09.02.2017

China elektrisiert

zurück

China elektrisiert

Ein Blick in die Zukunft der Autoindustrie

von Manfred Kriener

Henrik Spohler, Global Soul 3, Montagelinie
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die wichtigste Veränderung für die weltweite Automobilindustrie in diesem Jahrhundert hat anfangs kaum jemand mitbekommen. Keine Pressekonferenz, keine Regierungsverlautbarung, nur ein dürrer Gesetzentwurf, der kurz vor dem Jahreswechsel zur Kenntnisnahme für den Rest der Welt ins Netz gestellt wurde: China, der größte Fahrzeugmarkt der Welt, wird eine Elektroautoquote für alle Hersteller ab 2018 zur Pflicht machen. 8 Prozent! Ab 2019 schon 10 Prozent, 2020 dann 12 Prozent!

Jeder einzelne Automobilkonzern, der in China künftig noch Autos verkaufen will, soll diese Quote erfüllen. Wenn nicht, muss er seine Verkäufe reduzieren. Oder von anderen Herstellern, die die Quote übererfüllen – das sind vor allem chinesische Firmen – für teures Geld sogenannte Kreditpunkte dazukaufen.

Die Reaktionen unter den deutschen Automobilfürsten und Politikern waren fast panisch. Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) – sein Bundesland ist Anteilseigner von VW – sprach von „drakonischen Maßnahmen“. Und Matthias Wissmann, Chef des Weltverbands der Automobilindustrie, forderte fast verzweifelt die Rückkehr zu einem „diskriminierungsfreien Zugang“ zum chinesischen Automarkt.

Doch Fachleute sind sich einig: Die chinesische Regierung meint das ernst. Um die anhaltend heftige Luftverschmutzung zu bekämpfen, hat sie schon in der Kohlepolitik einen dramatischen Schwenk vollzogen: Seit drei Jahren geht die Kohleverfeuerung zurück. Jetzt folgt eine ähnlich spektakuläre Wende im Verkehrssektor mit Folgen für die gesamte Automobilindustrie.

„Die chinesische Quote für Elektroautos wird bei den deutschen Autokonzernen sehr viel mehr in Bewegung bringen als jede von der Bundesregierung beschlossene Kaufprämie“, heißt es in einer gemeinsamen Studie des WWF und des Energieversorgers Lichtblick, die diesen Monat in Berlin vorgestellt wird. Die Studie analysiert die weltweite Marktentwicklung der Elektromobilität und kommt zu dem Schluss: „China und die USA fahren voraus, Deutschland fährt hinterher!“

Über viele Jahre war das Elektroauto nicht vorangekommen, ein ewiges Versprechen für eine noch ziemlich ferne Zukunft. Die Verkaufszahlen weltweit waren immer wieder enttäuschend. Das wird nie was, dachten viele Marktbeobachter. Doch seit drei Jahren boomt der Elektroantrieb gleich in mehreren Ländern, vor allem in China. Der globale Bestand an Elektroautos ist auf mehr als 2 Millionen Fahrzeuge geklettert.

Die Volksrepublik hatte schon 2014 und 2015 kräftig zugelegt, 2016 wurden nun mehr als 351 000 Autos verkauft, fast doppelt so viele wie im ebenfalls starken Vorjahr. Der Marktanteil stieg zum  Jahresende  2016  auf  1,4  Prozent

der Neuzulassungen. Damit hat China die USA mit 159 000 neuen Elektroautos 2016 auch auf diesem Feld überholt und ist nun klarer Weltmarktführer, was die Zahl der verkauften Autos angeht. Die Pflichtquote ab 2018 dürfte diese Entwicklung nochmals entscheidend beschleunigen – mit dramatischen Folgen für die deutschen und europäischen Automobilkonzerne.

Beispiel VW. Für den Wolfsburger Skandalkonzern ist China der mit großem Abstand wichtigste Markt. Dort setzt Europas größter Autobauer inzwischen rund 40 Prozent seiner Jahresproduktion ab, zuletzt waren es mehr als 3 Millionen Autos. Die 8-Prozent-Quote bedeutet nach der neuen chinesischen Rechnung, dass VW 240 000 Elektro-Kreditpunkte sammeln müsste. Für jedes verkaufte Elektroauto gibt es vier Kreditpunkte, für einen Plug-in-Hybrid – ein Auto, das sowohl elektrisch als auch mit Benzin fahren kann – gibt es zwei Punkte. VW hat aber im vergangenen Jahr keine 1000 Elektroautos in China verkauft.

