09.02.2017

Staatlich, privat, human?

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Staatlich, privat, human?

von Anne Vigna

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Die erste Überraschung erlebt man beim Einlass. Der junge Mann, der in Itaúna das Gefängnistor öffnet, ist ein Häftling. Es gibt keine Durchsuchung. Hier haben die Gefangenen die Schlüssel und sind ihre eigenen Wärter.

Im geschlossenen Vollzug dürfen die Häftlinge einen festgelegten Bereich nicht verlassen. Jedes Gebäude besteht aus einem Innenhof, Zellen, Speisesaal, Werkstätten, Unterrichtsräumen und einem Besucherzimmer für die Familien. Wer im halboffenen Vollzug ist, arbeitet auf dem Gelände neben dem Gefängnis im Garten, in der Bäckerei oder in der Küche. Eine große blaue Tafel am Eingang vermerkt die Zahl der Fluchtversuche seit 1997: 101. Und 86 Rückkehrer. Manchmal sind es die Familien, die den Flüchtigen zur Rückkehr überreden. Andere aber kommen von allein zurück, wenn ihnen klar wird, dass sie ihre Situation nur verschlimmern.

„Hier behandeln wir die Häftlinge als Menschen auf dem Weg der Resozialisierung. Wir haben das Ziel, ihnen wieder Selbstvertrauen zu geben und mit ihnen ihren Vertrag mit der Gesellschaft neu zu formulieren. Die Familien beteiligen sich aktiv an der Wiedereingliederung“, erklärt uns Valdeci Ferreira, Vorsitzender der Vereinigung zum Schutz und zur Unterstützung von Strafgefangenen (Apac).

Die vor vierzig Jahren gegründete Hilfsorganisation betreut heute 3500 Häftlinge, überwiegend im Bundesstaat Minas Gerais. Alle haben bei Gericht beantragt, dem Apac-System unterstellt zu werden. Sie müssen sich verpflichten, zu arbeiten und zu lernen, und es wird auch nachdrücklich empfohlen (ist aber nicht obligatorisch), einer Religion anzugehören.

In den gewöhnlichen Gefängnissen ist Arbeit ein Privileg, weil sie den Häftlingen einen Anspruch auf Lohn und eine Haftzeitverkürzung sichert. Meistens gibt es jedoch keine Arbeit: Nur 4 Prozent der Häftlinge im Strafvollzug arbeiten, sie machen sauber oder helfen in der Küche. In den Gefängnissen der Apac dagegen darf kein Häftling untätig bleiben: Er unterwirft sich ab sieben Uhr morgens einem festgelegten Programm: arbeiten, lernen, Austausch in Gesprächsgruppen und Zeit zur freien Verfügung. In Itaúna werden Tischlerei, Kunsthandwerk, Bäckerei, Landwirtschaft und Schlosserei angeboten.

Die Apac behauptet, unter ihren Häftlingen seien Verurteilte für alle Arten von Delikten. Das lässt sich schwer überprüfen. „Ich empfehle die Apac unbedingt, würde aber niemals einen Häftling hinschicken, der eine Gefahr für die Gesellschaft darstellt“, meint Miriam Vaz Chagas, als Richterin zuständig für den Strafvollzug in Minas Gerais. „Wir haben genug Verurteilte für Delikte, bei denen keine Gewalt im Spiel war. Die kann die Apac auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten.“

In ihrem Distrikt, Ribeirão das Neves, gibt es 9000 Gefangene. Die Richterin schickt sie entweder in ein normales Gefängnis, ein Apac-Gefängnis oder eines, das von einem privaten Unternehmen verwaltet wird. Senator Aécio Neves war früher Gouverneur von Minas Gerais und unterlag gegen Dilma Rousseff bei der Präsidentenwahl 2014. Er ist für die Privatisierung des Strafvollzugs:

Die harten Fälle landen in staatlichen Gefängnissen

Das Konsortium GPA, das aus fünf Bauunternehmen besteht, hat eine Konzession über 27 Jahre für die Errichtung und Verwaltung eines Gefängniskomplexes in Ribeirão das Neves erhalten. Am Ende soll er 3600 Häftlinge aufnehmen. Anders als in staatlichen Gefängnissen sind Journalisten in dieser – aus einer öffentlich-privaten Partnerschaft (PPP) entstandenen – Einrichtung willkommen. Allerdings verweigert die GPA die Offenlegung ihrer Gewinne.

