13.11.2009

Plan B im Papierkorb

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Plan B im Papierkorb

von Mathias Greffrath

Wir haben uns entschlossen“, sagte die Kanzlerin am 26. Oktober bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags, „einen Pfad zu gehen, der voll auf Wachstum setzt. Aber der ist keine Garantie dafür, dass es klappt.“ Angela Merkel zockt nicht, deshalb können wir davon ausgehen, dass die „Kanzlerin aller Deutschen“ einen Plan B hat, falls es nicht „klappt“. Aber wie sieht er aus?

Beobachter rätseln über den kurzen Augenblick, in dem Merkel während ihrer Regierungserklärung leicht irritiert in ihrem Redemanuskript blätterte. Entschloss sie sich zu einer Ad-hoc-Kürzung ihrer Rede? Oder runzelte sie die Stirn über eine Fehlleistung ihres Büros? Am Abend nach der Plenardebatte entdeckte der Reinigungsdienst in einem Papierkorb unweit der Regierungsbank drei Manuskriptseiten, die unserer Redaktion vorliegen. Enthalten sie womöglich den Plan B? Warum wurde dieser Text nicht gesprochen? Wir wissen es nicht. Wir dokumentieren:

„Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Es gibt keine Garantie für Wachstum. Zurzeit sehen wir keine Alternative zu Steuersenkungen, aber selbst wenn die Konjunktur dadurch wieder anspringt – diese Regierung verschließt die Augen nicht vor der Notwendigkeit großer, struktureller Veränderungen. Denn die drei Zielbegriffe dieser Regierungserklärung – Wachstum, Bildung, Zusammenhalt – man kann sie auch als drei große Fragezeichen lesen:

Können wir in Zukunft mit Wachstum, wie wir es kennen, bestehen?

Können wir die Anforderungen des 21. Jahrhunderts mit einem nur quantitativen Ausbau des Bildungssystems meistern?

Können wir die Jahrhundertprobleme – Klima, demografischer Wandel, Arbeitslosigkeit – ohne mehr Zusammenhalt unter den Bürgern lösen?

So zu fragen, heißt: dreimal Nein zu sagen. Aber wer hier Nein ruft, der muss auch Vorschläge machen – mutige Vorschläge, die mit vielen unserer Gewohnheiten brechen, die deshalb einen Konsens aller demokratischen Kräfte erfordern. Zu den drei zentralen Fragen Zusammenhalt, Bildung und Wachstum wird diese Bundesregierung deshalb langfristige, über 2013 hinausweisende Alternativen erarbeiten und der öffentlichen Debatte zuführen.

Stichwort Zusammenhalt. Unter vielen, nicht unter allen Wohlhabenden hat sich eine unsoziale Rette-sich-wer-kann-Mentalität ausgebreitet, und unten gehen Hartz-IV-Biografien schon in die dritte Generation. Zusammenhalt und Solidarität aber werden nicht durch Wertediskussionen geschaffen – sondern durch gemeinsame Arbeit hergestellt. Wir sind und bleiben eine Arbeitsgesellschaft. Wir wollen keine Almosengesellschaft und keinen Staat von Alimentierten. Wenn Arbeit fehlt, ja wenn sie von vielen nicht einmal mehr gelernt wird, dann muss der Staat tätig werden – um der Lebenschancen der Menschen willen und damit wir als Gesellschaft wieder mehr Zusammenhalt bekommen. Deshalb wird diese Regierung, trotz starker Bedenken auch innerhalb der Koalition, in den nächsten Jahren eine öffentliche Debatte über die Möglichkeit eines allgemeinen obligatorischen einjährigen Sozialdienstes führen. In ihm sollen junge Männer und Frauen an der Verbesserung dieses Landes arbeiten – in sozialen, ökologischen, pädagogischen, kommunalen Problemfeldern.

Die Aufschrei der Wohlfahrtsverbände über die Verkürzung von Wehr- und Zivildienst hat gezeigt, dass die Qualität der sozialen Dienste ohne Zivildienstleistende kaum aufrechtzuerhalten wäre – da ist also ein großer Bedarf, der anders nicht zu finanzieren ist. Dass es mehr Bewerber als Angebote für das Freiwillige Soziale und Ökologische Jahr gibt, überzeugt mich, dass eine Verallgemeinerung dieser Einrichtungen von immer mehr jungen Menschen nicht als lästige Pflicht, sondern als Chance zur Selbstfindung und gesellschaftlicher Mitwirkung wahrgenommen wird. Ein obligatorischer Sozialdienst aber hätte nicht länger das Stigma des ‚Ersatzdienstes‘, er wäre vielmehr die soziale Abrundung eines Bildungsprozesses, der junge Menschen früh in die Verantwortung und in die Mitte der Gesellschaft stellt.

Manche werden jetzt rufen ‚Arbeitsdienst!‘ oder ‚FDJ!‘ – aber was ist denn so peinigend an dem Gedanken, dass junge Menschen nach dem letzten Schuljahr hochwertige Arbeit im Gemeinwesen leisten? Sie würden praktische Fähigkeiten erwerben und Selbstbewusstsein entwickeln. Sie könnten Senioren pflegen, Kinder pädagogisch betreuen, Gebäude isolieren, Bibliotheken digitalisieren. Wichtig ist dabei: Das darf keine sinnfreie Beschäftigungstherapie sein, sondern notwendige, sinnfällige und attraktive Arbeit, deren Anleitung sicherstellt, dass dabei berufliche und soziale Qualifikationen vermittelt werden – und seien es sprachliche Kompetenzen, an denen es ja nicht nur jungen Menschen mit Migrationshintergrund mangelt.