Die Wolfsburger haben bis heute auch noch kein einziges neues Elektroauto konstruiert, sondern lediglich alte Fossilfahrzeuge wie den Golf oder den VW up! nachträglich auf Elektroantrieb umgerüstet. Mit der dürftigen VW-Modellpalette sind die 8 Prozent auch bei maximaler Anstrengung kaum zu schaffen.

Der deutsche Konzern müsste deshalb bei der Konkurrenz im großen Stil Kreditpunkte dazukaufen. Die Konkurrenz heißt BYD, BAIC, Zotye, Geely – chinesische Hersteller, von denen die meisten europäischen Autofahrer noch nie etwas gehört haben. BYD steht für „Build Your Dreams“, er wurde 2003 gegründet und ist heute der erfolgreichste Produzent von Elektroautos und Elek­trobussen weltweit mit über 100 000 verkauften Autos im Jahr 2016. BYD produziert fast ausschließlich E-Mobile und wird die geforderte 8-Prozent-Quote weit übererfüllen, hätte also ausreichend Kreditpunkte abzugeben – für teures Geld natürlich. Im Kern bedeuten die Pläne der Volksrepublik nichts anderes als eine ausgeklügelte Subvention der eigenen Autoindustrie auf Kosten der ausländischen Mitbewerber.

Unmittelbar nach der chinesischen Ankündigung reiste der deutsche Wirtschaftsminister Gabriel (SPD) nach Peking, um den dortigen Machthabern die „großen Sorgen“ der Automobilindustrie nahezubringen. Bisher ohne Erfolg. Jetzt versuchen die deutschen Autobauer auf dem direkten Verhandlungsweg zumindest eine etwas weichere Quotenregelung durchzuboxen. So könnte die Quote über mehrere Jahre gestreckt werden.

Dann hätten VW, BMW und Daimler die Möglichkeit, mit einer Übererfüllung nach 2020 die absehbare Quotenpleite ab 2018 nachträglich zu kompensieren. Sollten die Chinesen stur bleiben, droht den europäischen Autobauern ein riesiges Marktvolumen wegzubrechen, was zu großen Erschütterungen führen könnte. Denn fast alle Autohersteller sind heute von China abhängig. Für den Elektromarkt haben sie sich potente Partner gesucht: Daimler ist ein Joint Venture mit BYD eingegangen, VW arbeitet mit Anhui Jiang­huai (JAC) zusammen.

Die Chinesen wiederum handeln zwar aus industriepolitischem Kalkül, aber auch aus schierer Notwehr. Chinas Städte keuchen unter der Smogglocke. Im Dezember 2016 erlebte Peking einen der schlimmsten Monate, Zehntausende flohen aus der Hauptstadt, um der erdrückenden Schadstofflast wenigstens vorübergehend zu entkommen. Die brachiale Offensive für die Elektromobilität hat also durchaus Sinn, auch wenn der chinesische Strom, den die Elektroautos tanken, wegen der vielen Kohlekraftwerke alles andere als sauber ist. Aber die Emissionen entstehen dann eben nicht in den Herzen der Großstädte, sondern an den Standorten der Kraftwerke. Und mit dem gleichzeitig boomenden Bau von Solar- und Windkraftanlagen wird der Strommix von Monat zu Monat ein wenig sauberer.

Schon jetzt gibt es in sieben chinesischen Großstädten Zulassungsbeschränkungen für Diesel- und Benzinautos und lange Wartelisten für Neuwagenkäufer. Der Boom der Elektromobilität wird damit regelrecht erzwungen.

So wird der Feuer und Ruß speiende Drache China langsam zum Saubermann, zum entscheidenden Impulsgeber für den Abschied vom Verbrennungsmotor. Das Ende der fossilen Autoflotte und eine entsprechende Verkehrswende werden auf jedem Klima­gipfel vehement gefordert. Jetzt, da die Chinesen genau dies mit aller Radikalität umsetzen, versuchen ausgerechnet die ehemaligen europäischen Vorreiter in Sachen Klimaschutz eine langsamere Gangart zu erzwingen, damit die eigene Autoindustrie nicht ins Schleudern gerät.

Mercedes und VW liegen weit zurück

Chinas Präsident Xi Jinping hat die Entwicklung der Elektromobilität als strategisches Staatsziel mit dreifacher Dividende vorgegeben: Die heimische Automobilindustrie soll gestärkt, die Luftverschmutzung reduziert und die Abhängigkeit von Ölimporten abgebaut werden. Das industriepolitische Ziel, die eigenen Autobauer zu fördern, wurde schon jetzt erreicht. Unter den Top Ten der Autofirmen, die weltweit die meisten Elektromobile verkaufen, befinden sich gleich drei chinesische Firmen. Zwei Drittel der im eigenen Land verkauften Elektroautos und Hybrid­fahrzeuge sind made in China.

