkt nach Kasachstan. Der ältere Mann bietet die Buletten auch den spanischen Touristen an. Sie sagen, sie sind Vegetarier, er fragt, warum, und alle lachen.

Max ist jetzt auch Vegetarier, wegen der Diät. Gestern blieb ich mit ihm allein in der Kneipe. Die Schauspielerin verabschiedete sich gegen Mitternacht. Ein Casting. Und danach ging ich auch und ließ meinen Freund allein das letzte Bier trinken. Das Letzte, was er sagt, war: „Ich werde mich jetzt engagieren. Die Schauspielerin ist viel erwachsener als wir beide. Ich gehe in die Politik! Aber in welche Partei, verdammt? Ich engagiere mich vielleicht nur für die Liebe. Mach’s gut, Járo! Melde dich! Und kein Selbstmitleid!“

Max, ach, der Max.

In Röderau, irgendwo in Brandenburg, stellt sich heraus, dass die Kasachen keine Kasachen sind. Ich habe sie schlecht verstanden. Sie kommen aus Baku in Aserbaidschan. Die Buletten, Tomaten und Gurken auch. Der Wodka ist aus Russland.

„Aserbaidschan. Oil and money“, sagt der ältere Mann plötzlich auf Englisch.

In Holzdorf stellt sich heraus, dass ich kein Deutscher bin, sondern Tscheche. Der ältere Mann umarmt mich. Er will darauf anstoßen. Er hat vom Anfang an gewusst, dass ich ein Tscheche bin und kein Germane.

Der Mann schaut aus dem Fenster in den Wald und fängt an zu erzählen. Ich verstehe, dass sein Vater in der Armee war und die Tschechoslowakei als Oberst befreit hat. Er spricht über das Jahr 1945, aber irgendwie erwähnt er auch das Jahr 1968 und dann nochmals, und dann sagt er auch Kontrarevolution.

„Er war 1968 in Prag?“

„Da. Krasotá! Die Mädchen, die Stadt damals, sagte mein Vater.“

Ich versuche ihm zu erklären, dass wir Tschechen mit 1968 eher die traumatischen Ereignisse verbinden. Prager Frühling war doch keine Kontrarevolution. Ich spreche über den demokratischen Sozialismus. Die Sowjets haben mit ihren Panzern alles niedergewalzt. Aber es ist schwierig. Wir verstehen uns nicht.

„Za zdorovje.“

In Jüterbog schlafen die beiden ein, und ich bekomme eine SMS von Max.

„Es war kein Casting. Es war ein Kollege von ihr. So ist das Leben. Bin verkatert. Und du so, Járo?“

In Berlin steigen wir aus. Wir umarmen uns. Der ältere Mann fasst sich an dem Kopf, verzieht eine schmerzliche Miene und sagt:

„Oj, oj, Europa.“

„Das ist der Kater“, sage ich. „Alkoholintoxikation.“

„Aha, Alkoholkontrarevolution! Kra­sotá!“

Jaroslav Rudiš ist Schriftsteller. Zuletzt erschien der Roman „Nationalstraße“, München (Luchterhand) 2016, dessen Dramenfassung gerade am Theater Bremen aufgeführt wird.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 08.06.2017, von Jaroslav Rudiš