Brief aus Guatemala-Stadt, Zone 4
von Toni Keppeler
Neulich habe ich in der Bar von Raúl Rodas, dem Barista-Weltmeister von 2012, einen Kaffee getrunken. Nicht irgendeinen, sondern eine Empfehlung des Meisters. Man trinkt in dieser Bar nicht einfach einen Espresso oder einen Filterkaffee, Robusta oder Arabica. Eine kaffeeverrückte Freundin aus El Salvador hatte mich dort hingeschickt, weil sie Kaffee haben wollte, von Rodas selbst geröstet. Er macht das in einer Trommel aus Stahl, langsam und schonend für die Bohnen und ihre Aromen. Das Gerät steht in einem Raum hinter der Bar und erinnert an eine der ersten Dampfmaschinen.
An jenem Tag gab es zwei Arabica-Kaffees aus dem Hochland Guatemalas frisch geröstet: Ein Catuai von der Finca Baquelito in der Provinz Cobán, aufbereitet nach einer in Kenia entwickelten Methode, bei der die Kaffeekirschen 72 Stunden lang in Wasserbecken aufgeweicht werden. Das gibt dem Kaffee Aromen von Orangenschalen, Wildblumen und braunem Zucker und einen würzigen, lange anhaltenden Abgang. Der andere Kaffee, eine Mischung aus Bourbon und Caturra, war auf der Finca La Maravilla in der Provinz Huehuetenango gewachsen. Die ganzen Kirschen waren auf sogenannten afrikanischen Betten luftgetrocknet, das Fruchtfleisch war erst danach entfernt worden. Das gibt dem Kaffee eine besonders angenehme Säure.
Hat man die Sorte gewählt, muss man sich für die Art der Zubereitung entscheiden. Rodas berät gern und ausführlich: Ein Filterkaffee aus der Chemex-Karaffe, aus der French Press oder einfach nur aus der großen Espressomaschine? Ich trank einen Catuai aus der Chemex. Ein Zehn-Unzen-Päckchen – das sind 283 Gramm – kostet umgerechnet rund zwölf Euro. Das wäre auch in Europa ein stolzer Preis. In Guatemala ist das unverschämt teuer. In einem Land, in dem die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt ist, kann man einen solchen Kaffee nur dann mit einigermaßen gutem Gewissen trinken, wenn man weiß: Die Landarbeiter, die ihn hegen, pflegen und ernten, verdienen damit deutlich besser als die auf Gütern, die Masse produzieren. Ihre Kinder zumindest sind nicht unterernährt. Supermarktkaffee aber wird auf bitterer Armut angebaut.
Die Bar von Raúl Rodas trägt den Namen „Paradigma“ und liegt in einer Gegend, die „4 Grados Norte“ heißt, „4 Grad Nord“. Das Lokal wirkt ein bisschen höhlenartig; drinnen und davor auf der Straße, unter einem vor der tropischen Sonne schützenden Vordach, Tischchen und Stühle aus grobem Holz. Es gibt schickere Etablissements in 4 Grados Norte.
Aber Rodas ist Weltmeister, und so saßen schon am Morgen junge Männer an den Tischchen, die Haare so kurz wie ihr Dreitagebart. Manche mit Krawatte, andere mit offenem Hemdkragen, alle mit frisch aufgebügelter Hose. Manche begleitet von feingliedrigen Frauen in Boutique-Kostümen und auf gefährlich hohen Schuhen. Sie unterhielten sich in einer Mischung aus Spanisch und Businessenglisch. Der andere Teil der Kundschaft bestand aus Nerds. Junge Männer mit langen Haaren und Vollbart in Kapuzenpullover, weiten Jeans und Stoffturnschuhen. Junge Frauen, genauso gekleidet, mit Kurzhaarfrisur. Sie starrten in Laptops und sprachen kein Wort. Natürlich gibt es WLAN im Paradigma.
Guatemala-Stadt hat rund 1,5 Millionen Einwohner, der Großraum mit den Vororten fast doppelt so viele. Die Stadt ist in Zonen eingeteilt, von Zona 1, dem historischen Zentrum, bis Zona 25 weit draußen. Die Zona 4 liegt nahe beim Zentrum, ist ziemlich heruntergekommen und laut und hat keinen guten Ruf. Schmutzige Straßenzüge aus ein- und zweigeschossigen Häusern, eines ans andere geklebt. Manche stammen aus der Kolonialzeit, manche sind einfach nur hässlich.
Jedes zweite hat ein garagenartiges Loch mit einem Laden darin: Eisenwaren, Tante-Emma-Kram. Man sagt, hier werde auch Hehlerware verkauft. In anderen Garagen sind altölige Automechanikerwerkstätten untergebracht, Flaschnereien, auch ein Scheren- und Messerschleifer. An jeder Ecke ein Karren mit Fastfood, das aussieht, als müsse man Antikörper gegen alle möglichen Krankheiten besitzen, bevor man in so einen Hotdog beißt. Der Taxifahrer, der mich hierherbrachte, riet zur Vorsicht.