Auch die Europäer und vor allem die Deutschen wollten einmal auf dem Zukunftsmarkt der Elektromobilität die Nummer eins werden. Dies scheint derzeit ebenso aussichtslos wie die eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen bis 2020, die Kanzlerin Angela Merkel als eherne Zielmarke gesetzt hatte. Derzeit sind es nicht einmal 100 000.

Vor allem bei der Entwicklung der Batterien, dem Herzstück des Elektroautos mit entsprechend hoher Wertschöpfung, ist die deutsche Inge­nieurs­kunst weit abgeschlagen. Die Fortschritte der asiatischen Konkurrenz sind rasant. Die WWF-Lichtblick-Studie dokumentiert einen Rückgang der Batteriepreise von 1000 Dollar/Kilowattstunde im Jahr 2008 auf 268 Dollar in 2015, das entspricht einem Minus von 73 Prozent. Der US-amerikanische Elektropionier Tesla will die 100-Dollar-Schallmauer bis 2020 durchbrechen.

Nicht nur der Preis, auch die Energiedichte hat sich erheblich verbessert. Sie gibt an, wie viel Energie pro Gewicht und Volumen in den Batte­rien gespeichert ist. Je höher die Energiedichte, desto leichter wird das Batterie­set und damit das Gewicht der Fahrzeuge. Mit einer hohen Energiedichte können die Hersteller die Reichweite vergrößern und damit der unter Autofahrern weit verbreiteten „Reichweitenangst“ begegnen. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Energiedichte für Elektroautobatterien um 400 Prozent verbessert.

Inzwischen hat ein regelrechtes Wettrüsten um die größte Reichweite eingesetzt – eigentlich unsinnig, denn 99 Prozent aller Autofahrten sind kürzer als 100 Kilometer. Der zum Jahreswechsel in den USA bei General Motors vom Band gelaufene Chevrolet Bolt-E kommt mit einer vollen Batterieladung fast 400 Kilometer weit. In Deutschland wirbt Opel beim baugleichen Opel-Zafira-E sogar mit 500 Kilometern. Auf die Angaben der Autohersteller kann man sich allerdings wie immer nicht verlassen: Die 500 Kilometer sind allenfalls im Schleichgang zu schaffen, realistisch sind 400. Der neue Renault Zoe dürfte statt der versprochenen 400 Kilometer nur 300 weit kommen.

Auch VW und Mercedes überschlagen sich mit Reichweitenversprechen – doch die dazu passenden Autos gibt es bislang nur auf dem Papier. Der japanische Autokonzern Nissan wird im Frühjahr eine neue Version des Nissan Leaf auf den Markt bringen. Der Vorgänger war mit 250 000 verkauften Autos das erfolgreichste Elektromodell weltweit. Der Nachfolger soll jetzt abzüglich Kaufprämie unter 20 000 Euro kosten und zirka 350 Kilometer Reichweite mitbringen. Eine echte Kampfansage, auch wenn für die Batteriemiete kräftig zugezahlt werden muss.

Röhrende Motoren und Schaltknüppel verschwinden

Die Hoffnungen von Autokritikern, die Elektromobilität könnte die Fahrzeuge kleiner und intelligenter machen, auch gemächlicher, scheinen sich langsam in Luft aufzulösen. Vor allem die Plug-in-Hybride sind meist großkalibrige Ungetüme. Wie die automobile Zukunft allerdings in zehn Jahren genau aussehen wird, welche Rolle das autonome Fahren, Carsharing und Autobesitz dann spielen werden, scheint derzeit nur schwer vorherzusagen. Junge Wissenschaftler wie Fabian Reetz, Projektleiter Digitale Energiewende bei der Stiftung neue Verantwortung, glauben an große Veränderungen durch die Kombination von Elektromobilität und autonomes Fahren.

Sein Zukunftsszenario: Man bestellt sich sein Auto, wenn man es denn braucht, per Smartphone beim Carsharing-Anbieter. Das nächstpositionierte Mobil kommt dann selbstständig angefahren, elektrisch angetrieben: „Alle Argumente gegen das Elektroauto zählen plötzlich nicht mehr“, meint Reetz. Batterieaufladen, Reichweite checken, Ladesäule suchen – das erledigt der Flottenbetreiber. In dieser Zukunft wäre es selbstverständlich, dass kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr in die von Millionen Menschen bewohnten Innenstädte fährt und dort gesundheits- und klimaschädlichen Dampf ausstößt.