Langfristig würde ein solcher Sozialdienst das Klima in unserem Land verändern, darüber hinaus die Sozialkassen und die Kommunaletats entlasten. Aber auch ein Sozialdienst ist nicht umsonst zu haben: Erste Überschlagsrechnungen ergeben jährliche Kosten von rund 15 Milliarden – wobei die Jugendlichen auf Bafög-Niveau entlohnt würden und auf jeweils zehn von ihnen ein qualifizierter Betreuer käme. – Aber ich will mich hier nicht in Einzelheiten verlieren, denn derzeit würde ein solcher Strukturwandel Probleme vor dem Bundesverfassungsgericht bekommen – aber deshalb haben wir ja im Koalitionsvertrag vorsorglich Gespräche über Verfassungsänderungen mit allen Fraktionen angekündigt.

Das gilt auch für den zweiten Leitbegriff: Bildung. Warum eigentlich lernen wir in unseren Schulen sehr wenig über drei der wichtigsten Lebensbereiche: Wirtschaft, Recht, und Medizin? Hier und jetzt will ich nur über Medizin reden. Die Kosten unseres Gesundheitswesens explodieren: durch die Fortschritte in Medizintechnik und Pharmakologie, aber auch durch Bagatellkonsultationen, Ernährungsfehler, Unkenntnis der einfachsten Hausmittel, und Menschen, die allein aus Einsamkeit zum Arzt gehen.

Stellen Sie sich nur kurz einmal vor, wir würden zehn Jahre lang, vier Stunden in der Woche, genauso viel über unsere Körper lernen wie über die deutsche Sprache und Geschichte. Medizin als Hauptfach – warum eigentlich, meine Damen und Herren, soll das Lesenlernen eine öffentliche Angelegenheit sein, aber das Gesund-leben-Lernen nicht? Warum soll der Körper nur im Sportunterricht vorkommen, warum könnte nicht im Lehrplan stehen, wie man Kopfschmerzen vermeidet, wie man Zuckerkrankheit gar nicht erst entstehen lässt, wie man gesund kocht oder einen Wadenwickel anlegt? 80 000 Lehrerstellen für einen solchen Unterricht, das kostet rund 6 Milliarden pro Jahr, aber die Ersparnis der gesetzlichen Krankenversicherung, deren Kosten jetzt bei 175 Milliarden liegen, wäre vermutlich weit größer – ganz zu schweigen von dem Gewinn für die Gesundheit der Bürger. Die Umsätze der Pharmaindustrie würden wohl zurückgehen, aber – und damit komme ich zum dritten Leitbegriff meiner Legislaturperiode – wir müssen ohnehin neu über Wachstum nachdenken.

Der Wohlstand der Nationen ist nicht vom Bruttosozialprodukt abhängig – diese Erkenntnis gewinnt an Boden. In Frankreich hat Präsident Sarkozy zwei Nobelpreisträger für Wirtschaft, Amartya Sen und Joseph Stiglitz, die Argumente für einen neuen Maßstab des Wohlstands ausarbeiten lassen, der die abstrakte Messgröße Sozialprodukt ersetzten soll. Auch wir brauchen neue Bewertungsverfahren für die Lebensqualität: weil wir es uns nicht länger leisten können, Klimapolitik und Sozialsysteme nur als abhängige Variablen des Wachstums zu sehen – und weil wir nicht wissen, ob wir unsere Wette auf Wachstum gewinnen werden.

Der Schlüssel aber für Gemeinwohlorientierung, Selbstsorge und einen neuen Wohlstandsbegriff heißt: Bildung, Bildung, Bildung. Hier stehen wir in historischer Verantwortung, denn die letzte große Aufgabe des alten Nationalstaats, so hat es einmal der amerikanische Historiker Paul Kennedy gesagt, wird es sein, seine Bürger auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten. Er sagte es 1994 – wir haben seither viel Zeit verloren. Wir müssen jetzt damit anfangen, und ich lade alle Parteien ein, dabei mitzuwirken. Sie werden nun fragen: Warum nicht gleich …?“

Hier brechen die drei Manuskriptseiten aus dem Papierkorb ab. Nachfragen im Kanzleramt führten erwartungsgemäß nicht zur Aufklärung der Urheberschaft. Die Frage, ob es sich um einen verloren gegangenen Teil der Regierungserklärung, um einen Text für die Bundestagskarnevalsfeier am 11. 11. oder um Notizen der Kanzlerin für ihren Plan B handelt, muss daher offenbleiben. Die an den Rand gekritzelte Anmerkung: „Ministerium für Empathieförderung“ legt einen Scherz nahe; für die Herkunft aus dem Kanzleramt hingegen spricht die mit grünem Stift geschriebene Aufrechnung: „Gesamtkosten dieser Maßnahmen = ca. 20 Mrd. p. a. vs. geplante Steuersenkungen und Bildungsinvestitionen der Koalition bis 2013 = 40 Mrd. Steuerschätzung für 2010 – was sagt Schäuble???“

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 13.11.2009, von Mathias Greffrath