Sozial gesehen liegt die Zona 4 im Grenzgebiet zwischen Armut und ganz unterer Mittelschicht. Und mittendrin liegt 4 Grados Norte: zwei gut hundert Meter lange Alleen als Fußgängerzone, vom Verkehr draußen mit dicken Ketten abgesperrt. Bis zu zehn Stockwerke hohe Stadthäuser mit Lofts. Roter Klinker, Sichtbeton und Glas, alles im kühlen Bauhausstil. Nur an einer Ecke steht noch ein blendend weißes, schön renoviertes Kolonialhaus.
In den Erdgeschossen Bars, Restaurants und Büros: Werbeagenturen, Designer, Internetservice, ein „Institut Paul Bocuse“. Hinter den abgedunkelten Scheiben erkennt man die weißen Mützen der Kochlehrlinge. Auf den Fahrradparkplätzen vor den Büros – die einzigen, die ich in Guatemala je gesehen habe – sind Mountainbikes und Rennräder angekettet. Mindestens alle zwanzig Meter steht ein mit Revolver oder großkalibriger Schrotflinte bewaffneter privater Wachmann. Man kann im Paradigma seine Tasche mit dem Laptop allein am Tisch auf der Straße stehen lassen, wenn man zur Toilette geht.
Den ersten Versuch, 4 Grados Norte aufzuwerten, habe die Stadtverwaltung 2002 unternommen, erzählte mir Raúl Rodas. „Er hat nicht lange gehalten.“ Die Bewohner der Umgebung hätten sich das ausgegrenzte Territorium schnell zurückerobert. Zuerst die Karren mit dem Fastfood, dann die fliegenden Straßenhändler und schließlich die Bettler, die ihr Nachtlager in den Hauseingängen aufschlugen. Niemand habe sich für die dort entstehenden sündhaft teuren Lofts interessiert. Das kleine Viertel sei schneller heruntergekommen, als es gebaut werden konnte. Dies sei nun der zweite Anlauf und er sei – dank der vielen Wachmänner – seit nunmehr vier Jahren „stabil“. Abends pulsiere das Leben, es gebe Kleinkunst und Debattenzirkel. Die Lofts seien alle verkauft.
Ich traf mich am Abend jenes Tages in einer anderen Zone der Stadt mit Alejandra Gutiérrez Valdizán. Sie ist eine der wenigen investigativen Journalistinnen des Landes. Vor zwei Jahren haben sie und ihr Team mit Recherchen zur regierungsamtlichen Korruption viel zum Sturz des damaligen rechtspopulistischen Präsidenten Otto Pérez Molina und seiner Vizepräsidentin beigetragen. Eine Kombination aus Presseberichten, monatelangen Massendemonstrationen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen brachten die beiden damals aus dem Amt und ins Gefängnis. Es war das erste Mal, dass die Indigenenbewegung vom Land, arme Studenten aus staatlichen und reiche aus privaten Universitäten gemeinsam mit der gehobenen Mittelschicht Schulter an Schulter vor dem Präsidentenpalast im historischen Zentrum standen.
„Ja“, bestätigte mir Alejandra beim Essen. „4 Grados Norte ist das wohl krasseste Beispiel von Gentrifizierung in dieser Stadt.“ Und doch: „Auch ich gehe immer wieder gern dorthin.“ Es sei einer der ganz wenigen Orte in der Stadt, an dem man ohne Angst vor Überfällen in einem Straßencafé ein Bier trinken könne. Wir dagegen saßen trotz des tropischen Klimas in einem geschlossenen Restaurant.
In 4 Grados Norte, sagt Alejandra, gebe es so etwas wie alternative Kultur samt den dazugehörenden Debatten und Veranstaltungen. Sicher, dort träfen sich nur Studenten aus gutem Haus und ausgebildete Leute mit ordentlich bezahlten Jobs. Aber man brauche solche Leute, wenn sich in Guatemala etwas ändern solle. Gegen die Masse der Armen gehe die Elite und ihre militärischen Handlanger seit Jahrhunderten bedenkenlos repressiv vor – bis hin zum Genozid an den Maya im Bürgerkrieg. Aber bei den Leuten, die sich in 4 Grados Norte träfen, traue man sich das nicht. Es könnten Töchter und Söhne ebendieser Elite darunter sein.
Solche Söhne und Töchter hatten 2015 die ersten Proteste gegen Pérez Molina und Baldetti über soziale Netzwerke organisiert. Im Lauf der Wochen kamen mehr und mehr Studenten dazu, zuerst die aus den staatliche Universitäten, dann auch die aus den privaten. Es waren ja ihre Freunde, die zum Demonstrieren aufgerufen hatten. Schließlich fuhren auch die Indigenen in die Hauptstadt.
Sie hatten in den Monaten zuvor im Hinterland immer wieder Straßen blockiert, waren von den Medien aber nur als Störenfriede wahrgenommen worden. Die Polizei hatte sie mit Schlagstöcken, Tränengas und Gummigeschossen immer wieder vertrieben. Auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast aber blieben die Sicherheitskräfte zurückhaltend, weil dort nicht nur arme Leute mit dunkler Hautfarbe standen, sondern auch die jungen Leute, die sich im schicken 4 Grados Norte treffen. Das ist Guatemala: Auch aufgeklärte Reiche grenzen die Armen erst einmal aus – und dann demonstriert man mit ihnen gemeinsam.
Toni Keppeler ist Journalist mit dem Arbeitsschwerpunkt Mittelamerika (www.latinomedia.de).
© Le Monde diplomatique, Berlin