Es wäre das Ende des Verbrennungsmotors. Durch den VW-Skandal könnte dieses Ende sehr viel schneller kommen als gedacht. Die kriminellen Machenschaften der Autokonzerne haben gezeigt, dass die immer strengeren Abgasvorschriften mit den alten Fossiltechnologien kaum noch zu erfüllen sind. Es ist kein Zufall, dass die Skandalmeldungen um manipulierte Motorentechnik und die neue Aufbruchstimmung hin zur Elektromobilität zusammenfallen. Seit Dieselgate ist vor allem VW in der Defensive.

Die Forderungen nach Fahrverboten und Zulassungsbeschränkungen für Verbrennungsmotoren werden jetzt lauter und selbstbewusster vorgetragen. EU-Kommission und deutscher Bundesrat, aber auch ein Parteitagsbeschluss der Grünen fordern einen Stopp für Neuzulassungen von Diesel- und Benzinfahrzeugen ab 2030. In den Niederlanden soll schon ab 2025 Schluss sein. Das österreichische Umweltbundesamt hat 2020 als Endpunkt für fossile Autos vorgeschlagen. Die Großstädte Athen, Madrid, Mexico City und Paris werden gemäß einem gemeinsamen Beschluss ab 2025 keine Benzin- und Dieselfahrzeuge mehr in ihre Innenstädte lassen. Fahrverbote zumindest für Autos mit Dieselmotoren werden in vielen deutschen Städten diskutiert.

Auch Norwegen will ab 2025 keine Benzin- und Dieselautos mehr zulassen. Das Land fördert das Elektroauto seit Jahren mit beispiellos hohen Subventionen und vielen Extras: keine Zulassungsgebühren, keine Mehrwertsteuer beim Kauf, Busspurnutzung, kostenloses Parken und Aufladen. Vergangenes Jahr schnellte der Marktanteil mit 46 500 verkauften Elektroautos auf weltweit einmalige 29,3 Prozent. Auch in den Niederlanden, in Schweden, Finnland, der Schweiz, Island, Belgien, Frankreich, Österreich und Großbritannien ist der Marktanteil der Elektroautos bei Neuzulassungen zumindest auf über 1 Prozent gestiegen, während Deutschland nur mickrige 0,7 Prozent erreicht. Doch die großen Autokonzerne haben inzwischen durchgängig ihre eigenen Prognosen revidiert und erwarten in den nächsten Jahren ein strammes Wachstum der Elektroflotten. VW will im Jahr 2025 drei Millionen Elektroautos verkaufen – ein Drittel des firmeneigenen Absatzes. Daimler-Chef Dieter Zetsche will „ab 2020 jedes Jahr eine sechsstellige Zahl an Elektrofahrzeugen“ absetzen.

Was VW und Daimler fürs nächste Jahrzehnt planen, ist bei Tesla schon jetzt aktuell. Für das neue Model 3 hat die weltweite Nummer zwei (nach BYD) 400 000 Bestellungen vorliegen. Als Neuling und reiner Elektroautoproduzent hat Tesla der etablierten Branche innerhalb weniger Jahre einen Teil des Luxussegments weggeschnappt. Tesla baut nicht nur Autos, sondern auch Batterien, Energiespeicher und Ladestationen; man produziert außerdem eigenen Solarstrom – ein komplett anderes Verständnis von Verkehrsdienstleistung.

Dagegen sind die europäischen Autokonzerne nach wie vor ganz auf ihr „Gerät“ fixiert, das eigentliche Auto, dem künftig aber einige Teile abhandenkommen. Der röhrende Auspuff, der 12-Zylinder-Sound, der Schaltknüppel, der Turbolader – der Elektroantrieb kommt ohne die klassischen Neurosezutaten des Autofahrens aus. Doch damit fehlt auch ein großer Teil der fir­men­eigenen Wertschöpfung. VW hat bei seinem Konzernumbau in Richtung Elektromobilität schon mal den Abbau von 30 000 Jobs angekündigt.

So wird die Elektromobilität viel in Bewegung bringen. Was am Ende von der alten Automobilindustrie übrig bleibt, ist eine der spannendsten Fragen. Jetzt müssen die alten Autobauer aber erst einmal Kurs auf die Quote nehmen. Marktführer China hat die ganze Branche elektrisiert.

Manfred Kriener ist Umweltjournalist in Berlin.

© Le Monde diplomatique, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.02.2017, von Manfred Kriener