Ihre Gebäude sind deutlich besser ausgestattet als die staatlichen Gefängnisse. Alles ist nagelneu, Überbelegung soll es nicht geben. Vertreter von Gefängnisverwaltungen in ganz Brasilien, die sich für das Modell interessieren und es eventuell in ihren Bundesstaaten übernehmen wollen, werden hier empfangen und herumgeführt.

Das Gefängnis Anísio Jobim in Manaus, in dem kürzlich 60 Gefangene ums Leben kamen, war privat verwaltet und hatte dreimal so viele Insassen wie vorgesehen. Es gab keine Kontrolle und kein Aufsichtspersonal. Das für den Komplex verantwortliche Unternehmen Umanizzare („Humanisieren“) erhielt dreimal so viel Geld pro Häftling und Monat wie die staatlichen Ge­fängnisse, um es in verbesserte Bedingungen für die Gefangenen zu investieren.

Die Staatsanwaltschaft von Manaus, die die Untersuchung nach dem Massaker übernommen hat, beantragte umgehend den „sofortigen Widerruf des Vertrags wegen schwerer Fehler“. Uma­nizzare sei außerstande, die Sicherheit der Inhaftierten zu gewährleisten. Sie wurden daraufhin in das ehemalige städtische Gefängnis von Manaus verlegt, das dieselbe Staatsanwaltschaft hatte schließen lassen, weil die ­Mindestbedingungen zur Unterbringung von Häftlingen nicht erfüllt waren.

Normalerweise ersparen die Justizbehörden den privaten Gefängnissen die gefährlichsten Häftlinge. Die Apac und die Privaten sind darauf angewiesen, dass die staatlichen Gefängnisse die problematischen Fälle übernehmen. Im Apac-System kostet ein Haftplatz 850 Reais, in einem staatlichen Gefängnis 2200 und in einem privaten 3500. Das Unternehmen in Manaus bekam sogar 4700 Reais. Diese Differenzierung sollte dazu beitragen, die Anzahl der Inhaftierten zu senken, doch das ist nicht gelungen.

Die Privatisierungslobby bearbeitet die Parlamentarier. Vor der jüngsten Reform der Wahlkampffinanzierung haben mehrere Unternehmen, die Gefängnisse betreiben, Abgeordnete unterstützt, die für das Recht auf Waffenbesitz eintreten. Diese sind natürlich auch für die Privatisierung des Strafvollzugs und die Herabsetzung der Strafmündigkeit auf 16 Jahre – eine Reform, die im Abgeordnetenhaus bereits angenommen wurde und nun auf die Abstimmung im Senat wartet.

Der Gefängnismarkt ist viel wichtiger, als es den Anschein hat; aber über seine tatsächliche Größe gibt es keine Zahlen. Wenn die Anzahl der Verhaftungen weiter steigt wie bisher, wird es 2030 in Brasilien 1,9 Millionen Häftlinge geben. Man müsste also in fünfzehn Jahren, wie das Brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit schätzt, 5816 neue Haftanstalten bauen. Eine beträchtliche Investition, die gegenwärtig für den brasilianischen Staat unmöglich ist, aber für den privaten Sektor einiges erwarten lässt – es sei denn, man würde aus den Toten von Manaus eine Lehre ziehen. ⇥Anne Vigna

Le Monde diplomatique vom 09.02.2017, von Anne Vigna